Freud / Métraux | Unglaube auf der Akropolis | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 120 Seiten

Freud / Métraux Unglaube auf der Akropolis

Ein Urtext und seine Geschichte

E-Book, Deutsch, 120 Seiten

ISBN: 978-3-8353-4582-9
Verlag: Wallstein
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Erstmals aus dem Nachlass veröffentlicht: der Urtext eines wichtigen Essays von Sigmund Freud.

Sigmund Freud beendete im Januar 1936 einen Essay für die geplante Festschrift zum 70. Geburtstag von Romain Rolland. Dieser Essay wurde ein Jahr danach im 'Psychoanalytischen Almanach' veröffentlicht. Von diesem Text existiert eine zweite, ihrem Umfang nach erweiterte, bisher unveröffentlichte Fassung, die unter dem Titel 'Unglaube auf der Akropolis' aus dem Nachlass gehoben, nun erstmals veröffentlicht wird. Darin erinnert sich Freud an die im Spätsommer 1904 mit seinem Bruder Alexander in Athen besuchte Akropolis und an die ihm nicht erklärlichen Entfremdungsgefühle, die ihn mitten in den bewunderten Ruinen überfallen hatten. Am Ziel seiner Reise mochte er nicht so recht glauben, es wirklich bis zur Akropolis geschafft zu haben - als einer, dessen Vater mit ehrlicher Arbeit es nie so weit gebracht hatte wie seine von Triest nach Griechenland aufgebrochenen Söhne.
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Unglaube auf der Akropolis
Die nachstehende Begebenheit hat sich vor einem Menschenalter, im Jahr des Kriegs zwischen Rußland und Japan, mit mir selbst ereignet. Ich habe sehr oft an sie gedacht und sie nie recht verstanden. Ich pflegte damals alljährlich Ende August oder Anfangs September mit meinem jüngeren Bruder eine Ferienreise anzutreten, die mehrere Wochen dauerte und uns nach Rom, irgend einer Gegend des Landes Italien oder an eine Küste des Mittelmeers führte. In diesem Jahr erklärte mein Bruder, seine Geschäfte gestatteten ihm keine längere Abwesenheit, er könnte höchstens eine kurze Woche wegbleiben, wir müßten unser Reiseziel einschränken. So beschlossen wir, über Triest nach der Insel Korfu zu fahren, um dort unsere wenigen Urlaubstage zu verbringen. In Triest machte der Bruder einen Besuch bei einem Geschäftsfreund, der dort ansässig war, ich begleitete ihn. Nach Erledigung der geschäftlichen Interessen erkundigte sich der freundliche Mann nach unseren weiteren Absichten und als er hörte, daß wir nach Korfu wollten, riet er uns dringend ab. »Was wollen Sie um diese Zeit dort machen? Es ist so heiß, daß Sie nichts unternehmen können. Gehen Sie doch lieber nach Athen, der Lloyddampfer geht nachmittags ab, läßt Ihnen drei Tage in der Stadt, Zeit genug, um das Wichtigste zu sehen, und holt Sie wieder auf seiner Rückfahrt. Das wird viel lohnender und angenehmer sein.« Als wir den Triestiner verlassen, waren wir beide in merkwürdig übler Laune. Wir diskutirten den vorgeschlagenen Plan, fanden ihn durchaus unzweckmäßig, sahen auch Hindernisse gegen seine Ausführung, unter anderem, daß wir ja keine Pässe hatten um in Griechenland eingelassen zu werden und irrten die Stunden bis zur Eröffnung des Lloydbureaus entschlußlos und misvergnügt in der Stadt herum. Als die Zeit gekommen war gingen wir an den Schalter und lösten Fahrkarten nach Athen, wie selbstverständlich ohne uns um die angeblichen Schwierigkeiten zu bekümmern, ja ohne die Gründe für unsere Entscheidung gegen einander ausgesprochen zu haben. Dies Benehmen war doch recht sonderbar. Wir anerkannten später, daß wir den Vorschlag, nach Athen anstatt nach Korfu zu gehen, sofort und bereitwillig angenommen hatten. Warum hatten wir also die Zwischenzeit bis zur Öffnung der Schalter in so übler Stimmung verbracht und uns Schwierigkeiten und Abhaltungen vorgespiegelt? Als ich dann am Nachmittag nach der Ankunft auf der Akropolis stand und mein Blick die Landschaft umfaßte, kam mir plötzlich der merkwürdige Gedanke: Also existirt das wirklich, wie wir’s in der Schule gelernt