E-Book, Deutsch, Band 2107, 64 Seiten
Reihe: John Sinclair
Freund John Sinclair 2107 - Horror-Serie
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-7325-7349-3
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Das Totentaxi
E-Book, Deutsch, Band 2107, 64 Seiten
Reihe: John Sinclair
ISBN: 978-3-7325-7349-3
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Das kleine Mädchen war müde. Sein dunkler Lockenschopf verschmolz mit den Schatten, die sich rings um das Kopfkissen ausbreiteten. Die Kleine rieb sich die Augen und zog sich die Decke mit den Sternen darauf bis unter das Kinn. Ihr letzter Gedanke vor dem Einschlafen galt dem Märchen, das ihr ihre Mutter bis eben noch vorgelesen hatte.
Mom oder Dad - an besonderen Tagen sogar beide - saßen oft bei ihr auf der Bettkante, das Märchenbuch in der Hand, und erzählten ihr, dass es keine Geister und Gespenster gäbe.
Doch das stimmte nicht ...
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Annabelle Holden konnte kaum eingeschlafen sein, als sie ihre Augen wieder aufschlug. Etwas hatte sie geweckt. Möglicherweise ein Geräusch. Aber es war nicht die Zeit, an der die ausgeblühten Stockrosen von außen über ihr Fensterglas schrappten. Also musste es etwas anderes gewesen sein. Vielleicht die Stimmen von unten? Mom hatte ihr gesagt, dass einige Freunde auf einen Sprung vorbeikommen würden. Vermutlich einer von Dads Kollegen oder die in Annabelles Augen leicht verrückte Nachbarin Sally Prokofsky mit ihrem neuen Freund, von dem behauptet wurde, er sei Lehrer. Das neunjährige Mädchen lauschte in die Stille hinein. Annabelle lauschte und horchte und traute sich nicht, die haselnussbraunen Augen wieder zu schließen, bis sie tatsächlich erneut ein Geräusch vernahm. Das leise Knacken war aus ihrem Zimmer gekommen, so viel stand schon mal fest. Annabelle wusste auch, welches Möbelstück diesen Laut verursachte. Das herauszufinden war leicht, denn es gab außer ihrem Bett, dem kleinen Nachtschrank an ihrer Seite und der Kommode an der Wand neben der Tür nur noch ein einziges Ding in ihrem dunklen Zimmer. Den alten Kleiderschrank. Ein furchtbar klobiges, wurmstichiges Monstrum, das Mom schon so oft auf den Müll hatte aussondern wollen, doch Dad hatte stets darauf bestanden, dass der Schrank nicht wegkäme. Er sei ein altes Erbstück von … hier folgte dann für gewöhnlich der Name eines männlichen Vorfahren, den niemand aus der Familie mehr kennengelernt hatte, einschließlich Dad selbst. Annabelle Holden hatte sich mit dem Möbelstück abgefunden. Viel befand sich sowieso nicht darin, was sie interessierte. Sie befand sich noch nicht in dem Alter, in dem Klamotten für Mädchen einen ungeheuren Stellenwert einnahmen. Aber sie kannte das Geräusch, wenn sie oder Mom eine der Türen öffnete. Das leise Knacken, gefolgt von einem Knarren, wenn die Tür weiter aufschwang. Die Kleine lauschte weiter. Wenn sie sich richtig doll konzentrierte, konnte sie tatsächlich aus dem unten gelegenen Wohnzimmer Stimmen hören. Die ihrer Mom war dabei – Annabelle mochte das Lachen ihrer Mutter – und ja, tatsächlich die etwas aufdringliche Stimme von Sally, ihrer Nachbarin. Es waren nicht die Stimmen selbst, die Annabelle Angst einflößten, sondern die Tatsache, dass ihre Eltern sie möglicherweise nicht hören würden, wenn hier oben etwas passierte. Etwas. Was das sein sollte, wusste Annabelle nicht. Aber sie wusste auch, dass