Friedländer | Ich war Zwangsarbeiterin bei Salamander | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Friedländer Ich war Zwangsarbeiterin bei Salamander


1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-360-50136-3
Verlag: Das Neue Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

ISBN: 978-3-360-50136-3
Verlag: Das Neue Berlin
Format: EPUB
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Vera Friedländer, von den Nazis als "Halbjüdin" stigmatisiert und zur Zwangsarbeit gepresst, sortierte Schuhe für die Firma Salamander. Der Schuhhersteller profitierte von den Nazis, und die Nazis profitierten von Salamander. Gemeinsam mit polnischen, französischen und anderen Verschleppten aus ganz Europa arbeitete sie tagtäglich unter Schikanen und der allgegenwärtigen Drohung, selbst in den Gaskammern zu sterben. Vera Friedländer überlebte das Grauen und klagt es bis heute leidenschaftlich an. Ihr Zorn richtet sich auch gegen die Bemühungen von Historikern, die im Auftrag solcher Firmen deren verbrecherische Vergangenheit frisieren und schönreden.
Vera Friedländer war unter den elf Millionen Zwangsarbeitern in Nazideutschland. An keinem anderen faschistischen Verbrechen waren derart viele Menschen beteiligt – als Opfer, als Täter, als Zuschauer.

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Einleitung Die Zwangsarbeit ist meine Beziehung zu Salamander. Bereits in meinem ersten Buch (»Man kann nicht eine halbe Jüdin sein«) habe ich darüber geschrieben. Ein damals verfasstes Kapitel stelle ich diesem Buch voran. Verantwortung und Schuld des Salamander-Konzerns kann ich nicht als erledigt beiseite legen. Kurz vor Weihnachten bekam ich einen Verpflichtungsbescheid mit dem handschriftlich hinzugefügten Kennzeichen V6m. Ich hatte mich im Berliner Reparaturbetrieb von Salamander in der Köpenicker Straße 6a zu melden. In einem Fabrikgelände auf einem Hof in der Nähe der Warschauer Brücke verbrachte ich von nun an die Tage. Ich kam, bevor die Sonne aufging, und durfte das Gebäude verlassen, wenn es wieder dunkel war. Ich arbeitete im vierten Stock. Ich stand vor schweren Karren auf eisernen Rollen, die plumpen Regalen ähnelten. Auf ihnen wurden die Schuhe zwischen den Arbeitsplätzen hin und her transportiert. Von links wurden mir die Karren zugeschoben, beladen mit getragenen Schuhen. Sie waren reparaturbedürftig, und ich hatte zu prüfen, welche Reparatur zu machen war. Ich musste die Schuhe in die Hand nehmen, den Schaden bestimmen und die Paare in andere Karren umsortieren: zum Steppen, zum Kleben, zum Besohlen und so weiter. Wenn ein Karren voll war, schob ich ihn dorthin, wo gesteppt, geklebt oder genagelt wurde. Die Karren rollten schwer. Trotzdem war ich immer froh, wenn einer voll war und ich meinen Platz für eine kleine Weile verlassen konnte. Es war die einzige Möglichkeit, mal den Blickwinkel zu wechseln. Auch meinen Beinen tat es gut, sie entspannten sich, wenn ich mehr als drei Schritte gehen konnte. Der Rücken schmerzte nicht so wie bei dem ständigen Drehen und Bücken während des Sortierens. Ich arbeitete an der Stirnseite der Halle. Hinter mir befanden sich mannshohe, fest montierte Regale, in die ich beim Umsortieren Schuhe ablegte und stapelte. Die Regale bildeten eine Wand und schlossen diesen Teil der Halle ab. Dahinter befand sich ein kleinerer Teil, dort hantierten Franzosen an lederverarbeitenden Maschinen. Was dort entstand, sah nach Oberteilen von Stiefeln aus. In den Momenten, in denen ich erst wenige Schuhe in die Regale gestapelt hatte, konnte ich hindurchsehen zu den Franzosen. Wenn es nur das Sortieren gewesen wäre und das Stehen vor den Regalen, könnte ich nicht mehr sagen als dies: Es war schwere, ungewohnte Arbeit. Aber es war Zwangsarbeit. Das Regal hatte ich im Rücken, die Halle vor mir. Links und rechts neben mir waren Gänge, die bis zum anderen Ende der Halle