E-Book, Deutsch, 528 Seiten
Forsyth Der Unterhändler
13001. Auflage 2013
ISBN: 978-3-492-96438-8
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Thriller
E-Book, Deutsch, 528 Seiten
ISBN: 978-3-492-96438-8
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Frederick Forsyth, geboren 1938 in Ashford/Kent, war mit neunzehn Jahren der jüngste Jetpilot der Royal Air Force. Nach seinem Ausscheiden war er als Auslandskorrespondent in verschiedenen europäischen Städten und Ländern tätig, unter anderem in Paris und Ostdeutschland. Ab 1965 arbeitete er als Fernsehreporter der BBC unter anderem in Westafrika. In seinen 2015 erschienenen Memoiren berichtete er zudem, zeitweise dem britischen Geheimdienst zugearbeitet zu haben. Seit seinem ersten Roman, »Der Schakal«, mit dem er weltberühmt wurde, erreichten alle seine Thriller die Spitzen der Bestsellerlisten. Forsyth lebte mit seiner Frau zuletzt bei Beaconsfield in Buckinghamshire, wo er am 9. Juni 2025 im Kreis seiner Familie starb.
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1. Kapitel
November 1989
Der Winter war in diesem Jahr früh gekommen. Bereits Ende des Monats fegten die ersten Vorboten, getragen von einem bitterkalten Wind aus den Steppen im Nordosten, über die Dächer, um Moskaus Widerstandskraft zu prüfen.
Das Hauptquartier des sowjetischen Generalstabs befindet sich an der Uliza Frunse, ein graues Steingebäude aus den dreißiger Jahren, vis-à-vis seiner Dependance, einem viel moderneren, achtstöckigen Hochhaus auf der anderen Straßenseite. In der obersten Etage des alten Baus stand der sowjetische Generalstabschef am Fenster. Er starrte hinaus in das eisige Schneetreiben, und seine Stimmung war so trübe wie der nahende Winter.
Marschall Iwan K. Koslow war siebenundsechzig, zwei Jahre über das vorgeschriebene Pensionsalter hinaus, doch in der Sowjetunion hielten – wie überall sonst auch – diejenigen, die die Vorschriften erfanden, den Gedanken für abwegig, daß diese auch für sie selbst gelten sollten. Zu Beginn des Jahres hatte er zur allgemeinen Überraschung in der Militärhierarchie den altgedienten Marschall Achromejew abgelöst. Die beiden Männer waren so verschieden wie Tag und Nacht. Achromejew war ein kleiner, stockdürrer Intellektueller gewesen, Koslow hingegen ein gutmütig-derber, weißhaariger Riese, ein Soldat vom Scheitel bis zur Sohle, Sohn, Enkel und Neffe von Soldaten. Obwohl vor seiner Beförderung nur der dritte unter den Ersten Stellvertretenden Generalstabschefs, hatte er die beiden ranghöheren vor ihm übersprungen, und diese waren ohne Aufsehen in Pension gegangen. Niemand hatte den geringsten Zweifel, warum er an die Spitze gelangt war. Von 1987 bis 1989 hatte er unauffällig und sachverständig den Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan geleitet, ein Unternehmen ohne Skandale, ohne größere Niederlagen und – vor allem – ohne nationalen Gesichtsverlust, obwohl die Wölfe Allahs den ganzen Weg bis zum Salang-Paß nach den Fersen der Russen geschnappt hatten. Die Operation hatte ihm in Moskau hohes Ansehen verschafft und den Generalsekretär persönlich auf ihn aufmerksam werden lassen.
Doch während er seine Pflicht getan und sich den Marschallstab verdient hatte, tat er einen geheimen Schwur: Nie wieder würde er einen Rückzug seiner geliebten russischen Armee kommandieren – denn trotz der aufwendigen Public-Relations-Kampagne war das Unternehmen Afghanistan eine Niederlage gewesen. Eine weitere drohende Niederlage war der Grund seiner düsteren Stimmung, als er durch die Doppelglasscheibe hinausstarrte auf die winzigen Eispartikel, die in Abständen am Fenster vorüberstoben.
