E-Book, Deutsch, 440 Seiten
Frank / Baruschka / Lechler Helle Herbstlichter
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-7448-4228-0
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Erzählungen und Gedichte
E-Book, Deutsch, 440 Seiten
ISBN: 978-3-7448-4228-0
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Über Auswanderer nach Neuengland, das dortige Flammenmeer des Herbstes, Konflikte der Siedler mit den Ureinwohnern berichtet eine Erzählung. Wanderungen am Monte Baldo werden unternommen. Herbstliche Tage auf Rügen, eine schwierige Aussprache zwischen Ehepartnern steht an. Wird ihre Beziehung eine Zukunft haben? Wie die Arbeitsagentur auf den letzten Metern zur Rente einen Herbsturlaub gefährdet und andere Schwierigkeiten bereitet, kommt zur Sprache. Das Rehkitz Lolo wird in einer Försterei großgezogen. Nehmen Sie an einer Reise durch Italien teil. Die Frage nach dem eigenen Vater verbirgt eine Liebesgeschichte, die Fäden nach Marokko knüpft. Der Band enthält viele Herbstgedichte. Das Blätterleuchten im Wald, Halloween oder abgeerntete Felder gelangen in den Blick. Die Zugvögel verlassen nördliche Gefilde, Kastanien platzen aus ihrem grünstachligen Mantel. Der Einbruch des Winters steht bevor.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Gabriele Nakhosteen
Seelenherbst
Emily trat hinaus ins Freie und setzte sich auf den Stumpf einer Eiche, deren Holz James im Laufe von Wochen gehackt und für den Winter im Stall aufgeschichtet hatte. Von hier aus bot sich ihr der beste Blick auf die grandiose Natur. Links die Weite des Atlantiks mit dem nie endenden Wechsel der Gezeiten, rechts das faszinierende Farbenspiel der herbstlichen Wälder. Das Laub von Zucker-Ahorn, Erlen, Ulmen, Ebereschen und Buchen glich einem lodernden Flammenmeer. Wein- und scharlachrote, rostbraune, fahlgelbe, ocker und orange gefärbte Tönungen ergaben ein surreales Bild von derartiger Intensität, wie es kein Maler hätte schaffen können. Mit beiden Händen umfasste Emily ihren arg verbeulten Henkelbecher und nippte am frisch gebrühten Tee. Sein aromatischer Duft mit der süßlich-fruchtigen Note wirkte besänftigend. Sie hatte viel durchgemacht, wie alle Passagiere der Mayflower, die ein Jahr zuvor an diesen Flecken, an die Ostküste der Neuen Welt, gespült worden waren. Fast die Hälfte von ihnen war im ersten Winter gestorben, verhungert oder durch plötzliche Krankheit dahingerafft worden. Ihr Mann James und sie hatten überlebt, nicht aber ihre beiden kleinen Söhne, deren sterbliche Überreste unter einem jener Bäume mit ihrer explodierenden Farbenpracht ruhten. Die milde Septembersonne wärmte angenehm. Emily schloss die Augen und lauschte der Musik des Ozeans, dem Rauschen der Wellen, dem Kreischen und Rufen von Möwen, Fischadlern und Papageientauchern. Die Schönheit der Natur berührte ihr Herz, war tröstlich und stimmte sie hoffnungsvoll, wenn auch die Erinnerungen an das letzte Jahr nur langsam verblassten. Zum ungünstigsten Zeitpunkt, auf dem Höhepunkt der Herbststürme, hatte der Dreimaster, der sie in eine friedliche Zukunft tragen sollte, den Ozean überquert. Orkanartige Stürme hatten die Wellen aufgepeitscht, das Schiff in die Höhe geschleudert und zurück in die Tiefe gerissen, es zum Spielzeug der Naturgewalten gemacht. In der qualvollen, stickigen Enge mit Ziegen, Hühnern, Gänsen und Enten hatten