Friedrich Holly. Eine Hochzeit in Schwarz
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-641-20525-6
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Band 5
E-Book, Deutsch, Band 5, 160 Seiten
Reihe: Holly-Reihe
ISBN: 978-3-641-20525-6
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der hochkarätige Berliner Event des Jahres: Holly feiert ihr 50-jähriges Jubiläum. Doch hinter den Kulissen kann von Glamour keine Rede sein: Ein Mord in der Redaktion sorgt für Entsetzen, und aufgedeckte Geheimnisse bedeuten das Ende einer großen Liebe. Simone Pfeffer trifft eine Entscheidung, die sie nie wieder rückgängig machen kann. Und in Hollys Führungsetage schmieden alle ihre eigenen Pläne, die nur eines gemeinsam haben – nichts soll so bleiben wie bisher.
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Dienstag, 2. Juni
1
Eine Milchflasche, blaue Teddybären sind draufgemalt und kleine rosa Schleifchen. Eine Milchflasche für Babys. Plötzlich bläht sich die Flasche auf, und aus dem Sauger wird eine Maschine, die saugt, saugt immer stärker, saugt alles auf, bis die Flasche voll ist. Simone schüttelt die Flasche, sie will sehen, was drin ist.
Mhmhmh, es klingt wie Gesang. Simone erschrickt und lässt die Flasche fallen, als sie den Inhalt sieht: eine tote Ratte.
Mmhmhmh. Der Gesang geht weiter, wird akzentuierter, sie hört einzelne Worte: Malespero estas malutila. Simone versteht nichts, aber die Stimme ist dunkel, beruhigend. Daneben gibt es ein hohes, verzweifeltes Geräusch. Je weiter Simone das Zwischenreich durchschreitet, das wie Aufwachen ist, nur viel, viel weiter weg, desto klarer erkennt sie in dem Störgeräusch ihr eigenes Wimmern. Und dann nimmt sie eine Berührung auf ihrem Kopf wahr, einen leichten Druck. Auch die Berührung wird akzentuierter und zu einem sanften Streicheln.
Malespero estas malutila. Die Stimme singt fast, und sie gehört zu der Hand, die ihren Kopf streichelt. Malespero estas malutila.
»Wie bitte?«, will Simone eigentlich fragen, aber sie bringt nur ein »Hä?« heraus und ärgert sich im selben Moment. Als sei das jetzt wichtig, ob sie »wie bitte« fragt oder »hä«.
»Das ist Esperanto«, sagt die dunkle Stimme, sie kommt aus einem weichen Mund, weicher Händedruck, blonde Haare, blonder Bart, »Esperanto ist eine Plansprache, die im 19. Jahrhundert entwickelt wurde, damit die Völker sich besser verstehen«, sagt die Stimme, »und Malespero estas malutila, das bedeutet: Verzweiflung ist schädlich.«
Nach und nach werden auch die Umrisse um Simone schärfer. Sie sieht die metallenen Kanten der medizinischen Geräte. Sie spürt die Pritsche unter sich. Sie hört das Klappern der Instrumente.
»Ich muss weiter«, sagt die Stimme, »ich schaue später wieder nach dir.«
Die Klinik hatte auf einer Internetseite von Abtreibungsgegnern gestanden. Die Seite wurde ihr bei der Suche »Abtreibungsklinik Berlin« als erste angezeigt. Bezeichnend, denkt Simone, das mit der Google-Blase stimmt wirklich, Google kennt mich, Google kennt mich besser als ich mich selbst: Ich? Ein Kind abtreiben? Ich bin doch eigentlich gegen Abtreibung. Niemals hätte ich gedacht, dass ich ein Baby aus meinem Bauch raussaugen lasse. Einfach so.
Jetzt ist es weg, das Kind. Abgesaugt. Liegt irgendwo in diesem Krankenhaus in einem Schlauch wie eine tote Ratte in der Milchflasche.
Habe ich mir das Kind wirklich vorgestellt? Was habe ich wirklich geglaubt? Dass ich es aufziehe – mit Georg? Diesem Typen, der alles nagelt, was laufen kann?