Der auf seinem Schreibtisch liegende Bericht, in seinem Auftrag verfaßt von einem der aufgewecktesten seiner Schützlinge, einem jungen Generalmajor, den er aus Kabul mitgebracht und in den Generalstab aufgenommen hatte, war schuld an seiner schlechten Laune. Kaminsky war ein Akademiker, ein tiefschürfender Denker und zugleich ein Organisationsgenie, weswegen ihm der Marschall den zweithöchsten Posten im Bereich Logistik zugeteilt hatte. Wie alle Offiziere mit Fronterfahrung wußte Koslow besser als die meisten anderen, daß Schlachten nicht durch Mut oder opferbereiten Einsatz oder auch nur von intelligenten Generälen gewonnen werden; sie werden gewonnen, wenn das richtige Gerät zur richtigen Zeit am richtigen Ort und obendrein in ausreichender Menge zur Verfügung steht.
Er erinnerte sich mit Bitterkeit an seine Erlebnisse als neunzehnjähriger Panzergrenadier, als die hervorragend ausgerüsteten deutschen Truppen die Verteidigungsstellungen des »Mutterlandes« niedergewalzt hatten, während die Rote Armee, durch die stalinistischen Säuberungen ausgeblutet und mit Ladenhütern ausgerüstet, den Vormarsch aufzuhalten versuchte. Sein eigener Vater war bei dem Versuch gefallen, eine unhaltbare Stellung bei Smolensk zu verteidigen und mit Repetiergewehren die vorwärtsdonnernden Panzerregimenter Guderians aufzuhalten. Das nächste Mal, so schwor er sich, werden wir über die richtige Ausrüstung verfügen, und zwar in reichlichem Maße. Diesem Ziel hatte er einen großen Teil seiner Karriere gewidmet, und nun unterstanden ihm die fünf Waffengattungen der Sowjetunion, die Armee, die Kriegsmarine, die Luftwaffe, die Strategischen Raketenstreitkräfte und die Luftverteidigung. Und sie alle waren, wie er dem dreihundert Seiten umfassenden Bericht auf seinem Schreibtisch entnehmen mußte, von einer Niederlage bedroht.
Er hatte ihn bereits zweimal gelesen, nachts in seiner spartanisch eingerichteten Wohnung, abseits des Kutusowsk-Prospekts, und dann noch einmal an diesem Vormittag in seinem Dienstzimmer, wo er um 7Uhr eingetroffen war und gleich den Telefonhörer neben den Apparat gelegt hatte, um nicht gestört zu werden. Nun trat er vom Fenster weg, ging zu dem breiten Schreibtisch am Ende des hufeisenförmigen Konferenztisches und nahm sich noch einmal die letzten Seiten des Konvoluts vor.
ZUSAMMENFASSUNG: Es geht also nicht darum, daß nach den Voraussagen in den nächsten zwanzig oder dreißig Jahren die Erdölvorräte dieses Planeten zur Neige gehen werden, sondern darum, daß die Ressourcen der Sowjetunion in den nächsten sieben oder acht Jahren mit Sicherheit erschöpft sind. Der Schlüssel zu diesem Faktum findet sich in der Tabelle der nachgewiesenen Reserven weiter vorne in diesem Bericht und insbesondere in der mit R/P-Verhältnis bezeichneten Zahlenreihe. Das Verhältnis von Reserven zu Produktion ergibt sich, wenn man die Jahresproduktion eines ölfördernden Landes nimmt und dessen bekannte Reserven durch diese Zahl dividiert, in der Regel ausgedrückt in Milliarden Barrel.
Die Zahlen vom Jahresende 1985 – leider handelt es sich um westliche Zahlenangaben, da wir uns trotz meiner engen Kontakte zu unserer Ölindustrie noch immer auf Informationen aus dem Westen stützen müssen, wenn wir uns darüber Klarheit verschaffen wollen, was in Sibirien vor sich geht – zeigen, daß wir in diesem Jahr 4,4Milliarden Barrel Rohöl gefördert haben, was bedeutet, daß wir bei gleichbleibender Produktion weitere vierzehn Jahre fördern können. Aber das ist eine allzu optimistische Annahme, da wir seither unsere Produktion und damit den Abbau der Erdölvorräte steigern mußten. Heute verfügen wir nur noch über Reserven für sieben bis acht Jahre.