die Passagiere verzweifelt ausgeharrt und Todesangst ausgestanden. Erschöpft vor Hunger und Kälte, gezeichnet von Krankheit waren sie nach zwei Monaten voller Ungewissheit fernab des vorgesehenen Kurses vor Anker gegangen, in einer öden Gegend, die, so schien es, von Menschen aufgegeben worden war. Reste verlassener, hölzerner Wigwams, brachliegende, verwildete Felder und Gräber zeugten davon, dass einst dort ein Dorf gewesen sein musste. Ist dies das herbeigesehnte gelobte Land, hatte sich Emily ungläubig gefragt. Schmerzliche Bilder waren geblieben, drängten sich immer wieder in ihr Bewusstsein, die bleichen, ausgemergelten Körper ihrer Söhne, ihre fiebrigen Augen, ihr leiser werdender Atem. Wenn Emily daran dachte, haderte sie mit ihrem Schicksal. Sie war nicht glaubensstark wie ihr Mann, der diese fremde, unwirtliche Scholle bedingungslos als die von Gott gegebene neue Heimat ansah. * „Welch angenehmer Duft.“ James hatte sich unbemerkt genähert, begrüßte seine Frau mit einer liebevollen Umarmung und setzte sich neben sie auf die Erde. „Ein Getränk der Wampanoag“, antwortete Emily, „ich hole dir einen Becher.“ Sie lief in ihr immer noch provisorisches Siedlungshäuschen und kam mit einem zweiten Becher zurück. „Tut gut“, nahm sie das Gespräch wieder auf. „Die Indianerfrauen haben mir gezeigt, wie man den Tee kocht. Stell dir vor, er wird aus den getrockneten Blättern der Pflanzen zubereitet, deren scharlachrote Blüten wir unten am Fluss bewundert haben.“ „Köstlich“, bestätigte James. „Wir haben den Wampanoag viel zu verdanken“, fuhr Emily fort. „Aus eigenen Kräften hätten wir dieses Jahr nicht überlebt.“ James nickte zustimmend. Er war Puritaner, religiös und sittenstreng, aber kein engstirniger, intoleranter Sektierer wie viele seiner Glaubensgenossen, die die Indianer als unzivilisierte, heidnische Barbaren ohne jegliche Rechte sahen. James dagegen respektierte sie und wollte in Frieden mit ihnen leben. Die Wampanoag, die seit mehr als zweitausend Jahren das östliche Neuengland besiedelten, waren im Frühjahr aus ihren landeinwärts gelegenen Winterquartieren in die Nähe des Ortes zurückgekehrt, an dem sich die Mayflower-Überlebenden niedergelassen hatten. Ihr Häuptling Wasamegin war über die Neuankömmlinge nicht erfreut gewesen. Zu häufig hatten Rauchzeichen anderer Stämme signalisiert, dass Siedler an anderen Orten unrechtmäßig Weideflächen in Besitz genommen, Felder niedergebrannt und Wälder gerodet hatten. Indes dieses elende Häufchen war zu schwach und kränklich, um ihm und den Seinen gefährlich zu werden, andererseits konnte es von Nutzen sein. Im Tausch gegen Waffen, die ihm Vorteile bringen würden im Kampf mit den kriegerischen Stämmen der Umgebung, insbesondere den übermächtigen Narragansett, hatte er den Siedlern Hilfe angeboten, damit sie in der neuen Umgebung überlebten. „Ja“, antwortete James, „diesen Winter braucht niemand zu hungern. Wir haben alle reichlich Vorrat. Zeit, um wieder ein Erntedankfest zu feiern wie in der alten Heimat.“ „Wir sollten es zusammen mit den Wampanoag begehen“, meinte Emily. „Gute Idee“, erwiderte James. „Ich werde es dem Rat der Gemeinde vorschlagen.“ Er trank den Rest seines Tees und erhob sich. „Die Arbeit ruft. Ich muss die Lehmschicht unserer Hauswände verstärken. Der Winter mag wieder bitter kalt werden.