Franklin | Hemingways Kind | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 464 Seiten, eBook

Franklin Hemingways Kind


1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-0369-9624-0
Verlag: Kein & Aber
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 464 Seiten, eBook

ISBN: 978-3-0369-9624-0
Verlag: Kein & Aber
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Unter den beiden Söhnen Greg und Patrick ist der athletische, talentierte, kluge und hübsche Greg Ernest Hemingways Liebling, mit dem er gerne angibt. Patrick neckt seinen Bruder damit, doch der Druck des Vaters auf Greg und seine Ansprüche an ihn sind hoch, und Greg will alles tun, um ihm zu gefallen, seine eigenen Sehnsüchte sind aber ganz andere. Jahre später, 1951, Greg ist Anfang zwanzig, studiert Medizin, heiratet, wird Vater - und beginnt, gegen alle damaligen Konventionen, in der Öffentlichkeit Frauenkleidung zu tragen. Im bewegten Leben zwischen Havanna, Los Angeles, New York und Miami entsteht eine unaufhaltsame Spirale aus unglücklichen Beziehungen, Abstürzen, enttäuschten Erwartungen der Familie und unterdrückten Gefühlen, in der es Greg kaum gelingt, die persönlichste Frage überhaupt zu beantworten: Wer bin ich? Greg, Gigi oder Gloria?

Russell Franklin, geboren in Solihull, England, lebt und arbeitet in London. 2020 wurde er für das angesehene London Library Emerging Writers Programme ausgewählt. ist sein erster Roman.

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HAVANNA


1940


Gregs Schuhe baumelten wie zwei Gewichte an den Schnürsenkeln und zogen den Gürtel nach unten. Bei jedem Schritt spritzte das Wasser an seine Beine. Der kleine Fluss wand sich funkelnd in der Mittagssonne. Beide Ufer waren dicht mit Schilf bewachsen, sodass der Blick auf die dahinterliegenden Felder verstellt war.

Patrick ging hinter ihm, vorsichtig mit den Zehen tastend, aus Angst, es könnte ihn etwas beißen oder zwicken. Mit seiner tief in die Stirn gezogenen Yankees-Kappe und dem klobigen Rucksack sah er aus, als wollte er in den Rocky Mountains wandern, nicht wie ein Junge, der sich nur die Zeit bis zum Abendessen vertrieb. Sie waren erst seit ein paar Tagen in Kuba, und er musste sich erst an die viele Wildnis gewöhnen, wie er es nannte, obwohl es hauptsächlich Ackerland war.

Greg achtete nicht auf seinen Bruder. Er konzentrierte sich auf das Wasser vor ihm, registrierte jede Veränderung von Licht und Schatten. Im Flugzeug hatte er in der Zeitschrift Hero Stories die Geschichte von einem ausgesetzten Seemann gelesen, der mit seinen bloßen Händen Fische gefangen und so überlebt hatte. Er stellte sich Papas Gesicht vor, wenn er mit einem Fisch fürs Abendessen zurückkäme, für den er nicht mal eine Angel gebraucht hätte.

»Wenn du so rumspritzt, verjagst du jeden Fisch weit und breit«, murmelte Patrick und zog sich den Rucksack ein Stück höher auf die Schultern.

Greg ließ sich nicht beirren. »Und wenn ich so langsam gehen würde wie du, wären wir jetzt noch im Haus.«

»Ich bin nur zwei Schritte hinter dir! Ich bin nicht langsamer als du, nur leiser. Du hast keine Ahnung vom Jagen.«

»Das werden wir ja sehen …« Greg bemerkte neben einem alten, halb im Wasser liegenden Ast einen Schatten, der unter der hellen Oberfläche kaum zu sehen war.

Jetzt ging er doch leiser und hoffte, Patrick würde nicht bemerken, dass er den Fuß vor jedem Schritt ganz aus dem Wasser heraushob. Er sah schon Papas bewundernden Blick, schmeckte das von den Gräten genagte Fleisch.

Langsam, behutsam näherte er sich dem Ast in einem Bogen, denn sobald er den Fisch sehen würde, könnte der ihn sehen. Dann bückte er sich, tauchte in einer einzigen gleitenden Bewegung die Hände ins Wasser und zog eine leuchtende, schlabbrige, völlig durchweichte Zeitung heraus, ein Exemplar der Morgenausgabe vom selben Tag. Auf der Titelseite prangte ein fleckiges Foto von Präsident Machado, der ihn so finster ansah, als hätte Greg ihn aus dem Mittagsschlaf gerissen.

