E-Book, Deutsch, Band 42, 307 Seiten
Reihe: Pulp Master
Franklin Smonk
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-927734-82-1
Verlag: PULP MASTER
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Stadt der Witwen
E-Book, Deutsch, Band 42, 307 Seiten
Reihe: Pulp Master
ISBN: 978-3-927734-82-1
Verlag: PULP MASTER
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Old Texas, Alabama, 1911. Fernab und inmitten abgebrannter Maisfelder gelegen, leidet die kleine Gemeinde nicht nur unter den Folgen des Bürgerkrieges. E.O. Smonk, ein schießwütiger, einäugiger Farmer, tyrannisiert das Städtchen, insbesondere Dutzende Witwen und junger Mädchen, an denen er sich vergeht. Als ihm der Prozess gemacht werden soll, kann Smonk dem Lynchmob entkommen. Doch es scheint eine Verbindung zu geben zwischen Smonk, dem geheimnisvollen religiösen Witwen-Kult und der Truppe um einen christlichen Hilfssheriff, der eine mordende minderjährige Hure entlang der Golfküste verfolgt.
Auf den Spuren von Faulkner und McCarthy kombiniert US-Autor Tom Franklin Elemente des Southern Gothic und des Western noir und legt in seiner Groteske die Wurzeln der angezählten amerikanischen Nation bloß, die nicht selten Freiheit mit dem Recht des Stärkeren assoziert.
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1
Der Prozess
Es war am Vortag des Vortages seines Ablebens durch Mord, und Mundharmonika-Musik lag in der Luft, als E.O. Smonk auf dem umstrittenen Muli über das Eisenbahngleis und den Hügel hinauf zu dem Hotel ritt, wo sein Prozess stattfinden sollte. Man schrieb den ersten Oktober dieses Jahres. Es war seit sechs Wochen und fünf Tagen trocken und staubig. Die Feldfrüchte waren tot. Es war Samstag. Gemäß den Schatten der Flaschen am Flaschenbaum zehn nach drei am Nachmittag. Inmitten der Reihe langer, leise wiehernder Pferdegesichter an der Anbindestange ließ sich Smonk von dem Maultier hinunter auf den Sandboden gleiten, spuckte seinen Zigarrenstummel aus und stand mit bösem Blick in seiner vollen Größe von fünf ein Viertel Fuß zwischen den Pferdeschultern. Er befahl einem schmutzigen blonden Jungen mit einem Ballon in der Hand, auf das Muli zu achten, das einen englischen Sattel und darunter eine bestickte Decke aus Brügge in Belgien trug. Aus einem am Sattel befestigten Holster ragte der Kolben der Winchesterbüchse, mit der Smonk vor knapp einer halben Stunde vier der Ziegen im Pferch eines Iren erledigt hatte, weil das Einzige, was er noch weniger leiden konnte als einen Iren, eine irische Ziege war. Anstelle eines Brandzeichens hatte das Muli ein frisches Einschussloch von einer 22er im linken Ohr, genau wie Smonks Kühe, seine Schweine und sein Jagdhund, sogar seine Katze. »Wenn das Muli wegkommt«, sagte er zu dem Jungen, »mach ich dir ’n Loch in deinen Ballon.«
Er riss mit dem Daumennagel ein Streichholz an und hielt die Flamme an eine weitere Zigarre. Er bemerkte, dass weder auf den Veranden noch auf den Balkonen Männer saßen, zog das Gewehr aus dem Holster und entsicherte es. Mit dem Handrücken klopfte er einer Stute Staub von der Flanke, damit sie ihm verdammt noch mal Platz machte (es hieß, er gehe nie hinter einem Pferd her), stampfte die Stufen hinauf in den Schatten des Balkons und humpelte über die Hotelveranda, sodass die Bretter unter seinen Stiefeln ächzten. Der Junge