Franzobel Hundert Wörter für Schnee
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-552-07564-1
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 528 Seiten
ISBN: 978-3-552-07564-1
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Im Herbst 1897 bringt der US-amerikanische Entdecker und Abenteurer Robert Peary sechs Inughuit, so der Name der im Norden Grönlands lebenden Menschen, auf einem Dampfschiff nach New York. Untersucht sollen sie werden, vor allem aber ausgestellt und hergezeigt. Vier von ihnen sterben schnell an Tuberkulose, einer wird zurückgebracht - der neunjährige Minik aber bleibt. Seine Geschichte - Taufe, Schule, betrügerischer Pflegevater, Flucht - sorgt für Schlagzeilen. In Franzobels Roman wird Minik nicht nur zum Spielball zwischen der zivilisierten amerikanischen Kultur und der angeblich primitiven eines Naturvolkes. Sein Schicksal ist ein Heldenlied auf den Überlebenskampf eines beinahe ausgestorbenen Volkes, das bewiesen hat, wie der Mensch selbst in der unwirtlichsten Gegend überleben kann.
Franzobel, geboren 1967 in Vöcklabruck, erhielt u. a. den Ingeborg-Bachmann-Preis, den Arthur-Schnitzler-Preis, den Nicolas-Born-Preis und den Bayerischen Buchpreis. Bei Zsolnay erschienen zuletzt die in zahlreiche Sprachen übersetzten historischen Romane »Das Floß der Medusa« (2017), »Die Eroberung Amerikas« (2021) und »Einsteins Hirn« (2023).
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Wind in den Ohren
Während in Grönland der kleine Minik heranwuchs, traten Robert und Josephine Peary die Hochzeitsreise an.
Der Honeymoon in Sea Bright, New Jersey war alles andere denn romantisch. Zwar nächtigten sie in einem mondänen Hotel, dessen von schlanken Eisenstelen dominierte Fassade römischen Badeanlagen nachempfunden war, gab es feine, von livrierten Kellnern servierte Speisen, Weine aus Kalifornien, bot der malerische Strand die Möglichkeit zu Spaziergängen, doch etwas störte die Idylle — Mutter Peary, die sich ebenso wie Henson im Schlepptau des Brautpaares befand.
Jo hatte sich Händchenhalten erwartet, innige Blicke und tiefes Röhren, aber Peary sprach nur von seinen Plänen: Grönland durchqueren, den Pol erobern, auf der Adler-Insel in der Casco-Bucht ein Haus bauen. Josephine sollte ihm eine Fahne nähen … …, die er am Pol hissen konnte.
— Und Kinder?
— Kinder? Sea Bright war für eine ältere Klientel eingerichtet, seine Gäste konsumierten Appetitanreger und Abführmittel, unterhielten sich über Verdauungsstörungen und Einläufe. Ja, Kinder vielleicht auch.
— Siehst du den Bärrrtigen am Nachbarrrtisch? Schau nicht gleich hin. Peary rieb mit seinen Fingern, als wollte er ganz Sea Bright zerbröseln. Das ist Morrris Jesup, einer der Grrründer des Naturrrhistorrrischen Museums.
Jo wandte ihren Kopf und sah ein Paar, das sich aggressiv anschwieg.
— So dürfen wir nie werden, Robert. Versprich es mir.
— Soll ich mich ihm vorstellen? Pearys Fingernägel kratzten den Tisch. Er ist unerrrmesslich reich. Wenn er meine Polexpedition unterrrstützt … Pearys Gedanken drehten sich wie Zahnräder, setzten etwas in Gang. Bevor Frau oder Mutter widersprechen konnten, sprang er auf und trat an Jesups Tisch. Der Geldsack fühlte sich sichtlich gestört. Peary sagte etwas von Mission und Berufung … Jesup wimmelte ihn kurzerhand ab.
— Er ist interrressierrrt. Josephine schwieg, und alles, was Muttern von sich gab, war taktlos. Schon dass sie dauernd Bertie statt Robert sagte …
— Bertie hat als Kind Fensterscheiben eingeschlagen, weil er dachte, dass dann ein Engel erscheint. Stimmt doch, Bertie? Bertie hat als Kind Vogeleier gesammelt und versucht, sie auszubrüten. Später hat er Vögel ausgestopft und Käfer aufgespießt. Im Winter bei offenem Fenster schlafen, minutenlang die Luft anhalten, 14 Zwetschkenknödel essen, immer ist ihm etwas eingefallen. Und stellen Sie sich vor, vor zehn Jahren hat man Bertie den Posten eines Schuldirektors angeboten. Aber er hat gesagt, Schuldirektor ist nichts für mich. Bertie will nicht sterben, ohne etwas Großes vollbracht zu haben.
— Nicht so laut, Mutter. Peary saß aufrecht da und sah, wie sich Jesup zu ihnen umdrehte.
— Oft habe ich gesagt, Bertie, bleib bescheiden, sei zufrieden mit deiner Stellung, aber Bertie wird Zivilingenieur, Berti geht nach Nicaragua und neuerdings zum Nordpol … Hat man das schon gehört? Nordpol? Dabei wurde er von der Navy eingestellt. Von fünfhundert Bewerbern …
— Zweihunderrrt!
— Von zweihundert Bewerbern hat man ihn ausgewählt, meinen Bertie.
Als Jesup das Restaurant verließ, blickte er sich nicht um. Seine Frau hob ihr Lorgnon und rümpfte die Nase.
— Hallo, Mister Teesupp! Josephine eilte dem Paar hinterher. Teesupp? Dem Mann wurden Jacke und Zylinder gereicht, und während Jo auf ihn einredete, ließ er sich beim Anziehen helfen. Jesups Frau verzog das Gesicht, und Jo sprach von menschenfeindlichen Gegenden, von Ängsten, die sie nachts im Wald befielen, und dass es Mut brauche, zum Nordpol zu gehen.
