E-Book, Deutsch, 464 Seiten, Gewicht: 1 g
Freiburghaus Königsweg oder Sackgasse?
2. Auflage 2015
ISBN: 978-3-03810-054-6
Verlag: NZZ Libro
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Schweizerische Europapolitik von 1945 bis heute
E-Book, Deutsch, 464 Seiten, Gewicht: 1 g
ISBN: 978-3-03810-054-6
Verlag: NZZ Libro
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dieter Freiburghaus - em. Prof. Dr., Studium der Mathematik, Ökonomie und Politik in Bern, St. Gallen und Berlin. Fellow am Wissenschaftszentrum Berlin. Leiter der Forschungsstelle Wissenschaft und Politik in Bern. Professor für Politik und Verwaltung am Hochschulinstitut für öffentliche Verwaltung (IDHEAP) in Lausanne für Europastudien. In den Europaseminaren Solothurn gab er sein Wissen an Praktiker aus Politik und Verwaltung weiter. Heute ist er publizistisch tätig.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politikwissenschaft Allgemein Politische Geschichte
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politikwissenschaft Allgemein Politische Studien zu einzelnen Ländern und Gebieten
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Internationale Beziehungen Europäische Union, Europapolitik
Weitere Infos & Material
Einleitung
Political Science without History has no root;
History without Political Science bears no fruit.
Herman Finer
Unter schweizerischer Europapolitik wollen wir hier die Gestaltung der Beziehungen der Schweiz zu den europäischen Gemeinschaften und zur Union verstehen– zu jenen Organisationen also, welche aus dem europäischen Integrationsprozess hervorgegangen sind. Dieser Prozess war eine Antwort auf den Zweiten Weltkrieg: Da man die Nationalstaaten als mitschuldig an diesem Unheil erachtete, sollten sie durch die Einbindung in ein neues politisches System gezähmt werden. Die Schweiz, welche weitgehend verschont geblieben war und sich in ihrer nationalen Identität sogar gestärkt fühlte, zeigte dafür kein Interesse. Aber auch sonst zog sie sich hinter die sogenannte integrale Neutralität zurück und beteiligte sich nicht an den neu entstehenden internationalen Organisationen. Doch eine Ausnahme machte sie: Sie wurde 1948 Gründungsmitglied der Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC), denn auf die Öffnung der Märkte war sie existenziell angewiesen. Im Übrigen schloss sie zu diesem Zwecke bereits damals eine grosse Zahl bilateraler Handelsverträge ab.
1951 wurde von Frankreich, Deutschland, Italien und den Beneluxstaaten die Montanunion gegründet– die erste supranationale Gemeinschaft. Die Schweiz blieb ihr fern, denn erstens produzierte sie kaum Kohle und Stahl, und zweitens betrachtete sie diesen sogenannten Schuman-Plan als ein französisches politisches Projekt zur Kontrolle der Ruhr. Mit dieser Haltung gehörte sie damals zur Mehrheit der europäischen Länder. Doch dann entwickelten die sechs Staaten der Montanunion die Idee eines umfassenden gemeinsamen Marktes auf der Basis einer Zollunion. Dies nun drohte zu einer beträchtlichen wirtschaftlichen Diskriminierung all jener zu führen, welche sich nicht daran beteiligten. Seite an Seite mit Grossbritannien und den skandinavischen Staaten bekämpfte deshalb die Schweiz diesen Plan. Die «Nicht-Sechs» entwarfen eine grosse Freihandelszone und hofften, Deutschland und die Niederlande auf ihre Seite zu ziehen. Doch dann entschieden sich Charles de Gaulle und Konrad Adenauer 1958 aus politischen Gründen für die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EWG. Diejenigen, die draussen vor der Tür blieben, bildeten daraufhin die kleine Freihandelszone EFTA. Die Schweiz beteiligte sich sehr aktiv an deren Aufbau, denn man hatte in Bern begriffen, dass nun die Zeit der multilateralen Handelspolitik gekommen war.
