E-Book, Deutsch, 277 Seiten
Freund / Lehr Dankbarkeit in der Psychotherapie
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-8444-2893-3
Verlag: Hogrefe Publishing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ressource und Herausforderung
E-Book, Deutsch, 277 Seiten
ISBN: 978-3-8444-2893-3
Verlag: Hogrefe Publishing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Das Thema Dankbarkeit erhält in der Psychologie zunehmend Aufmerksamkeit, weil es vielversprechende Entwicklungen in sich vereint: die Bedeutung positiver Emotionen im zwischenmenschlichen Bereich und die Ausrichtung auf Ressourcen. Viele Studien belegen die hohe Relevanz von Dankbarkeit für die psychische Gesundheit. Insbesondere die Positive Psychologie betont die gesundheitsfördernden Potenziale einer dankbaren und wertschätzenden Grundhaltung im Leben.
Das vorliegende Buch fasst erstmalig im deutschsprachigen Bereich den aktuellen Wissensstand rund um Dankbarkeit zusammen. Es stellt diagnostische Verfahren zur Erfassung von Dankbarkeit vor und beschreibt, wie Dankbarkeit im Rahmen einer Psychotherapie gefördert werden kann. Das von den Autoren entwickelte internetbasierte Dankbarkeitstraining zeigte sich in mehreren Studien wirksam in der Reduktion von Sorgen, Grübeln und Depressivität. Sämtliche Arbeitsmaterialien liegen mit diesem Buch erstmals als Arbeits- und Info-Blätter vor, die in Ausschnitten oder als strukturiertes Programm genutzt werden können. Kopierfreundliche Arbeitsmaterialien inklusive dreier Audiotracks mit Imaginationsübungen sind auf der beiliegenden CD-ROM enthalten.
Das Thema Dankbarkeit hat jedoch auch seine Schattenseiten und Herausforderungen. So gilt es beispielsweise für Psychotherapeuten, angemessen auf dankbarkeitsrelevante Situationen in der therapeutischen Beziehung (z. B. Geschenke, Abschied, Übertragung) zu reagieren. Ebenso ist es wichtig, die Indikationsgrenzen und „Nebenwirkungen“ von Dankbarkeitsinterventionen zu kennen. Die Autoren zeigen anhand zahlreicher Fallbeispiele, wie Psychotherapeuten mit dem Thema Dankbarkeit reflektiert umgehen und ganz praktisch ihre Handlungsmöglichkeiten erweitern können.
Zielgruppe
Ärztliche und Psychologische Psychotherapeuten, Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie, Fachärzte für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Klinische Psychologen, Gesundheitswissenschaftler, Psychologische Berater, Pädagogen, Studierende und Lehrende in der psychotherapeutischen Aus-, Fort- und Weiterbildung.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
Weitere Infos & Material
|16|2 Was ist Dankbarkeit? – Eine interdisziplinäre Annäherung
Henning Freund
2.1 Philosophische Grundlagen
Übersicht
Die philosophische Auseinandersetzung mit Dankbarkeit hat eine lange Tradition. Sie reicht von den tugendethischen Entwürfen der Antike bis zu aktuellen sozial- und moralphilosophischen Debatten. Diese umfangreiche Begriffsgeschichte ist für Psychologen und Psychotherapeuten, die sich dem Thema Dankbarkeit nähern, in mehrfacher Hinsicht eine Bereicherung. Sie können besonders von der konzeptuellen Differenziertheit und den Überlegungen zur moralischen Begründung von Dankbarkeit profitieren.