Er starrte die Zeitung an und zerknüllte sie schließlich wütend zu einem Ball. Patrick hinter ihm lachte schon.

»Genial. Jetzt können wir deinen Fisch einwickeln.«

Greg schleuderte ihm den triefenden Klumpen entgegen. In seiner Baseballmannschaft in Key West galt sein Wurfarm als legendär, und prompt traf er Patrick mit einem satten Klatsch direkt ins Gesicht.

Sein Bruder taumelte kurz, wischte sich über die Wange und sagte achselzuckend: »Na gut, das war verdient.«

In der Flussbiegung musterte sie ein großer, krummbeiniger Vogel, bevor er sich mit wenigen kraftvollen Flügelschlägen in die Luft hob und ruckartig davonflog. Greg beschattete seine Augen und sah ihm nach.

»Nicht schlecht.« Patrick stieg die Uferböschung hinauf, um den Vogel noch ein paar Sekunden sehen zu können, bevor er aus seinem Blickfeld verschwand. »Gut, dass Papa nicht da ist.« Er spannte ein imaginäres Gewehr und tat so, als würde er schießen.

Greg überlegte, ob Patrick Papa damit nicht unrecht tat. Die Vorstellung, sein Vater könnte einen so komischen dummen Vogel abschießen, war nicht schön. Allerdings hatte er ihn schon alles Mögliche abschießen sehen.

Er kletterte zu seinem Bruder hinauf, band die Schuhe ab und streckte seine Beine in die Sonne. »Fühlt sich an, als würde ich hier braten.«

»Tust du auch, oder jedenfalls siehst du so aus.« Patrick begann in seinem Rucksack zu kramen.

»Muss der eigentlich überall mit?«

»Man nennt das vorbereitet sein, du Schwachkopf.« Wie zum Beweis zog Patrick zwei Flaschen Cola und ein Schweizer Messer hervor. »Aber wenn du keine willst …«

»Okay, ich nehms zurück.«

Patrick grinste und hebelte die Kronkorken von den Flaschen.

Erst als Greg die noch immer leicht kühle Flasche in der Hand hielt, bemerkte er, wie durstig er war, und trank die Hälfte in einem Zug. Dann rülpste er, wegen der Kohlensäure.

»Eklig«, sagte Patrick und nahm einen Schluck.

Greg rülpste noch einmal, griff in die Tasche seiner Shorts und zog eine zerknitterte Packung Zigaretten heraus. »Ich bin auch vorbereitet.«

»Sind die von Martha? Hast du sie geklaut?«

»Nein, die hat Papa am Pool vergessen. Willst du jetzt eine oder nicht?«

»Ja. Hast du Streichhölzer?«

»Ich hab gewusst, dass du welche hast.«

Patrick seufzte, weil Greg ihm seinen kleinen Sieg gestohlen hatte, zog dann aber bereitwillig eine Schachtel Streichhölzer hervor und zündete die beiden Zigaretten an. »Hoffentlich erstickst du dran, Schlauberger.«

»Gerade eben war ich noch ein Schwachkopf.«

»Dann bist du eben beides. Und ein Dieb.«

»Ein Meisterdieb.« Greg inhalierte tief und ließ den warmen Rauch in seine Lunge strömen. Ihm wurde etwas schwindelig; es war eine Weile her, dass er das letzte Mal geraucht hatte. Seit Papa gegangen war und mit Martha in der Finca wohnte, lagen im Haus in Key West keine halb vollen Packungen Filterlose mehr herum, die sich ihm praktisch aufdrängten, und seiner Mutter eine ihrer schlanken Silk Cuts aus der Handtasche zu stehlen, wäre ein schweres Verbrechen gewesen.

Alles fühlte sich gut an. Das kühle, klare Wasser, das ihm über die Zehen rann. Der Himmel, strahlend blau, wie frisch gestrichen. Der Geschmack von Zucker und Rauch auf der Zunge.

»Da.« Patrick hielt ihm seine Baseballkappe hin. »Setz sie auf.«

»Brauch ich nicht.«

Patrick drückte sie ihm mit dem Schild nach hinten auf den Kopf. »Dein Nacken ist schon ganz rot, Gig. Du siehst aus wie ein Hummer.«

»Ich brauch sie nicht«, entgegnete Greg missmutig, nahm sie ab und versuchte sie Patrick wieder aufzusetzen.