sah ihm nach: der ungeheuren Zwergengestalt mit den Schultern eines Grizzlybären, das scheffelkorbgroße Haupt gesenkt und schräg gelegt, als versuche er zu entscheiden, ob etwas Männchen oder Weibchen war. Seine Hände waren breit wie Schaufeln und seine Finger so lang, dass er den Schädel eines Mannes damit umspannen konnte, aber seine untere Hälfte war kleiner: dünne, hufeisenkrumme Beine und kleine Füße in nagelneuen, schokoladenfarbenen Ausgehstiefeln aus Kalbsleder, die lockeren Breeches aus Drillich oben hineingesteckt. Er trug ein sauberes, gebügeltes weißes Hemd mit Rüschenkragen, Hosenträger, eine schwarze Schnürsenkel-Krawatte mit einem Würfelpaar an den Enden und eine hellbraune Leinenjacke. Wie üblich hatte er keinen Hut auf – von Hüten schwitzte er am Kopf —, und er trug eine Brille mit blauen Gläsern, wie sie Syphiliskranken verordnet wird, zu denen er zählte. An einer Schnur um seinen Hals hing eine Kürbisflasche Whiskey, die mit einem Sirupkorken verschlossen war. Er hustete. Neben der Winchester führte er einen Spazierstock mit Elfenbeingriff bei sich, in dessen Schaft ein Degen und in dessen Griff ein Derringer versteckt war. An verschiedenen Stellen in seiner Kleidung verbargen sich vier, fünf Revolver, in seinen Jackentaschen klackerten Patronen und in seinem Stiefel steckte ein Messer. Seine rechte Schulter zierten mehrere Narben von Schusswunden, dazu kamen eine in jedem Unterarm und eine weitere in seinem linken Fuß. Der haarige Hügel seines Rückens war mit einem Dutzend Schrotpocken übersät, und über seinen Bauch zog sich die Spur eines Messers. Seit mittlerweile mehreren Jahren fehlte ihm das linke Auge und war durch eine weiße Glaskugel ersetzt worden, die zwei Größen zu klein war. Er hatte einen Kropf unterm Bart. Er hatte Gicht, er hatte den Tripper, Blutzucker, Nervenschmerzen und Schüttelfrost. Malaria. Das in seiner Hosentasche zusammengeknüllte Seidentaschentuch war blutig von der fortgeschrittenen Schwindsucht, unter der er, wie der Doktor ihm erst kürzlich mitgeteilt hatte, litt. »Sie werden dran sterben«, hatte der Doktor gesagt. »Wann?«, fragte Smonk. »Irgendwann demnächst.«
An der Hoteltür blieb er stehen, um Atem zu schöpfen, und warf einen Blick zurück. Abgesehen von dem Jungen, der mit seinem Ballon, einem mit Luft gefüllten Schafsmagen, an einem Pfosten lehnte, waren keine Kinder zu sehen – einen kinderloseren Ort würde man nirgends finden. In der ganzen Stadt legten die verhurten alten Schachteln Fensterläden vor und schlossen Türen, andere eilten, von ihren Sonnenschirmen beschattet, über die Straße, aber jede Einzelne lugte über ihre Schulter, um einen Blick auf Smonk zu erhaschen. Er tippte an eine imaginäre Hutkrempe. Dann bemerkte er sie – die beiden Lackaffen, die auf der anderen Straßenseite neben einem Pferdewagen mit Plane standen. Sie stellten gerade das Dreibein ihrer Kamera auf und trugen geckenhafte Anzüge und glänzende Melonen. Smonk, der das Lippenlesen beherrschte, sah einen sagen: »Da ist er.«