2.1.1 Moralische Begründung von Dankbarkeit
Der griechische Philosoph Aristoteles betrachtete Dankbarkeit als ethische Pflicht. Doch genau dieser Pflichtcharakter hielt ihn davon ab, Dankbarkeit in seine Aufzählung der bedeutendsten Tugenden aufzunehmen (Aristoteles, 2017/ca. 4. Jh. v. Chr.). Dankbarkeit hatte für ihn einen geringeren Wert als der Großmut des Gebens. Er stellte mehr ihren verpflichtenden und belastenden Charakter heraus. Während später Cicero Dankbarkeit als die „Mutter aller Tugenden“ bezeichnen wird, spielt sie für Aristoteles aufgrund der potenziellen Abhängigkeitsgefahr eher die Rolle eines „Dienstmädchens“ (Gulliford, Morgan & Kristjánsson, 2013, S.?312). Mit Aristoteles leuchtet schon ganz früh in der abendländischen Philosophie eine gewisse Ambivalenz in der Bewertung von Dankbarkeit auf. Diese Skepsis begleitet als eine kontinuierliche leise Stimme die ansonsten über Epochen und Denkschulen hinweg hohe moralische Wertschätzung für die Tugend der Dankbarkeit.
|17|Der Philosoph Seneca behandelte in der römischen Kaiserzeit viele grundsätzliche Fragen zur Dankbarkeit in seiner Schrift De beneficiis, die den Austausch von Gaben aus unterschiedlichen Perspektiven reflektiert (Seneca, 1999/ca. im 1. Jh. n. Chr.). Dankbarkeit lässt sich in einem dreistelligen Konzept verorten, bestehend aus dem Empfänger einer Wohltat, dem Geber dieser Wohltat und der Wohltat selbst. Für Seneca waren die zugrunde liegenden Intentionen von Geber und Empfänger von größter Bedeutung. Nur eine ohne selbstsüchtige Motive gegebene und eine ohne Schuld oder Ärger empfangene Wohltat schafft die Voraussetzung für das Empfinden tugendhafter Dankbarkeit. Diese als innere Haltung verstandene Dankbarkeit entsteht nur in einem Beziehungsgeschehen, das vom Wohlwollen des Gebers und der Unabhängigkeit des Empfängers geprägt ist. Wenn das Erweisen von Wohltaten hingegen mit der Erwartung einer gleichwertigen Gegengabe verbunden ist, so liegt eher ein Geschäft vor. Seneca entwirft eine umfassende ethische Besinnung auf den rechten Umgang mit Geschenken und Gaben bzw. ihrem Annehmen und Erwidern.
Die Rolle von Gefühlen für die Entstehung von Dankbarkeit betonte der schottische Moralphilosoph und Ökonom Adam Smith im 18. Jahrhundert. In seiner Theory of Moral Sentiments (Smith, 2004/1759) analysiert er Dankbarkeit als die moralische Gefühlsregung, die den Empfänger dazu bringt, in positiver Weise auf das Wohlwollen des Gebers zu reagieren. Dieser Sichtweise liegt die Idee einer imaginativen Anteilnahme zwischen Menschen zugrunde, die dazu befähigt, sich in die Lage von anderen hineinzuversetzen. Ausgestattet mit dieser Fähigkeit lernen Menschen in sozial angemessener Weise, Dankbarkeit zu empfinden und auszudrücken. Für Adam Smith ist angemessene Dankbarkeit also das Ergebnis eines Sozialisationsprozesses und dem gelingenden Zusammenleben dienlich. Dankbarkeit ist ein soziales Bindemittel für die Gesellschaft, die ansonsten an den Eigeninteressen ihrer Akteure zerbrechen könnte. In diesem moralischen Sinne ist Dankbarkeit für Smith ein höchst erstrebenswertes Gefühl, das gefördert werden sollte (Harpham, 2004).
Merke: Die Unterscheidung von Lebenshaltung und momentanem Gefühl
Während Seneca die Dankbarkeit als eine überdauernde Lebenshaltung (Tugend) verstand, betrachtete Smith sie als ein momentanes Gefühl in einer konkreten Situation. Damit sind zwei Konzeptionen von Dankbarkeit vorgezeichnet, die bis heute die wissenschaftliche Diskussion begleiten. In der Psychologie bestimmt die State-/Trait-Unterscheidung affektiver Zustände die Diskussion, was Dankbarkeit eigentlich ist. Dankbarkeit wird von den meisten psychologischen Forschern als situationsübergreifende Persönlichkeitseigenschaft analysiert. Andere nehmen eine mehr emotionspsychologische Perspektive (state) ein.
