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E-Book, Deutsch, 160 Seiten
Frieling Die Einsamkeit der Ministerin
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-949899-06-5
Verlag: onomato
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Erzählungen
E-Book, Deutsch, 160 Seiten
ISBN: 978-3-949899-06-5
Verlag: onomato
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Simone Frieling, geboren 1957 in Wuppertal, lebt als Autorin und Malerin in Mainz. Sie veröffentlichte Erzählungen, Romane, Essays und Anthologien. 1998 erhielt sie den Martha-Saalfeld-Förderpreis des Landes Rheinland-Pfalz. Zu ihren erfolgreichsten Titeln gehören literarische Sachbücher wie 'Ausgezeichnete Frauen. Die Nobelpreisträgerinnen für Literatur', 'Rebellinnen - Hannah Arendt, Rosa Luxemburg und Simone Weil', 'Sophie Scholl. Aufstand des Gewissens' und 'Sylvia Plath. Jeder sollte zwei Leben haben'. Zuletzt erschien ihr Gedichtband 'Künstler-Köpfe' mit graphischen Scherenschnitten. Seit den 90er Jahren hat sie ihre Ölbilder, Pastelle, Aquarelle und Graphiken in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen gezeigt, u.a. in Mainz, Frankfurt, Wiesbaden, Wuppertal und Berlin.
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Die Einsamkeit der Ministerin
1.
Sie steht im Aufzug: seine Wände sind verspiegelt. Der Aufzug soll größer wirken, als er ist. Sie sieht sich in drei Spiegeln: frontal, im rechten Profil, im linken. Hinter ihr ist die Tür, die jeden Moment aufgehen kann.
Sie zwingt sich, zu lächeln. Ein Reflex, den sie gelernt hat. Sobald sie meint, angeschaut zu werden, lächelt sie – auch wenn es nur das eigene Augenpaar ist, das sich auf sie richtet. Als wäre sie eine andere Person, so forscht sie jetzt in den Spiegelungen des Glases, ob man ihr schon etwas ansehen kann. Sie meint: nein.
Warum also haben die Leute sie eben so eindringlich gemustert, als sie aus dem Sprechzimmer des Professors kam? Sie gibt sich die Erklärung selbst: Sie ist Politikerin und man kennt sie von Plakaten und aus dem Fernsehen. Aber nein, der wahre Grund ist der, dass sie, noch bevor sie zur Ministerin ernannt wurde, regelrechte Streifzüge durch die Stadt gemacht hat, um gesehen und erkannt zu werden; begleitet von zwei Bodyguards, die mit ihr im Gleichschritt gingen.
Sie waren überall aufgefallen: die Bodyguards in schwarzen Maßanzügen, sie in einem weißen aus Flanell. Die Männer waren wie archaische Krieger aufgetreten, die unter Einsatz ihres Lebens ein kostbares Gut an einen geheimen Ort bringen müssen.
Sie hat für diese Inszenierungen die Altstadt gewählt. Nicht wegen ihrer historisch bedeutenden Fassaden, sondern wegen der engen Gassen. Keiner, der ihnen entgegenkam, konnte ihnen ausweichen. Wie Moses das Wasser so teilte sie die Menge. Jeder, der sich rechts oder links an ihnen vorbei zwängte, musste die Prüfung über sich ergehen lassen. Denn wie ein Kind glaubt sie an Magie: hält man ihrem Blick stand, so handelt es sich um einen ihrer Wähler; ein Nichtwähler senkt die Lider. Das hat sich den Leuten eingeprägt, deshalb haben die sie eben auf dem Krankenhausflur so angestarrt.
Sie überlegt, während der Aufzug in die Tiefe fährt, ob die, die sie am liebsten Wähler oder Bürger nennt, ihr schaden können. Sie vermutet: ja. Das Volk ist immer schon darauf aus gewesen, Prominente wie sie leiden zu sehen. Die ganze Regenbogenpresse gibt ihr Recht. Sie wird also etwas unternehmen müssen, damit die Leute keine zweite Gelegenheit haben, sie hier in diesem Krankenhaus – das sie mit Bedacht gewählt hat – anzustarren und sich ihre Gedanken zu machen.