Doch schon kurze Zeit später wollte Grossbritannien der EWG beitreten– wiederum in erster Linie aus politischen Gründen. Für die neutralen EFTA-Staaten Österreich, Schweden und die Schweiz kam dies weiterhin nicht infrage. In enger Zusammenarbeit entwarfen sie den Plan für eine Assoziation mit der EWG. Sie wurden sich aber rasch bewusst, dass eine solche Teilnahme am Gemeinsamen Markt nur um den Preis einer institutionellen Satellisierung zu haben war, und waren deshalb erleichtert, als de Gaulle zum Beitritt Grossbritanniens Nein sagte und damit auch die Assoziationspläne hinfällig wurden. Die handelspolitische Spaltung Westeuropas bestand also weiter. Überwunden werden konnte sie erst Anfang der siebziger Jahre, als nach dem Rücktritt des Generals Grossbritannien, Dänemark und Irland der Gemeinschaft beitraten und die andern sieben EFTA-Staaten mit ihr Freihandelsabkommen abschlossen. Die Schweiz spielte dabei eine führende Rolle. Inzwischen war sie auch dem Europarat und dem GATT beigetreten, ihre Beziehungen zur Völkerfamilie hatten sich also normalisiert. Als Nichtmitglied der Gemeinschaft war sie immer noch in der guten Gesellschaft kleiner, wohlhabender Länder.
Die Krisen der siebziger Jahre brachten den Integrationsprozess beinahe zum Erliegen. Auf der Basis der Entwicklungsklausel des Freihandelsabkommens konnte die Schweiz ihre Beziehungen zur Gemeinschaft dennoch in kleinen Schritten ausbauen. Die achtziger Jahre wurden dann wieder zu einer Zeit unerwarteter Dynamik: Zuerst lancierte die Gemeinschaft das Binnenmarktprogramm, dann wollte sie in Richtung einer Währungs- und einer politischen Union weiterschreiten. Der neue Integrationsschub drohte die EFTA-Staaten wiederum wirtschaftlich zu diskriminieren. Sie versuchten zuerst, die neuen Hürden mittels konventioneller Abkommen aus dem Weg zu räumen. Doch dieses schwerfällige Verfahren liess sie hinter der Binnenmarktdynamik herhinken. Delors schlug deshalb 1989 eine neue Assoziation mit «gemeinsamen Entscheidungs- und Verwaltungsorganen» vor: den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR). Trotz erheblicher Bedenken liess sich auch die Schweiz auf Verhandlungen ein, denn eine völlige Isolierung konnte sie sich nicht leisten.
Zur selben Zeit liessen die Ereignisse von 1989 erahnen, dass Europa künftig mit Problemen einer neuen Grössenordnung konfrontiert sein würde. Die EWR-Verhandlungen verliefen äusserst beschwerlich, die EFTA musste ihre Positionen eine nach der andern preisgeben. Die Gemeinschaft verlangte weitgehende Anpassungen an ihr Recht, war jedoch nicht bereit, ihren Partnern eine wirksame Mitbestimmung einzuräumen. Einige EFTA-Staaten warfen deshalb das Steuer herum und beantragten den Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft EG. Damit wurde die EFTA-Position noch schwächer, das Abkommen noch ungünstiger. Auch der schweizerische Bundesrat gelangte deswegen zur Überzeugung, der EWR tauge höchstens noch als Übergangslösung, und stellte ebenfalls ein Beitrittsgesuch. Doch diesen Schwenk vollzog er nach helvetischen Massstäben zu rasch, was ein heilloses Durcheinander der Positionen zur Folge hatte. Das Resultat war das Scheitern des EWR in der Abstimmung vom 6.Dezember 1992.