— Da kann einen das Hirschröhren noch so locken.
— Ihr Mann glaubt hoffentlich nicht, dass er am Nordpol Hirsche findet?
— Aber nein, ich spreche von dem Alphornröhren aus der Erdenmitte.
— Schön, dass wir geredet haben. Jesup und Gemahlin verabschiedeten sich.
Zurück am Tisch, wurde Jo von Fragen überhäuft:
— Was hast du gesagt? Wie hat er reagiert?
— Seine Gesichtsfarbe! So etwas habe ich noch nicht gesehen. Sie ist bläulich.
Peary hatte weder einen Blick für die angeschwemmten Muscheln noch für die Sonnenuntergänge. Netze flickende Fischer interessierten ihn genauso wenig wie die pittoresken Austernsammler. Und wenn Jo davon sprach, dass der Strandspaziergang wie das Aufwachen sei, wenn das Hirn noch auf Halbmast hing und man von einer Tapsigkeit umfangen wurde, sah er sie irritiert an.
Zu einer Hochzeitsreise gehört fraglos auch der Vollzug der Ehe, doch Berties zärtlichste Geste war das Abschlecken eines Tellers.
Sie hatten sich bisher nicht angerührt, stillschweigend lautete die Vereinbarung, das Ganze erst in Sea Bright in Angriff zu nehmen. Sie dachten an Vorstoß, Rückzug und dazwischen an ein ordentliches Scharmützel. Gleich einem Krieg fürchteten sie die Sache, und gleich einem Krieg sehnten sie sie auch herbei. Noch aber lagen die Parteien in ihren Befestigungen, noch trauten sie sich bei all dem mütterlichen Bertie-Sperrfeuer nicht aus ihren Gräben.
Am ersten Abend war die Begegnung mit Jesup dazwischengekommen, am zweiten hatten sie zu viel Wein getrunken, am dritten war Jo müde, am vierten machte ein Monolog von Pearys Mutter … Bertie hier, Bertie da … jede Lust zunichte, aber irgendwann ließ es sich nicht mehr aufschieben, musste zum Angriff geblasen werden. Geblasen? Na ja, Josephine war ängstlich wie jede junge Frau, der etwas Unbekanntes bevorstand, aber bereit fürs hirschige Röhren, doch dazu kam es nicht. Für Peary war es eine häusliche Pflicht, die generalstabsmäßig geplant und erledigt werden musste. Er ging in etwa so sensibel vor wie jemand, der mit Stahlwolle einem Topf zu Leibe rückt. Es lag mehr an seinem Bart denn an seiner Leidenschaft, dass Jos Gesicht nachher ein einziger roter Fleck war. Für sie hätte eine Übung bei Turnvater Jahn vermutlich mehr Eindruck hinterlassen als dieses kurze Punzieren.
So verlor Jo das, was als ihr wertvollster Besitz galt, die Unschuld. Sie kam sich vor wie eine entwertete Briefmarke, abgeschleckt und abgestempelt. Sie ahnte, dass Birnchen nur geheiratet hatte, um das Thema abhaken zu können. Trotzdem wollte sie es sich nicht eingestehen, dass ihr Mann ein Holzklotz war; immerhin war er imstande, schmalztriefende Liebesbriefe zu schreiben, sie zu umgarnen, und, sobald sie sich zurückzog, zu umschmeicheln. Im Grunde wusste sie jedoch, dass sie die Bertie-Mutter nie würde verdrängen können, nicht einmal sie, eine geborene Diebitsch mit adeligen Vorfahren und der Fähigkeit, Gerichte wie Erbsensuppe mit gezuckerten Bohnen und Mohn oder Kartoffelpüree in Suppe zuzubereiten. Zumindest war sie nicht mehr Teil der Fischereiflotte, wie man die unverheirateten Damen nannte, aber sollte sie deshalb mit 25 Jahren ihre Sehnsucht nach dem Röhren des Hirsches aufgeben?
Auf dem Weg in die Kajüte kam ihr der Koch entgegen, der mit einem Gemolkene-Kuh-Gesichtsausdruck aus der Toilette trat.
— Das Essen darf nur mit sauberen Händen angefasst werden. Dafür gibt es heißes Wasser und Seife. Josephine hielt ihm den Robbenschädel hin und blies durch geschlossene Lippen. Brrr. Außerdem will ich so rasch wie möglich wieder nach Amerika.
— Ich auch, Madame. Der kleine Dicke nickte.
Peary humpelte mit Storchenschritten über das Deck und winkte »seinen Huskys«.
— Kommt an Bord! Entladen! Die Inughuit gehorchten. Pizarro hatte mit dreihundert Mann das Millionenreich der Inka erobert, weil er Spiegel dabeihatte und man ihn für göttlich hielt. Der Spanier brachte den Eingeborenen Alkohol — auch eine Art Spiegel. Bei den Eskimos reichten Kekse. Eskimos? Ja, so nennen wir sie gelegentlich, aber nicht, um gegen das Diktat der politischen Korrektheit zu verstoßen, sondern weil sie die Bezeichnung selbst gebrauchen, egal, ob sie nun Fleischesser, Schneeschuhmacher oder sonst etwas bedeutet. Für grönländische Inuit ist Eskimo kein Schimpfwort, für uns auch nicht, während sich kanadische Ureinwohner lieber flüssiges Blei in die Ohren gießen lassen, als diese Bezeichnung zu akzeptieren.
Peary nannte sie Huskys, aber er sagte auch Oha, anstatt sich zu entschuldigen,...