Die Bedarfssteigerung hat zwei Gründe. Der eine liegt in der anwachsenden Industrieproduktion, namentlich auf dem Verbrauchsgütersektor, wie sie vom Politbüro seit der Einführung der neuen Wirtschaftsreformen gefordert wird, der andere in der Ineffizienz dieser Industriezweige, nicht nur der traditionellen, sondern auch der neuen. Unsere Fertigungsindustrie krankt an einer gewaltigen Ineffizienz im Energieeinsatz, und dazu kommt in zahlreichen Fällen noch der Verstärkungseffekt durch eine veraltete maschinelle Ausstattung. Beispielsweise hat ein russisches Auto das dreifache Gewicht seines amerikanischen Pendants, nicht nur wegen unserer strengen Winter, wie offiziell behauptet wird, sondern weil unsere Stahlwerke nicht genügend Feinblech produzieren können. Mithin wird für die Fertigung des Wagens ein höherer Prozentsatz des aus Erdöl gewonnenen Stroms gebraucht als im Westen, und zudem verbraucht der Wagen, wenn er erst in den Verkehr gelangt ist, noch mehr Benzin.
ALTERNATIVEN: Kernkraftwerke produzieren elf Prozent der in der UdSSR erzeugten Elektrizität, und unsere Planer hatten damit gerechnet, daß bis zum Jahr 2000 zwanzig Prozent oder mehr von Reaktoren produziert wird. Bis Tschernobyl. Leider wurden vierzig Prozent unseres Atomstroms von Werken des gleichen Typs wie dem in Tschernobyl erzeugt. Seither sind die meisten davon wegen »technischer Veränderungen« stillgelegt worden – in Wirklichkeit ist es äußerst unwahrscheinlich, daß sie wieder in Betrieb gehen werden –, und der geplante Bau weiterer Anlagen wurde gestrichen. Ergebnis: Unsere Stromerzeugung durch Kernkraftwerke hat keinen zweistelligen Prozentanteil erreicht, sondern ist auf sieben Prozent gesunken und sinkt weiter.
Wir verfügen über die größten Erdgasreserven auf der Welt, doch leider befinden sich die Gasvorkommen hauptsächlich in Sibirien mit seinen extremen Witterungsbedingungen, und es ist nicht damit getan, das Gas einfach aus dem Boden zu holen. Wir brauchen – haben aber nicht – eine gewaltige Infrastruktur aus Pipelines und Verteilungsnetzen, um es aus Sibirien in unsere Städte, Fabriken und Kraftwerke zu transportieren.
Sie werden sich vielleicht erinnern, daß wir in den frühen siebziger Jahren, als nach dem Jom-Kippur-Krieg die Ölpreise in schwindelerregende Höhen getrieben wurden, das Angebot machten, Westeuropa langfristig mit Erdgas zu versorgen. Mit Hilfe der Vorfinanzierung für den Bau der Rohrleitungen, die uns die Europäer zugesagt hatten, wäre es möglich gewesen, das notwendige Verteilungsnetz einzurichten. Doch da Amerika davon keine Vorteile gehabt hätte, torpedierten die USA diese Initiative mit der Androhung verschiedenster Wirtschaftssanktionen gegen jedes Land, das mit uns kooperieren würde. Damit war das Projekt gestorben. Heute, nach dem Einsetzen des sogenannten »Tauwetters«, wäre ein solches Vorhaben vielleicht politisch durchzusetzen, doch im Augenblick sind die Ölpreise im Westen niedrig, und unser Erdgas wird nicht gebraucht. Bis der weltweite Rückgang der Erdölförderung im Westen den Preis abermals auf eine Höhe getrieben hat, die unser Erdgas wieder interessant macht, ist es für die UdSSR viel zu spät.
Somit ist keine der beiden denkbaren Alternativen...