Die Schweiz fand sich in ziemlich isolierter und unbequemer Position wieder. Die wirtschaftliche Diskriminierung würde nun nicht mehr nur von der Gemeinschaft, sondern auch vom EWR ausgehen. Der Bundesrat legte ein umfangreiches Programm zur marktwirtschaftlichen Erneuerung vor, denn die Schweizer Wirtschaft zeigte Schwächezeichen. Da die Schweiz inzwischen keine Partner mehr hatte, blieb ihr für den Abbau von Hürden zur EG nichts anderes übrig, als es erneut mit bilateralen sektoriellen Abkommen zu versuchen. Nach verständlichem Zögern liessen sich die Gemeinschaft und später die Union darauf ein, denn die Schweiz war nach wie vor einer ihrer wichtigsten Handelspartner. Die Verhandlungen wurden schwierig, doch man tastete sich an Lösungen heran, und nach der Jahrtausendwende sind zwei grössere Pakete von sehr nützlichen Verträgen zustande gekommen. Dabei musste die Schweiz allerdings verschiedene Konzessionen machen, welche sie früher weit von sich gewiesen hätte. Doch die Wirtschaft war zufrieden, und die Bevölkerung hat zu dieser Politik mehrmals Ja gesagt. Die Beitrittsdiskussion, welche während der neunziger Jahre hohe Wellen geworfen hatte, ist längst abgeflaut. Doch inzwischen ist Sand ins Getriebe des Bilateralismus geraten, denn erstens verlangt die EU von der Schweiz, alle Abkommen in einen dem EWR vergleichbaren institutionellen Rahmen zu stellen, und zweitens führt die Annahme der Masseneinwanderungsinitiative am 9.Februar 2014 die bisherige Europapolitik in die Sackgasse.
Diese Geschichte wollen wir hier erzählen. Nicht dass es dazu keine Literatur gäbe, doch soweit wir wissen, fehlt eine gleichmässig dichte Gesamtdarstellung. Wir hoffen, diese Lücke füllen zu können. Bei wichtigen Weggabelungen werden wir innehalten und fragen, wie die damaligen Entscheide zustande gekommen sind. Sie wurden in aller Regel von gut informierten und verantwortungsbewussten Leuten gefällt und lassen sich also weitgehend nachvollziehen– insbesondere dann, wenn man die Umstände, den Zeitgeist und die damaligen Interessen der Akteure in Rechnung stellt und sie nicht nur aus heutiger Sicht beurteilt.
Doch die Erzählung einer solchen Geschichte kann nicht nur darin bestehen, alles, was man weiss und gefunden hat, chronologisch aneinanderzureihen– ein solcher Text wäre weder lesbar noch verständlich. Man lässt also weg und hebt hervor, man stellt Zusammenhänge her und verweist auf Hintergründe. Kurz, man gibt der Sache eine Struktur und einen Sinn. Wie man das macht, ist eine Frage der wissenschaftlichen Herangehensweise, der Methodologie. Doch welcher? Wir bewegen uns hier auf der Grenzlinie zwischen Geschichts- und Politikwissenschaft und begeben uns einmal auf dieses und dann wieder auf jenes Territorium. Ausserdem brauchen wir einige ökonomische und juristische Kategorien und Erkenntnisse, und auch die «Internationalen Beziehungen» sowie die «Integrationsforschung» ziehen wir zu Rate. Dass bei einer solchen Herangehensweise eine einzige Standardmethode nicht zum Ziel führen kann, ist offensichtlich, wir werden vielmehr in pragmatischer Weise verschiedene Hilfsmittel und Erkenntnisse der erwähnten Disziplinen verwenden. Um der damit drohenden Beliebigkeit Schranken zu setzen, binden wir die Geschichte in einen gedanklichen Rahmen ein. Interessierte Leserinnen und Leser finden ihn in der ersten Auflage dieses Buches beschrieben.
Doch dann bleibt die Frage, ob eine solche Rekonstruktion der Ereignisse alles ist, was man zur schweizerischen Europapolitik sagen kann. Gibt es nicht auch tiefer liegende Gründe dafür, dass die Schweiz diesen Weg gegangen ist und heute in Bezug auf Europa wieder einen Sonderfall darstellt– gerade noch zu vergleichen mit Monaco, Serbien oder Weissrussland? Solche Ursachen werden oft diskutiert: Die einen meinen, überholte Mythen wie Neutralität und Souveränität würden die Schweiz daran hindern, ihre Situation richtig zu...