sich Schränke nicht von allein öffneten. Für gewöhnlich. Ihrer hatte das jedenfalls bisher noch nie getan. Und während sie so dalag und nachdachte, hörte sie tatsächlich das Knarren der Schranktür. Sie öffnete sich. Leise, Zentimeter für Zentimeter, bis zum Anschlag. Dann herrschte Stille. Natürlich, die Stimmen waren noch immer da, erzählten von einer ausgelassenen Partystimmung im Erdgeschoss. Und das Pochen ihres Herzens, das war natürlich ebenfalls vorhanden. Annabelle hörte den Muskel laut unter ihren Rippen schlagen. Sie traute sich nicht, sich zu bewegen. Nicht einmal einen Zentimeter. Sie hatte Angst davor, ein verräterisches Rascheln mit ihrem Bettzeug zu verursachen. Stocksteif blieb sie liegen. Ein platschendes Geräusch war zu hören. So als hätte sich jemand oder etwas aus ihrem Schrank heraus auf den Zimmerfußboden gleiten lassen. Ein eisiges Gefühl jagte dem kleinen Mädchen über den Rücken. Annabelles Blick suchte verzweifelt den schmalen Lichtschlitz, der für gewöhnlich unter ihrer Zimmertür hindurchdrang. Er war nicht vorhanden. Was bedeutete, dass Mom das Licht im oberen Korridor beim Hinuntergehen ausgeschaltet hatte. Das tat sie manchmal, wenn sie in Gedanken war. Annabelle überlegte für einen kurzen Augenblick, ihre Bettdecke mit einem Ruck zurückzuschlagen, aus dem Bett zu springen und zur Tür zu rennen. Aber sie verwarf den Gedanken gleich wieder. Sie redete sich ein, dass sie die Tür verfehlen könnte, so ganz ohne einfallendes Licht. Die Wahrheit hingegen war eine andere: Sie traute sich nicht. Sie traute sich nicht, weil sie Angst hatte. Und zwar nicht zu knapp. Jemand war bei ihr. In ihrem Zimmer. Und er kam näher. Annabelle wusste das. Sie vernahm das leichte Kratzen und Scharren, so als ob sich etwas mit prankenbewehrten Klauen über den Boden bewegte. Auf ihr Bett zu. Und damit auch auf sie! Die Lippen des Mädchens bebten. Und das, wo sie sie so fest aufeinander gepresst hatte, damit ihre Zähne nicht aufeinander klapperten. Ein Windhauch in ihrem Zimmer. Ganz kurz nur. Ein leises Huschen. Jemand stand vor ihrem Bett. Jemand, der kaum größer als sie selbst sein konnte. Selbst gegen die Dunkelheit zeichnete sich sein schattenhafter Umriss ab. Stoff raschelte bei der Bewegung der Gestalt. Jetzt hatte sie sich auf die Bettkante gesetzt. Annabelle hatte die Bewegung wahrgenommen. Ihr Herz krampfte sich zusammen. Schweiß trat auf ihre Stirn, während ihr Atem schneller ging. »Hab keine Angst.« Annabelle riss ihre rechte Faust vor den Mund und biss hinein, um nicht laut aufzuschreien. Sie wusste, dass sie nicht träumte. Sie wusste, dass diese Stimme real war. »Ich will dir nichts tun«, fuhr der fremde Besucher fort. Du lügst, dachte Annabelle. Wer so sprach, so lauernd, so falsch, der log immer. Sie spürte, dass sie etwas tun musste. Die Ungewissheit begann zusehends unerträglich zu werden. Annabelle löste ihre Hand von ihrem Mund und ließ den Arm langsam nach rechts wandern. Dorthin, wo sich der Nachttisch mit der kleinen Stehlampe darauf befand. Aber sie durfte sich nichts anmerken lassen. Nicht das kleinste Rascheln durfte sie verraten. Dann legte sich plötzlich eine Hand auf ihren Kopf. Jedenfalls nahm sie an, dass es eine Hand war. Sie fühlte sich kalt und schwer an. »Schrei nicht«, mahnte die Stimme, die sich so anhörte, als ob jemand mit einem trockenen Schwamm über eine Hauswand scheuerte. Annabelle schüttelte aus