Franke | Wär mein Leben ein Film, würd ich eine andere Rolle verlangen | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 320 Seiten

Franke Wär mein Leben ein Film, würd ich eine andere Rolle verlangen


1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-641-15501-8
Verlag: cbt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

ISBN: 978-3-641-15501-8
Verlag: cbt
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Jess' große Leidenschaft sind Filme und seit dem Tod ihrer Mutter ist das Kino ihr zweites Zuhause. So scheint es ein Leichtes, für ein Schulprojekt einen Blog über ihr Lieblingsthema ins Leben zu rufen. Doch das ist einfacher gesagt als getan. Und dann ist da auch noch Marvin, der plötzlich mehr von ihr will, als nur der hilfsbereite Freund zu sein. Langsam merkt Jess, dass sich das Leben durchaus nicht immer wie im Film abspielt ...

Cornelia Franke wurde 1989 in Mönchengladbach geboren. Nach ihrem Abitur zog sie nach Berlin, studiert Kulturwissenschaften und arbeitet freiberuflich als Lektorin im Bereich Jugendbuch und Fantasy. Seit 2011 engagiert sie sich für Schreibworkshops an Schulen.
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1. Kapitel

Jedes Mal, wenn ich vor der Glasfassade meines Stammkinos am Potsdamer Platz stehe, überkommt mich ein Kribbeln. Die bunten Kinoplakate begrüßen mich, und die Schauspieler schauen erwartungsvoll auf mich herab, als wäre ich zu lange weg gewesen. Hab ich etwa wieder Sport geschwänzt, um früher im Kino zu sein, scheinen mich die Actionhelden mit ihren strengen Blicken zu fragen. Doch heute gibt es keinen Grund zum Vorwurf. Heute habe ich mich zusammengerissen und Sport irgendwie überstanden, weil Lisa und Tom es erst in die Vorstellung um 17 Uhr schaffen. Eigentlich ist die Uhrzeit nebensächlich, solange wir uns wie jeden Donnerstag hier treffen. Wenn die neuen Filme anlaufen, sind wir sofort mit dabei.

Das Kribbeln fährt über meine Arme, denn das erste Plakat zu Boom the Beat 5 wurde angeschlagen. Kaum fällt mein Blick auf die beiden Tänzer, erwacht das Pärchen in meiner Fantasie zum Leben. Ein gewagter Sprung und sie platzen aus dem Plakat hervor, wirbeln durch die Luft und landen direkt vor meinen Füßen. »Komm, bald beginnt die Vorstellung«, sagt mir ihr stummes Lächeln.

Der Mann streckt mir auffordernd die Hand entgegen, doch ich lehne ab und lasse meinen Tagtraum platzen. Stattdessen stoße ich die Schwingtüren zum Foyer auf, streife den Straßendreck an den Fußabtretern ab und schlüpfe aus meinem Parka. Meine Mitschüler lieben den Klang des letzten Schulgongs, mein Vater entspannt, wenn seine Schlüssel nach einem Arbeitstag in der Schale auf der Kommode klirren. Ich liebe es, wenn der Gong hier die nächste Vorstellung ankündigt. Es ist wie nach Hause kommen, wenn mich der Duft von frischem Popcorn und das vielstimmige Murmeln der Kinobesucher empfängt. Dann bin ich ein Teil dieses Kinos und nicht mehr so einsam, wie ich mich manchmal fühle.

Anders als die meisten Besucher gehe ich nicht gleich zu den Ticketkassen, sondern bleibe einen Moment stehen und blicke hoch zur Galerie der ersten Etage. Neue Woche, neue Dekoration. Vor allem neue Banner. Fünf Meter hoch und locker zwei Meter breit, grinsen mich die Schauspieler von Mummy Love an. Gebastelte Sandwolken und braune Stoffstreifen hängen von der Decke, um das Kino aussehen zu lassen wie eine Wüstenlandschaft.

Wenn mein Zimmer nur groß genug wäre, dann würde ich den Banner des Wüstenpalasts quer über die Decke spannen und mich vom Bett aus in den Dünen verlieren. Allerdings müsste ich ein Loch für meine Lampe hineinschneiden … und das bringe ich nicht übers Herz. Fanartikel werden nicht zerschnitten.