reichten. Auf ihnen gingen die Aufseher auf und ab. Den Gang zu meiner Rechten beherrschte eine Frau. Sie trug immer einen biegsamen Stock bei sich, um auf Schuhschäden zeigen zu können, ohne die Schuhe anfassen zu müssen. Sie trug den Stock wie ein Dompteur seine Peitsche. Die Aufseher waren SS-Leute, auch die Frau zu meiner Rechten. Sie wachten darüber, dass wir nichts anderes taten als arbeiten. Wir, das waren polnische Schuster, Frauen aus Serbien, französische Arbeiter, jüdische Frauen, Mädchen wie Hannchen und ich. Niemand durfte mit anderen sprechen. Wer bei der Arbeit sitzen musste, durfte nur sitzen. Wer zu stehen hatte wie ich, durfte nur stehen. Sie bewachten unsere Arbeit und das Tempo der Bewegungen. Das SS-Weib drückte, um mir den Arbeitsrhythmus beizubringen, ihren Stock in meinen Rücken, als sei ich ein verschwitzter Schuh, an dem sie sich ihre Finger nicht schmutzig machen wollte. »Ein bisschen Tempo, wenn ich bitten darf.« Ich bewegte mich schneller, ich bückte mich, drehte mich, meine Hände hantierten, meine Augen suchten, Hände und Augen prüften, alles zugleich und nacheinander; nach links in die Karre gegriffen, nach mehreren Seiten einsortiert, der nächste Griff in die Karre, ins Regal, die nächste Drehung, bücken, aufrichten – so wanderten die Schuhe durch meine Finger in die Karren. Manchmal wurde mir dunkel vor den Augen. Das kam vom schnellen Drehen und Bücken oder vom leeren Magen oder von beidem. Dann hielt ich mich am Karren fest und hoffte, die Aufseherin würde es nicht merken. Schläge hatten wir nicht zu fürchten, aber stets gegenwärtig war die Drohung, man werde uns ins Lager schicken so wie das Mädchen, das vor mir hier die Schuhe geprüft und die Karren geschoben hatte. Sicher kann man bei solcher Tätigkeit eine gewisse Routine bekommen. An körperliche Belastungen gewöhnt man sich. Vielleicht wäre auch mir mit der Zeit alles nicht so schwer gefallen. Aber das SS-Weib hatte sich für mich etwas ausgedacht: Viele Schuhe hatten über der Naht am Hacken einen schmalen Lederstreifen, der aufgesteppt war, sich aber nach längerem Tragen lösen konnte. Dann wurde er wieder angeklebt, mit einem Leim, der Ago hieß. Bei allen Schuhen mit solchen aufgesetzten Streifen am Hacken musste ich prüfen, ob die Steppnaht noch fest war oder ob sich der Streifen vom Schuh löste. Dazu benutzte man normalerweise ein Werkzeug, das wie ein abgebrochenes Messer aussah. »So macht man das«, erklärte mir die Aufseherin und zog das Metallblatt unter den Lederstreifen lang. Manche lösten sich davon, manche nicht. Mit etwas Druck auf das Metallblatt konnte man jeden Streifen vom Schuh lösen. Ich dachte, sie würde mir das Werkzeug geben. »Los, fang an!« »Womit denn?«, fragte ich. »Hast du keine Fingernägel?« Ich zog also einen Fingernagel unter einem Lederstreifen lang und prüfte seine Festigkeit. »Na bitte, wie gut du begreifst.« Sie ließ mich mit den Schuhen allein. Sie beobachtete, wie ich langsam verstand, was sie sich ausgedacht hatte. Fingernägel nutzen sich ab. Wenn sie ständig unter Lederstreifen entlanggezogen werden, verbrauchen sie sich schnell und haben zu wenig Zeit zum Nachwachsen. Fingernägel bedecken die weiche Haut der Kuppen und schützen sie. Ohne die Nägel ist die Haut, die darunterliegt, dem Material ausgesetzt, das wir berühren. Das ist unangenehm. Wird diese Haut jedoch ständig an hartem, rauem Leder gerieben, führt es zu quälenden Schmerzen. Als ich merkte, dass sich meine Fingernägel abnutzten und die Haut wund wurde, wechselte ich die Finger und schonte die wundesten. Ich wechselte zu schnell, so dass alle entzündet waren. Dann hantierte ich nach Plan: Ich benutzte immer nur einen Finger je Tag. Drei Tage hielt ich es durch, dann wechselte ich doch wieder schneller. Nach kurzer Zeit war das Weiße der Nägel völlig abgewetzt, der Hautansatz schwoll, rieb sich durch, verschmutzte und fing an zu eitern. Meine Fingerspitzen waren eine verquollene Masse. Mutter kühlte die brennenden Finger und salbte die aufgeriebene Haut. Sie ließ mich nichts anfassen, sie zog mich an und aus und wusch mich. Sie trocknete meine Tränen, denn auch das konnten meine Finger nicht verrichten. »Ob ich je wieder richtige Fingernägel haben werde?