haben. Genauer beschrieben, die Person, die eine Äußerung tat, sonderte sich weit schärfer als sonst merklich von einer anderen, die diese Äußerung wahrnahm, und beide waren verwundert, obwohl nicht über das Gleiche. Die eine benahm sich, als müßte sie unter dem Einfluß einer unzweifelhaften Beobachtung an etwas glauben, dessen Realität ihr bis dahin unsicher erschienen war. Mit einer mäßigen Übertreibung: als ob jemand, entlang des schottischen Loch Ness spazierend, plötzlich den an’s Land gespülten Leib des vielberedeten Ungeheuers vor sich sähe und sich zum Zugeständnis gezwungen fände: Also existirt sie wirklich, die Seeschlange, an die wir nicht geglaubt haben. Die andere Person war mit Recht erstaunt, weil sie nicht gewußt hatte, daß die reale Existenz von Athen, der Akropolis und dieser Landschaft jemals ein Gegenstand des Zweifels war. Sie war eher auf eine Äußerung der Entzückung vor Hochschätzung dieses Monuments vorbereitet. Die beiden Phänomene gehören wahrscheinlich zusammen. Das erstere erscheint wie die Vorbereitung für’s spätere. Es mag leichter verständlich sein und uns zum Verständnis des anderen verhelfen. Ich meine, es ist auch nur der Ausdruck einer Ungläubigkeit. »Wir sollen Athen besuchen? Aber das geht ja gar nicht, das wird zu schwer sein.« Die begleitende Verstimmung ist vielleicht die Äußerung des Bedauerns, daß es nicht geht. Es wäre so schön gewesen! Und dann merkt man, es ist ein Fall von »too good to be true«, wie er uns so geläufig ist. Ein Fall von jenem Unglauben, der sich häufig zeigt, wenn man durch eine glückbringende Nachricht überrascht wird wie man einen Treffer gemacht, einen Preis bekommen hat, für ein Mädchen, daß der heimlich geliebte Mann bei den Eltern als Bewerber aufgetreten ist u. dgl. Ein Phänomen konstatiren, läßt natürlich sofort die Frage nach seiner Verursachung entstehen. Es ist in der Tat befremdend, daß man den Versuch machen sollte, ein Stück der Realität abzulehnen – das will ja der Unglaube – nicht nur wenn es Unlust bringt, denn darauf ist man vorbereitet, sondern auch wenn es im Gegenteil hohe Lust verspricht. Ein paradoxes Verhalten! Ich erinnere mich, daß ich bereits früher einmal den ähnlichen Fall jener Menschen behandelt habe, die »am Erfolge scheitern«. Es wird diesmal ähnlich zugehen, eine innere Versagung an Stelle der äußeren. Die innere Versagung heißt einen, an der äußeren festhalten. Man gönnt sich das Glück nicht. Warum nicht? Weil, lautet die Antwort in einer Reihe von Fällen, man sich vom Schicksal nichts so Gutes erwarten kann. Also wiederum das »too good to be true«, die Äußerung eines Pessimismus, von dem soviel von uns ein großes Stück in sich zu beherbergen scheinen. In anderen Fällen ist es ganz wie bei denen, die am Erfolg scheitern, ein Schuld- oder Minderwertsgefühl, das man übersetzen kann: Ich verdiene es nicht, ich bin eines solchen Glückes nicht würdig. Aber keine Motivirungen sind im Grunde das nämliche. Die eine ist nur eine Projektion der anderen, denn das Schicksal, von dem man nur schlechte Behandlung erwartet, ist, wie längst bekannt, eine Materialisation des strengen Überichs, unser Pessimismus eine Projektion unseres Gewissens. Somit, meine ich, ist unser auffälliges Benehmen in Triest erklärt. Wir konnten nicht glauben, daß uns die Freude bestimmt sein sollte, Athen zu sehen. Daß das Stück Realität, das wir ablehnten, zunächst nur eine Möglichkeit war, bestimmte die Eigentümlichkeiten unserer damaligen Reaktion. Als wir dann auf der Akropolis standen, war die Möglichkeit zur Wirklichkeit geworden, und die Reaktion äußerte sich in veränderter Form aber weit deutlicher erkennbar von Neuem. Ihr richtiger, unentstellter Ausdruck hätte lauten sollen: Ich hätte wirklich nicht gedacht, daß es mir je gegönnt sein würde, Athen mit meinen eigenen Augen zu sehen, wie es doch jetzt der Fall ist. Wenn ich mich erinnere, welch glühende Sehnsucht zu reisen und die Welt zu