Ich laufe an einer lebensgroßen Legofigur zum kommenden Superheldenstreifen vorbei und im Zickzack durch die Wartenden. »Hey Andreas«, ich winke dem Mann hinter der zweiten Kasse zu, der meinen Gruß mit einem Lächeln erwidert. Das Rattern der Drucker begleitet meine quietschenden Converse, bildet den Takt meiner Schritte.

Der Kartenabreißer an den Treppen beachtet mich nicht, als ich in den Durchgang für die Projektorräume im Erdgeschoss schlüpfe. An der nächsten Tür klopfe ich zweimal kurz, zweimal lang, das vereinbarte Zeichen. Schon öffnet sie sich und ich stoße fast mit Olaf zusammen.

»Hallo Jess! Was hat dich aufgehalten?«

»Die BVG fährt doch nie nach Plan.«

»Stimmt, heute Morgen fiel der S-Bahn-Ring schon wieder aus. Vermutlich haben die Fahrer eine Schneeflocke gesehen und sind deshalb kollektiv in Streik getreten.« Olaf arbeitet seit fünfzehn Jahren im Kino, das muss man sich mal vorstellen. Fast so lange, wie ich auf der Welt bin, kümmert er sich um die Technik meines Lieblingskinos. Hauptsächlich hält er die Projektoren in den neunzehn Sälen in Schuss, kontrolliert deren Abläufe und bekämpft mit Feuereifer die kleinen Macken im Haus. Ein Ticketdrucker klemmt? Olaf findet eine Lösung. Der Film läuft, aber das Licht brennt noch? Ruf Olaf. Saal drei hat keinen Ton? Olaf!

Früher habe ich Olaf für einen Zauberer gehalten, der alles reparieren kann. Dafür haben mir sein Vollbart und Kugelbauch als Kind Angst eingejagt. Den Grund weiß ich nicht mehr, denn Olaf ist einer der nettesten Menschen überhaupt. Immer fröhlich eine Melodie pfeifend, weil sein Job ihm Spaß macht. Immer einen Witz auf Lager. Heute macht er mir keine Angst mehr und ich gebe meine beschädigte Hardware ebenfalls in seine Zauberhände.

Inzwischen erinnert er mich eher an einen Teddybären, der stets eine Umarmung für mich bereithält.

»Sag schon, wie war’s? Ihr habt doch heute eure Ergebnisse bekommen.«

»Na ja.« Ich winde mich unbehaglich. Für Olaf ist Physik ein Kinderspiel. Wenn er mir Versuche und Gesetzmäßigkeiten erklärt, klingt es wirklich einfach. Leider entsprechen die Fragen in meinen Tests nie seinen Antworten. »Ist nur eine Drei geworden«, quetsche ich hervor.

Ich wende den Blick ab. Jetzt ist er bestimmt enttäuscht. Für mich ist Olaf wie ein Onkel. Ein alter Freund meiner Mutter, der für mich da ist, wenn mein Vater mal wieder keine Zeit für mich hat.

»Das ist super!« Olaf herzt mich überschwänglich. »Letztes Mal hattest du eine Vier. Ich nenne das eine Verbesserung, Jessica.«

Seit Jahren besuche ich dieses Kino mehrmals die Woche. Der Donnerstag ist Pflicht und, wenn ich es schaffe, auch die Sneak Previews am Mittwoch. Manchmal verbringe ich hier einen faulen Sonntagvormittag, um zwischen einer Horde von Kindern den neuesten Animationsfilm zu sehen.

Nach dem Tod meiner Mutter vergrub sich mein Vater in die Arbeit, sodass er unser allwöchentliches Filmerlebnis immer häufiger absagte. Ich hingegen bestand darauf, und wie zur Entschädigung, dass er nie zu Hause war, wollte er mir ein Hobby sponsern. Ich hätte mir Musikunterricht aussuchen können, Fußball, Karate, Reiten, irgendeinen anderen Sportverein … Ich entschied mich allerdings für eine Kinojahreskarte. Fünfmal in Folge.

Außerdem freute Olaf sich, dass er auf mich aufpassen durfte. Obwohl ich schon lange kein Kind mehr bin, das einen Aufpasser braucht, ist Olafs Freude über meine Besuche geblieben.

»Sind Lisa und Tom schon da?«, frage ich.