« »Aber natürlich, Kind, das wächst wieder.« Damals glaubte ich es nicht. Das Interesse der Aufseherin an mir ließ nach. Ich nutzte das und kontrollierte nur noch mit den Augen. Was abgetragen aussah, lud ich auf den Ago-Karren. Einige Tage ging alles gut, dann kam die Aufseherin auf mich zu: »Komm mit!« Sie machte kehrt, ich ging hinter ihr her. Mitten in der Halle führte eine breite Treppe einen Stock hinunter. An der Treppe stand Hannchen. Sie war auch Halbjüdin, auch Zwangsarbeiterin und noch ein halbes Jahr jünger als ich. Am anderen Ende der Halle hatte sie die gleiche Arbeit zu machen wie ich. Ihre Finger sahen aus wie meine. Die Aufseherin führte Hannchen und mich zum Rapport. Am Fuß der Treppe stand ein SS-Mann mit gespreizten Beinen in langen schwarzen Stiefeln. Während wir die Treppe hinuntergingen, sagte Hannchen leise zu mir: »Der wartet auf uns.« Unwillkürlich drehte ich meine Hände so, dass er die Finger nicht sehen konnte. Ich hatte das Gefühl, sie vor ihm schützen zu müssen. Er stand da und zeigte auf einen Berg Schuhe mit losen Lederstreifen. »Das ist eure Sauarbeit!« Die Aufseherin nahm von einem zweiten Berg einen Schuh nach dem anderen und riss mit einem Metallblatt die Streifen ab, eine Kleinigkeit war das, jedes Kind hätte es mühelos nachmachen können. Wir wurden belehrt, wie wir zu arbeiten hätten und welche leichte Aufgabe man uns zugewiesen habe. Das SS-Weib setzte das Metallblatt an und ratschte mit leichter Hand an den Steppfäden unter dem Lederstreifen entlang. Einen Schuh nach dem anderen nahm sie und löste die Streifen. So leicht, so einfach gehe es. Und wir standen da, Hannchen und ich, ohne Fingernägel und mit noch immer eiternden Kuppen. Uns taten schon beim Zusehen die Finger weh. Dazu die schneidende Stimme des Mannes, der in steifer Haltung vor uns stand. »Wenn ihr nicht arbeiten wollt, dann ab mit euch ins Lager.« Ich hatte Angst, die Angst der Getretenen vor dem nächsten, härteren Tritt. In diesem Augenblick spürte ich nichts anderes. Alles, was sie von mir verlangten, war ich zu verrichten bereit, alles. Was ist, das kennt man, darauf richtet man sich ein, damit glaubt man fertig werden zu können. Jede Veränderung würde alles viel, viel schlimmer machen. Sicher war auch, dass ich mich, wenn sich etwas änderte, unweigerlich von meiner Mutter trennen müsste. Sie würde allein zurückbleiben, würde ich sie wiederfinden, später? Lieber alles dulden, hier, bei den dreimal verfluchten Schuhen. Nur nicht weg von diesem Platz bei den Karren, den ich abends verlassen durfte, um nach Hause zu gehen. Solange ich das durfte, wollte ich mich fügen und die schmerzenden Finger ertragen....


Vera Friedländer, Jahrgang 1928, geboren in Woltersdorf bei Berlin. Als Anfang März 1943 ihre Mutter im Rahmen der "Fabrikaktion" in der Großen Hamburger Straße in Berlin festgehalten wurde, harrte sie als 15-Jährige mit ihrem Vater und anderen Partnern in sogenannten Mischehen viele Stunden vor der Gestapo-Sammelstelle aus. Als die Mutter aus dem Gebäude trat, gehörte sie zu den Registrierten, die für spätere Deportationen vorgesehen waren. Viele Angehörige ihrer Familie wurden deportiert und in Auschwitz, Theresienstadt und anderen Orten ermordet.
Nach dem Krieg studierte sie Germanistik, promovierte und habilitierte an der Berliner Humboldt-Universität. 1990 war sie Mitbegründerin des Jüdischen Kulturvereins in Berlin.
Die Schriftstellerin Vera Friedländer ist aktiv an dem Projekt Stolpersteine beteiligt.



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