Nein, Georg. Ich bin anders. Nicht mit mir.
Alle hat er gefickt, dieses Arschloch, alle. Schauspielerinnen, alte, junge, Kolleginnen, alte, junge, vor allem aber – und dieser Gedanke entlockt Simones Kehle wieder das hohe Wimmern –, vor allem eine.
Simone vergisst für einen Moment die klinische, sterile Krankenhauswelt um sich herum und denkt zurück an den Morgen nach ihrem Geburtstagsfest, als Catarina sie anrief. Nur mit ihren vier engsten Freundinnen hatte sie am Abend zuvor ihren Dreißigsten gefeiert. Die fünf Frauen sind nicht nur Freundinnen, sie sind auch die Gründungszelle der Spyders, des radikalsten internationalen Frauennetzwerks der Welt.
Verschlafen war sie noch, als das Telefon klingelte – glücklich aufgewacht in Georgs Armen. In der Nacht war er noch zu ihr gekommen, direkt vom Flughafen Tegel. Im militärischen Teil war er gelandet, weil er gerade den Außenminister begleitete, ein Porträt sollte er über ihn schreiben, deswegen flog er mit ihm im Helikopter.
Wie jeden Morgen hatte sie noch vor dem Aufwachen seine Berührungen gespürt, sich in seine Arme gedreht. Zu ihm gefunden im Dunkeln, im Traum. Hatte gespürt, wie sein Schwanz wuchs und sich schließlich als volle Erektion an ihren Arsch drückte. Sie hatte sich umgedreht und ihn reingesteckt und ihn dann mit der Hand bearbeitet, so, wie er es gerne mag: Anfassen, aufhören, anfassen. Immer wieder, ganz fest. Nur bei ihm ist das so, sie hatte es mit ihm und für ihn gelernt, seinen Schwanz so anzufassen. Er kommt selten, wenn sie miteinander schlafen, er kommt lieber, wenn sie ihn fest anfasst. Immer wieder aufhört zwischendurch. Nicht redet. Dann schneller reibt. Bis er spritzt, über seinen haarigen Bauch und die Brust, mit einem Stöhnen. »Guten Morgen, mein Schatz«, hat sie danach zu Georg gesagt, wie immer, und er hat es erwidert, auch wie immer. Kein Wort hatten sie vorher miteinander gesprochen. Jeden Morgen ging das so, es war ihr Ritual.
Catarinas Stimme klang belegt am Telefon, belegt und dringlich. »Simone, meine Süße«, hat Catarina gesagt, »ich weiß, es ist noch früh, aber wir müssen uns nochmal sehen.«
»Na klar«, sagte Simone, noch fröhlich, »ich wollte dich eh einladen. Du musst Schorsch kennenlernen. Kommst du vorbei? Jetzt?«
»Ich glaube, das ist keine gute Idee«, hat Catarina gesagt, und in dem Moment hat Simones Glück, das sie bis dahin umgeben hat wie eine Glasglocke, einen Sprung bekommen. Wie tief er allerdings einreißen würde, hat sie da noch nicht geahnt.
Diesen Moment hat Simone noch klar in Erinnerung, den Moment, in dem sie da steht in der Verlagswohnung in der Rosenthaler Straße, hoch oben unterm Dach, mit dem Telefonhörer in der Hand, aus dem die Stimme der Freundin aus Kindertagen dringt: »Georg treffen, das ist vielleicht keine gute Idee.« Von da an wird Simones Erinnerung schwammig. Auf ihrer weißen Pritsche in der Klinik kann sie nicht rekonstruieren, wie lange es gedauert hat, bis sie aufgebrochen ist, und was dann geschah. Deswegen zeigt die Kamera die entscheidenden Szenen der folgenden Stunden und Tage und überblendet den Rest: Simone steigt in die U8, Simone und Catarina im Café Goldberg. Geräuschkulisse: Tassenklappern, Stimmengewirr.