»Die beiden besetzen die gleichen Plätze in der letzten Reihe wie jeden Donnerstag.« Olaf grinst. »Warte, ich lasse dich hinten rum rein. Willst du Popcorn? Ich bin hier noch eine halbe Stunde beschäftigt, danach könnte ich euch welches bringen.«

»Danke, sehr gern.«

»Wie immer salzig?«

»Wie immer.« Ich strahle.

Olaf stellt etwas am Projektor ein, bevor er mich zu einem Fahrstuhl begleitet. Aus der Kabine kommt uns ein anderer Mitarbeiter entgegen. Anstatt zu fragen, was ich hier zu suchen habe, begrüßt er mich mit einem »Hey, Jess« und geht seiner Wege.

»Glückwunsch zur Drei!«, freut sich Olaf erneut, gibt mit seinem Mitarbeiterschlüssel den Fahrstuhl frei und die Kabine ruckelt nach oben.

Leise schiebe ich die Metalltür des Notausgangs auf, sodass es kein anderer Besucher bemerkt. Saal sieben füllt sich langsam und über die Leinwand flimmert schon die Werbung. Mal wieder dieser athletische Wasserskifahrer mit seinem ach so tollen Mineralwasser. Neue Kinowerbespots sind seltener als ein Drama mit Happy End.

Kurz lasse ich den Blick über die roten Stuhlreihen schweifen und genieße die Aussicht. Hunderte von Menschen passen in Saal sieben. In ein paar Minuten werden wir alle zusammen denselben Film sehen, lachen, weinen, uns fürchten. Ich glaube nicht an Übernatürliches, Aliens oder Elben, aber das hier ist Magie. Die Magie des Films.

Die Beleuchtung geht aus und ich mache mich auf den Weg zu meinem Platz. Tom entdeckt mich als Erster und streckt mir die geballte Faust zum Gruß entgegen. Ich erwidere die Geste, woraufhin meine beste Freundin Lisa genervt schnaubt.

»Das Universum ist weit …«, grüßt Tom mit einem Grinsen.

»… und voller Abenteuer, die es zu bestreiten gilt«, beende ich die Losung unserer liebsten Raumschiffserie Captain Calderon.

»Du benutzt auch nie die Treppen wie normale Leute, oder?«, fragt Lisa und deutet dabei auf einen Trinkbecher in meiner Halterung. Sie hat sogar daran gedacht, mir eine Sammelfigur zu holen, sodass mein Trinkhalm durch den Bauch einer Gummi-Mumie stößt. »Schuldest mir was.«

Zufrieden falle ich in meinen Sitz. Die Polsterung ist so gemütlich, am liebsten hätte ich so einen Sessel zum Schlafen. Außerdem würde ich dank des Getränkehalters nie mehr mein Bett fluten.

»Olaf bringt uns gleich Popcorn. Seid ihr schon lange da?«

»So begleicht man nicht seine Schulden«, mault Lisa trotzdem. »Ich schreib’s auf deine Liste, Jess.«

Ich werfe einen Blick zur Leinwand, doch den Trailer des Katastrophenfilms kenne ich bereits.

»In Gold und Edelsteinen kann ich dich nicht auszahlen.«

»Theoretisch lässt du das Kino für dich bezahlen«, hält meine Freundin mir vor.

Ich zucke mit den Schultern. »Letzte Woche war das noch in Ordnung. Ich esse deine Portion Popcorn gerne mit, wenn du es nicht magst.«

»Das war letzte Woche. Und natürlich möchte ich Popcorn!«

Tom stößt mit dem Fuß gegen eine leere Nachopackung im Fußraum. »Sie braucht Nachschlag.«

Da kommt mir eine Idee. »Was hast du denn Schönes gesehen, dass du sofort meine Schulden einforderst? War es golden oder glitzernd?«

Lisas Finger spielen unbewusst mit den Anhängern ihrer Kette. »Beides.«

»Als ob sie sich mit einem davon zufrieden gibt«, scherzt Tom und greift nach seiner Cola. Dabei fällt mir sein T-Shirt mit der Aufschrift »Han shot first« auf. Wie immer...


Franke, Cornelia
Cornelia Franke wurde 1989 in Mönchengladbach geboren. Nach ihrem Abitur zog sie nach Berlin, studiert Kulturwissenschaften und arbeitet freiberuflich als Lektorin im Bereich Jugendbuch und Fantasy. Seit 2011 engagiert sie sich für Schreibworkshops an Schulen.



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