“ Bevor er ging, zeigte er auf die kräftigen, breitrunden Gewächse, die mit ihrem leuchtenden Orangerot den kleinen Garten vor dem Haus übersäten. „Und du, meine Liebe“, er zwinkerte Emily zu, „du kannst zum Fest eine ganze Kompanie mit Kürbiskuchen versorgen.“ * Emily hatte im Sommer einen Gemüsegarten angelegt. Die Samen und Wurzeln, die sie aus der alten Heimat mitgebracht hatte, Sauerampfer und Guter Heinrich, Schwarzwurz und Schafgarbe, Kamille, Huflattich, Seifenkraut, sowie Spinat und verschiedene Kohlarten gediehen gut und waren durch einheimische Pflanzen wie Mais, Bohnen, vor allem aber Kürbisse, die Hauptnahrungsquelle im Herbst, ergänzt worden. Eine große Hilfe war ihr dabei Odakotah gewesen, ein schlanker und hochgewachsener Indianer mit bronzebrauner Haut, hohen, hervortretenden Wangenknochen und pechschwarzem, glattem Haar. Emily mochte ihn. Noch ahnte sie nicht, dass dieser scheue, zurückhaltende junge Mann bald ihr Komplize werden würde. Emily hatte früh gemerkt, dass seinen dunklen, melancholischen Augen eine Traurigkeit innewohnte, die ihrer nicht unähnlich zu sein schien. Es hatte einige Zeit gedauert, bis ihr Odakotah den Schmerz seines Herzens offenbart hatte. Mittels Zeichensprache, Gestik und Mimik. Und doch herzergreifender als Worte es hätten ausdrücken können. Drei Jahre zuvor hatte eine unbekannte Krankheit, eingeschleppt durch europäische Abenteurer, fast seine gesamte Sippe ausgelöscht, darunter seine Frau und seinen kleinen Sohn. Sein Heimatdorf war jener verlassene Ort, auf den die Mayflower-Passagiere bei ihrer Ankunft gestoßen waren und den sie für sich vereinnahmt hatten. Emily blickte hinüber auf die Farbenpracht der Bäume. Sie sahen mächtig, kraftvoll und mutig aus. Das gab ihr Zuversicht. So wollte sie auch sein, stark und tapfer. Dann ging sie zurück ins Haus, um James beim Verputzen der Hauswände zu helfen. * Entlang der Atlantikküste gab es ganze Landstriche, an denen Bäume mit ungewöhnlichem Duft wuchsen. Die Wampanoag nannten sie Pavane. Im Herbst leuchteten ihre Blätter intensiv purpurfarben. Emily kannte die Baumart nicht, hatte aber bald gelernt, dass sie den Indianern heilig war. Die Einheimischen glaubten, dass die Bäume heilende Kraft besäßen. Alle Teile der Pflanze, die dunkelblauen, eiförmigen Früchte, die gelappten Blätter, die rotbraune, dicke Borke und die Wurzeln wurden von ihnen als Allheilmittel genutzt. Sei vorsichtig mit den Extrakten der Wurzelrinde, hatte Odakotah ihr zu verstehen gegeben. Emily hatte bei den Wampanoagfrauen nachgeforscht, was es damit auf sich habe. Die Indianerinnen legten Zeigefinger und Daumen dicht aufeinander, so dass nur ein hauchdünner Spalt zwischen ihnen war, rollten verklärt mit den Augen und gestikulierten verzückt wie in Trance, zum Zeichen, dass kleinste Mengen des Extraktes eine aphrodisische Wirkung hätten. Große Mengen jedoch, angezeigt durch das Auseinandergehen der Finger und furchtsam blickende, tellergroße Augen, würden zum Tode führen. Es war vielleicht jugendliche Neugier gewesen, die Emily dazu gebracht hatte, an so einem Cocktail, der ihr von den Frauen angeboten worden war, zu nippen. Nur ein wenig. Keinen Sekundenbruchteil hätte sie damals an eine größere Menge gedacht. Ende Oktober ging die Royal Discovery, ein englisches Handelsschiff, in der Bucht des Siedlungsgebietes vor Anker. Es war beladen mit langersehnten...