sehen, mich in den Gymnasialjahren beherrschte, und wie spät sie sich in Erfüllung umzusetzen begann, verwundere ich mich dieser späten Nachwirkung – ich war damals 48 Jahre alt – nicht. Ich habe meinen um ein Dezennium jüngeren Bruder nicht befragt, ob er Ähnliches wie ich verspürt. Eine gewisse Scheu lag über dem ganzen Erlebnis, sie hatte bereits in Triest unseren Gedankenaustausch behindert. Wenn wir aber als den Sinn meines »Einfalls« auf der Akropolis richtig erraten haben, er drücke meine freudige Verwunderung darüber aus, daß ich mich an diesem Ort befinde, so wendet sich unser Interesse zur Frage, warum dieser Sinn im Einfall eine so entstellte und entstellende Einkleidung gefunden hat. Der wesentliche Inhalt des Gedankens ist auch, in der entstellten Äußerung erhalten geblieben, ein Unglaube. (»Nach dem Zeugnis meiner Sinne befinde ich mich jetzt auf der Akropolis, allein ich kann es nicht glauben.«) Dieser Unglaube, dieser Zweifel an einem Stück der Realität, wird in der Äußerung aber in die Vergangenheit gerückt und von meiner Beziehung zur Akropolis auf etwas anderes, auf die Existenz der Akropolis selbst, verschoben. So kommt etwas zustande, was der Behauptung gleichkommt, ich hätte früher an der wahren Existenz der Akropolis gezweifelt, was die Erinnerung aber als unrichtig, ja unmöglich ablehnt. Man kann versuchen, sich in den Umsetzungsprozeß weiter zu vertiefen. Das Ursprüngliche mag eine Empfindung gewesen sein wie: an dieser Situation ist etwas unglaubwürdig, etwas unwirklich. Die Situation besteht aus meiner Person, der Akropolis und meiner Wahrnehmung derselben. Ich kann diesen Zweifel nicht gut unterbringen, ich kann ja meine Sinneseindrücke von der Akropolis nicht bezweifeln. Aber ich erinnere mich, daß ich in ferner Vergangenheit an etwas gezweifelt habe, was mit eben dieser Akropolis zusammenhängt. Also finde ich die Auskunft, den Zweifel in die Vergangenheit zu versetzen. Aber ich erinnere nicht einfach, woran ich damals gezweifelt, nämlich ob ich je die Akropolis sehen würde, sondern der Zweifel ändert seinen Inhalt, ich behaupte jetzt, daß ich damals an der wirklichen Existenz der Akropolis gezweifelt hatte. Das kann nur unter dem Einfluß der gegenwärtigen Situation möglich geworden sein, in ihr muß sich ein solcher Zweifel an einer Realität finden lassen. Kurz, die ganze anscheinend verworrene und so schwer darstellbare psychische Situation klärt sich durch die Annahme, daß ich auf der Akropolis stehend einen Moment lang das Gefühl hatte: was ich da sehe, ist nicht wirklich – man nennt das ein Entfremdungsgefühl – und daß ich einen Versuch machte, dieses Gefühl abzuwehren. Es gelang auf Kosten einer falschen Aussage über die Vergangenheit.     II   Die synthetische Funktion   Das Ergebnis vorstehender Untersuchung ist also, ich hätte in jenem Moment auf...


Métraux, Alexandre
Alexandre Métraux, (geb. 1945), studierte und promovierte in Basel und ist Mitglied der Archives Herni Poincaré an der Université de Lorraine (Campus Nancy). Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Wissenschaftsgeschichte, die Geschichte wissenschaftlicher Medien und Instrumente sowie Theorien des Sammelns und der Sammlungen.

Freud, Sigmund
Sigmund Freud (1856-1939) ist als Kulturtheoretiker, Religionskritiker und Begründer der Psychoanalyse einer der einflussreichsten Denker des 20. Jahrhunderts.

Sigmund Freud (1856-1939) ist als Kulturtheoretiker, Religionskritiker und Begründer der Psychoanalyse einer der einflussreichsten Denker des 20. Jahrhunderts.

Alexandre Métraux, (geb. 1945), studierte und promovierte in Basel und ist Mitglied der Archives Herni Poincaré an der Université de Lorraine (Campus Nancy). Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Wissenschaftsgeschichte, die Geschichte wissenschaftlicher Medien und Instrumente sowie Theorien des Sammelns und der Sammlungen.


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