einem Reflex heraus den Kopf, was ihr kaum gelang, da die Hand – oder was auch immer – darauf Tonnen zu wiegen schien. Dann jedoch wich der Druck von ihr. »So ist es gut«, sagte die Stimme, die nun einen Teil ihres lauernden Untertons verloren zu haben schien. Die freie rechte Hand des Mädchens tastete sich weiter vor. Die feingliedrigen Finger krochen über den Rand ihrer Matratze, bis sie den Nachttisch erreicht hatten. Da war das Kabel der Lampe. Annabelle wusste, dass sie nur mit ihren Fingern daran entlangfahren musste, um den Schalter zu erreichen. Eine Bewegung, die sie inzwischen im Schlaf beherrschte. Die Hand des Unheimlichen strich ihr sanft über das Haar. Plötzlich spürte Annabelle einen kurzen, scharfen Schmerz dicht hinter ihrem linken Ohr. Sie gab einen seufzenden Laut von sich, dann war der Schreck vorüber. Sie spürte nichts mehr, außer vielleicht ein wenig Kälte, so als ob ihr jemand einen Eiswürfel gegen die Haut gedrückt hätte. »Du bist ein tapferes Mädchen«, sagte die Stimme. Es folgte ein Laut, der sich wie ein heiseres Lachen anhörte. Ein Kichern vielleicht. Aber es klang nicht nett. Es hörte sich irgendwie höhnisch an. Annabelle hatte kurz in ihrer Bewegung innegehalten. Jetzt krochen ihre Finger weiter am Lampenkabel entlang. Die schuppige Hand löste sich nun vom Kopf des Mädchens, wanderte an seiner Wange hinunter und klatschte schlaff und schwer auf die Bettdecke. »Eines Tages wirst du …« Annabelle hielt es nicht mehr aus. Sie presste ihren Daumen auf den Schalter. Ein helles Klicken war zu hören. Licht durchflutete den Raum und erfasste ohne Gnade das, was in dieser Nacht zu ihr gekommen war. Die Augen des Mädchens weiteten sich vor Entsetzen. Annabelle öffnete ihren Mund zu einem gellenden Schrei! ? Nein, ihm fiel nicht das Glas aus der Hand, das er gerade bis zum Rand mit Sekt gefüllt hatte. Thomas Holden hatte sogar noch Zeit, es auf dem Couchtisch vor sich abzustellen. Er verschüttete nicht einmal etwas, als er losrannte, die Stimmen hinter sich missachtend. Holden hatte eine starke Bindung zu seiner Tochter. Und die war es, die ihm sagte, ihm förmlich zuschrie, dass dort oben etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Zwei Sekunden später war er bei der Treppe, flog geradezu die Stufen hinauf und erreichte das obere Ende in Rekordgeschwindigkeit. Das Zimmer seiner Tochter lag direkt vor ihm. Mit einer energischen Bewegung drückte er die Klinke runter und öffnete die Tür. Holdens Blick erfasste ein Bild, das genau genommen nicht existieren durfte. Seine Tochter Annabelle saß kerzengerade in ihrem Bett, die Augen weit aufgerissen und die Bettdecke mit beiden Händen so fest umklammernd, dass ihre Fingerknöchel beinahe schneeweiß waren. Sie starrte auf eine Gestalt, die in der Mitte des Zimmers stand, kaum anderthalb Meter groß und in einen blutroten Kapuzenmantel gehüllt. Daraus lugte ein Gesicht hervor, dessen grüne Haut mit Schuppen und Pusteln übersät war. Zwei eiskalte, hellblaue Augen fixierten Holden, der noch immer die Türklinke in der Hand hielt, hasserfüllt. Annabelle schrie weiter. So hoch und schrill, dass es in den Ohren schmerzen musste, doch Holden hatte nur Augen für die grässliche Gestalt, die in das Zimmer seiner Tochter eingedrungen war. »Wer, zum Teufel, sind Sie?«, schnappte der Familienvater. Seine Worte gingen im Lärm des schreienden Mädchens unter. Allerdings war sich Holden...