»Simone«, sagte Catarina, »was ich dir jetzt sage, wird nicht leicht für dich. Ich sage es, weil du uns, die Spyders, darum gebeten hast, alles in deinem Umfeld herauszufinden, was für dich relevant ist. Leider ist auch das dabei, was ich jetzt sagen muss.«
»Aber …«, sagte Simone, »das habe ich doch nur getan, damit ihr mir sagt, wie ich es schaffe, nicht nach Osteuropa zu müssen, um mir stattdessen hier ein Leben mit Schorsch aufbauen zu können.«
»Darum geht es. Ich – nicht ich, wir haben Dinge über Georg Bender in Erfahrung gebracht, die du wissen solltest. Nicht wissen solltest – wissen musst.«
Die Geräusche drangen wie von weit weg zu Simone, es dauerte, bis sie ihr Hirn erreichten. Es dauerte, bis sie diesen Georg Bender, von dem ihre Freundin Catarina da redete, in Übereinstimmung brachte mit ihrem Schorsch. Es fühlte sich an wie früher, als die Mädchen zu Hause in Niederbayern Anziehpuppen ausgeschnitten haben und die Kleider noch dazu, aber diesmal wollten die Folien einfach nicht aufeinanderpassen.
Dieser Georg Bender, von dem Catarina da erzählt, ist ein Mann, der – in ihrer Einsamkeit und Wut fällt Simone nur diese abgedroschene Floskel ein – nichts anbrennen lässt. Georg Bender ist in Catarinas Erzählung ein Mann, der viele Frauen hat, sehr viele. Ein Affärenprofi.
»Möchtest du eine Zahl hören?«, fragte Catarina, aber Simone winkte nur schwach ab.
Georg Bender. Ein Mann, der den Betrug sucht. Kaum etwas anderes scheint ihn zu interessieren. Simones Verstand setzte automatisch ein, begann zu analysieren, zu rechnen, kühl, so war sie schon immer: Wie viele Sprachen hätte Georg in diesen Nächten lernen können? Wie viele Bücher lesen?
In den vergangenen Jahren hat es immer wieder eine Frau gegeben, die Georg getroffen hat, für Sex, in Hotels, in Hinterzimmern und Bars: Elisabeth Salditt. Ihre Verlegerin. Es ist dieser Gedanke, der Simone verzweifeln lässt, und ihre Verzweiflung hält an, hält an bis jetzt, als sie auf der weißen Pritsche im Krankenhaus liegt und sich ihr Baby aus dem Bauch hat saugen lassen.
Jahrelang ging das zwischen den beiden, getroffen haben sie sich regelmäßig, jede Woche oder alle zwei. Ein Chatprotokoll hatte Catarina dabei, aufgelistet sind alle Nachrichten der vergangenen drei Jahre, die Bender und Salditt ausgetauscht haben. Es ist ein dicker – gut 40 Seiten dicker – Stapel Papier geworden.
Simone las nur rein, es geht viel um Sex. In den Nachrichtenfetzen von Georg erkannte Simone ihren Schorsch wieder. Das tut weh.
Simone stellte nur eine Frage: »Warum macht er so etwas? Aus Karrieregründen?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Catarina, die ahnte, dass die Frage eigentlich nicht an sie gerichtet war.
»Simone, ich weiß, es ist jetzt noch nicht die Zeit dafür«, sprach sie leise in die Verzweiflung der Freundin hinein. »Aber ich habe dir das Chatprotokoll deswegen ausgedruckt und mitgebracht, damit du später einmal, wenn du so weit bist, die Nachrichten liest, vor allem die vom Anfang.«
»Was soll das jetzt noch bringen?«
»Du wirst aus den Nachrichten Georgs Zögern lesen. Wirst sehen, wie er sich wehrt gegen vieles, was die Verlegerin will. Wie oft er Nein sagt.«
»Aha.«
»Macht, Simone, gräbt sich unmerklich in Strukturen hinein. Macht wirkt oft subtil. Du darfst das nicht unterschätzen. In diesem Buch wirst du viel über Macht lernen.«
»Gutes Stichwort: Macht. Erst sagt mir die Salditt, Georg muss weg. Ich verteidige Georg gegen die Sparmaßnahmen im Change-Management. Ich erzähle der Salditt auch...