Im Hotel steckte der Gerichtsdiener die Mundharmonika weg, auf der er gespielt hatte, nahm eine straffere Haltung an, als er sah, wer da kam, räusperte sich und verkündete, im Gerichtssaal seien keine Schusswaffen erlaubt. »Das ist kein Gerichtssaal«, sagte Smonk. »Heute schon, bei Gott«, sagte der Gerichtsdiener. Smonk warf einen Blick hinter sich, als würde er gleich wieder gehen und die Justizfarce könnte ihm ein für alle Mal gestohlen bleiben. Doch stattdessen übergab er das Gewehr mit den Läufen voraus, und während er einen schweren Revolver und dann einen weiteren auf das Whiskeyfass legte, das als Schreibtisch des Gerichtsdieners herhalten musste, schaute er auf den hageren, bartlosen Schotten in Latzhose und mit tief ins Gesicht gezogener Fahrradmütze hinunter, der auf einer Holzkiste saß, auf der Anrichte hinter ihm ein Sammelsurium von Schusswaffen, die die bereits Anwesenden dort deponiert hatten. Smonk musterte den Gerichtsdiener. »Dich hab ich schon mal gesehen.«
»Vielleicht«, sagte der Mann. »Vielleicht hab ich ja für Sie gearbeitet, bis Sie mich rausgeschmissen haben und meine Frau mich wegen Ihnen hat sitzenlassen, und das hat mich in solchen Trübsinn gestürzt, dass ich und mein Sohn Willie alles verloren haben, was wir mal hatten – Land, Haus, Scheune, Maisspeicher, Destille, Bach. Einfach alles. Machen Sie Ihre Jacke auf und zeigen Sie mir, was drunter ist.«
Smonk tat wie geheißen. »Hast Schwein gehabt, dass ich dich nicht kaltgemacht hab.«
Der Gerichtsdiener zielte mit dem Gewehr auf ihn. »Den da auch.«
Der Einäugige leckte sich mit seiner langen roten Zunge über die Lippen, klemmte sich die Zigarre zwischen die Zähne, fummelte einen 41er Navy Colt aus seinem Hosenbund und legte ihn auf das Fass zwischen ihnen. »Pass auf, dass den Dingern nichts passiert. Vielleicht geb ich dir ’n Penny Trinkgeld, wenn du gut drauf achtgibst.«
»Von Ihnen würd ich keinen Penny Trinkgeld nehmen, Mister Smonk, und wenn’s der letzte Penny wär, der in diesem Land geprägt wird.«
Smonk hatte gehustet. »Wie war das?«
»Ich hab gesagt, wenn’s im ganzen Land zufällig ’ne Kupferknappheit geben und ’n Penny anderthalb Dollar kosten würde und ich seit einem Monat nichts mehr gegessen hätt und mein Sohn am Verhungern wär, würd ich keinen Penny von Ihnen nehmen. Nicht mal, wenn Sie mir noch ’nen ganzen Penny dafür geben würden, dass ich ihn nehm.«
Aber Smonk hatte sich schon abgewandt. Wütende Mundharmonikatöne gingen ihm voraus, während er den Oberkörper verdrehte, um durch die Tür zu passen, und den heißen, verqualmten Speisesaal betrat, die Krawatte mit Zigarrenasche bestäubt wie mit Barthaarschuppen. Man hatte die Esstische an die Wände geschoben und Platte auf Platte gestapelt, sodass die Beine der oberen wie bei toten Rindern in die Luft ragten. Friedensrichter Elmer Tate, der Rechtsanwalt, der Bankier, zwei, drei Farmer, der Mietstallbesitzer, besagter Doktor, der eben kurz auf seine Uhr geschaut hatte, und Hobbs der Leichenbestatter, alles Diakone, sahen ihn an. Die Gespräche waren verstummt, die Männer so still wie Stühle. Die Neunerkugel, die über den Billardtisch in der Ecke kullerte, verfehlte das Loch, tickte die Sieben an und kam jäh zum Stillstand. Smonk lehnte sich an die Wand, die leicht nachgab. Er hustete in sein Taschentuch, betupfte sich die Lippen, stopfte das Tuch in seine Tasche, und die Gespräche und die Billardpartie gingen weiter. Einen Moment lang passierte nichts, außer dass draußen eine Spottdrossel zwitscherte und Smonk seine Kürbisflasche entkorkte. Dann ging die Tür am anderen Ende des Raums auf und ins Licht trat der Amtsrichter, ein Demokrat, Freimaurer und...