Patrick wich zurück und wehrte sie mit erhobenen Händen ab. »Ich weiß. Aber tu mir trotzdem den Gefallen.«

Greg strich sich die Haare glatt, setzte die Kappe unwillig auf und zog den Schild fast bis zum Hemdkragen in den Nacken. Er gab es nicht gern zu, aber der Schatten kühlte die Haut tatsächlich ein bisschen.

Er trank einen Schluck Cola. »Danke, Pat.«

Sein Bruder erwiderte nichts, sondern schwenkte nur die Füße durchs Wasser und summte fröhlich vor sich hin.

Greg lehnte sich zurück, stützte sich auf die Ellbogen und betrachtete ihn verstohlen aus den Augenwinkeln. Seine Schultern waren inzwischen genauso breit wie die von Patrick, fand er. Er war zwar zwei Jahre jünger und wesentlich kleiner, doch während sein Bruder wie aus Kleiderbügeln und alten Fahrradteilen zusammengebaut zu sein schien, hatte Greg das, was sein Vater eine »Boxerstatur« nannte. Trotzdem sah man sofort, dass sie Brüder waren. Beide hatten den gleichen dunklen Haarschopf, die gleichen dunklen Augen und den gleichen ausgeprägten Unterkiefer, auch wenn Patrick mehr nach der Mutter kam und Greg mehr nach dem Vater.

Über ihnen flog ein Vogelschwarm vorbei, rabenschwarz vor dem hellen Himmel, gleich darauf schossen unten kleine Fische durch das martiniklare Wasser.

»Ganz schön verrückt hier«, sagte Greg.

»Und wie«, erwiderte Patrick, während sich der Fischschwarm in der glitzernden Oberfläche des rasch fließenden Wassers verlor. »Aber eigentlich ganz okay. Mom würde es allerdings nicht gefallen.«

»Wegen den Insekten? Oder weil Martha –«

»Lass es einfach, Gig.«

Nachdem sie eine Zeit lang geschwiegen hatten, sagte Patrick: »Tut mir leid.«

»Schon gut, Pat. Eigentlich ist sie ganz okay.«

»Stimmt … Ich will nur gerade nicht daran denken. Krieg ich noch eine?«

»Klar.«

Patrick zündete die Zigarette an und machte einen Lungenzug. Plötzlich raschelte es hinter ihnen, und mit einem Knacks zerbrach ein Ast.

Die Jungen erstarrten. Greg verschüttete etwas von seiner Cola über sein Kinn. Erst nach einer Weile traute er sich zu sprechen und flüsterte: »Was war das?«

»Keine Ahnung«, antwortete Patrick. »Irgendein Tier.«

»Ach nee! Und was für eins?«

»Keine Ahnung. Was für Tiere gibt es in Kuba?«

»Ein Löwe?«

»Gibts in Kuba nicht, du Schwachkopf.«

»Dann eben ein Gepard.«

Patrick schnaubte verächtlich, und wie als Reaktion darauf raschelte es heftig im Gestrüpp.

»Gibt es hier ganz bestimmt keine Löwen?«

»Ganz bestimmt nicht«, sagte Patrick, doch diesmal klang er weniger sicher. »Wahrscheinlich ein Affe oder so was.«

»Schleichen wir uns an.«

»Was?«

»Wir sehen nach, was es ist. Komm schon.«

»Warte, Gig!«

Doch Greg schlüpfte schon in seine Schuhe und kroch ins Unterholz – auf dem Bauch, wie er es gesehen hatte, wenn sich im Film Soldaten an ein feindliches Camp heranschlichen. Gras und Pflanzen, deren Namen er nicht kannte, schob er mit seinen bloßen Armen zur Seite.

Er hielt inne und wartete auf ein weiteres Rascheln, das ihm die Richtung weisen würde.

»Warum geht es nicht voran?«, flüsterte...


Grabinger, Michaela
Michaela Grabinger hat für Kein & Aber mehrere Romane übersetzt, u. a. von Elif Shafak, Anne Tyler, Helen Simpson und Russell Franklin.

Franklin, Russell
Russell Franklin, geboren in Solihull, England, lebt und arbeitet in London. 2020 wurde er für das angesehene London Library Emerging Writers Programme ausgewählt. Hemingways Kind ist sein erster Roman.

Russell Franklin, geboren in Solihull, England, lebt und arbeitet in London. 2020 wurde er für das angesehene London Library Emerging Writers Programme ausgewählt. Hemingways Kind ist sein erster Roman.Michaela Grabinger hat für Kein & Aber mehrere Romane übersetzt, u. a. von Elif Shafak, Anne Tyler, Helen Simpson und Russell Franklin.



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