|18|2.1.2 Intrinsisch und extrinsisch motivierte Dankbarkeit
Gemeinsam ist den Dankbarkeitskonzepten von Seneca und Smith die Überlegung, wie eine moralisch begründete Dankbarkeit aussehen könnte. Dies bedeutet für beide Philosophen aber auch, dass es Formen und Spielarten von Dankbarkeit gibt, die weniger wünschenswert oder tugendhaft sind. Diese Deformationen einer tugendhaften Dankbarkeit sind für Seneca gegeben, wenn extrinsische Motive im Spiel sind. Undankbarkeit beim Empfang und selbstsüchtige Berechnung beim Geben von Wohltaten gehören für ihn zu den verbreitetsten Lastern. Für Smith hingegen ist die Unterscheidung zwischen extrinsisch und intrinsisch motivierter Dankbarkeit weniger eindeutig.
Der amerikanische Philosoph Terrance McConnell hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Differenzierung zwischen extrinsisch und intrinsisch motivierter Dankbarkeit auch für die Psychologie von Bedeutung ist (McConnell, 2016). Die enthusiastische Beschäftigung mit dem Thema Dankbarkeit in der noch jungen Bewegung der Positiven Psychologie sei im Wesentlichen darauf zurückzuführen, dass Dankbarkeit ein instrumenteller Wert zugeschrieben werde. Dankbarkeit ist in dieser Sicht nicht als eigenständiger intrinsischer Wert bedeutsam, sondern hauptsächlich durch den Nutzen für das individuelle und soziale Wohlergehen. Dies kann dazu führen, dass die propagierten psychologischen Interventionen zur Förderung von Dankbarkeit ihr Ziel verfehlen. Diesen Zielkonflikt hat auch der Dankbarkeitsforscher Phillip Watkins im Blick, wenn er formuliert: „im Kern ist Dankbarkeit eine auf den Anderen fokussierte Emotion und intrinsische Dankbarkeit ist immer auf den Geber ausgerichtet. Dankbarkeitsinterventionen, die die Beschäftigung mit dem eigenen Selbst fördern, müssen zwangsläufig nach hinten losgehen“ (Watkins, 2014, S.?2381). Die folgende Fallvignette illustriert diesen Zielkonflikt der Dankbarkeit in eindrücklicher Weise:
Beispiel
Ein etwa 50-jähriger Investmentbanker kommt mit depressiven Beschwerden in die Psychotherapie, nachdem er seinen lukrativen Job durch eine Kündigung verloren hat. Er denkt permanent darüber nach, dass er im Leben versagt habe, und beklagt quälende Grübeleien über seine berufliche Perspektive. Nichts könne er mehr genießen und das morgendliche Aufstehen sei ein Problem. Der behandelnde Psychotherapeut ist jedoch überrascht, vom Klienten zu hören, dass dieser schon seit einiger Zeit jeden Morgen nach dem Aufstehen ein Dankbarkeitstagebuch führt. Er habe in einem Managementseminar gehört, dass die Beschäftigung mit Dankbarkeit dazu führe, dass es einem besser gehen könne und man wieder leistungsfähig werde. Um|19|diesen positiven Effekt von Dankbarkeit zu nutzen, notiere er mit einiger Anstrengung und gewissenhaft jeden Morgen alle Dinge, für die er im Leben dankbar sein könnte: zum Beispiel sein beruflicher Aufstieg vom Jugendlichen aus benachteiligten Verhältnissen zum Akademiker mit eigenem Haus und Familie. Er denke dann vor allem an Dinge, die er bisher geschafft habe. Wenn er diese Punkte notiert habe, gehe es ihm auch kurzfristig besser und seine Stimmung helle sich etwas auf. Doch dieser Effekt verflüchtige sich wieder im Lauf des Tages und am nächsten Morgen fühle er sich so schlecht wie eh und je.
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