Eigene Überlegungen von Wählern, das hat sie früh in ihrer politischen Karriere gelernt, sind immer etwas Heikles. Nur in den seltensten Fällen kommen sie der Partei zugute.
Sie muss also heute noch die Klinikleitung ansprechen. Nein, das darf sie nicht selbst tun. Ihr Gönner wird das übernehmen, der sie zu der Person gemacht hat, die sie jetzt ist. Aber was wird sein Preis sein? Wird er überhaupt noch etwas für sie tun, wenn er von ihrer Krankheit erfährt?
Er ist alt, vielleicht wird er Verständnis haben. Nein, er hat noch nie Verständnis gehabt, nur Einfluss und Macht. Macht auch über sie. Sie war jung, als sie ihn kennenlernte und gleich verliebt in ihn – oder in die Art, wie er alle Schwierigkeiten aus dem Weg räumte, vor allem ihre. Sie war schüchtern, ein Mauerblümchen, lispelte bei öffentlichen Auftritten, wurde rot, wenn Leute Fragen stellten und schämte sich ihrer Herkunft und ihrer krummen Beine. Er war dreist, das begeisterte sie.
Eben, vor einer halben Stunde, als sie im Sprechzimmer des Professors die Tragweite ihrer Diagnose begriffen hatte, war sie für einen Moment wie befreit. Er würde nach der Operation kein Interesse mehr an ihr haben, und sie könnte nach zwanzig Jahren endlich beginnen, ein eigenes Leben zu führen. Schon das Wort ‚Amputation‘ würde ihn abstoßen und verstummen lassen. Vor seinen Berührungen wäre sie in Zukunft sicher.
Aber jetzt braucht sie ihn, wie nie zuvor. Das Wort „braucht“ klingt hässlich, aber es lässt sich durch nichts ersetzen. Noch mehr als vor seinen erzwungenen Intimitäten fürchtet sie sich vor den Leuten. Eigentlich weiß sie gar nichts über ihre Wähler. Manche kommen, ebenso wie sie, aus kleinen Verhältnissen. Aber gerade die kleinen Verhältnisse sind ihr verhasst und sie wird weiterhin alles dafür tun, nicht an sie erinnert zu werden. Deshalb liebt sie ihren Gönner vielleicht immer noch. Er kommt aus ähnlichen Verhältnissen wie sie und hat diese hässliche Welt verlassen. Er wird nie in sie zurückkehren. Sie hat diese Sicherheit nicht. Ihre Partei ist angeschlagen, sie hat Fehler gemacht.
Eine Fliege stößt wieder und wieder gegen den Spiegel, in dem sich die Ministerin betrachtet. Das Tier hinterlässt kleine kreisrunde Kleckse auf dem Glas. Es ist Frühsommer und schon schwül in ihrer Stadt. Wie wird man Fliegen von dem Operationsraum fernhalten, wie von frischen Wunden? Sie weiß es nicht, es wird ihre erste Operation sein.
Die Tür des Aufzugs öffnet sich, sie will hinaustreten – schon gefasst auf einen öffentlichen Auftritt. Sie strengt sich an, zu lächeln, trotz der Diagnose. Aber das Schummerlicht irritiert sie. Der Gang, den sie betreten möchte, ist kaum beleuchtet. Leere Klinikbetten stehen, eines hinter dem anderen an der linken Wand. Unter ihren fahlgrauen Überwürfen könnten Tote liegen. Sie ist bis in den Keller gefahren, sie hat einen falschen Knopf gedrückt. So einfach ist die Erklärung für einen kleinen Schrecken.
Bevor sie sich korrigiert und auf den Knopf „Ausgang“ drücken wird, wartet sie einen Moment. Sie will sich etwas klarmachen; etwas, das nichts mit Wählerverhalten und Statistiken zu tun hat, sondern nur mit ihrer eigenen Situation. Sie zwingt sich, ihren Kopf nach rechts und links zu drehen – ohne, dass eine Kamera läuft – zwingt sich, mit den Augen den Gang abzuschreiten, den Geruch aufzunehmen, der hier unten aus den feuchten Wänden dringt. Sich kurz vorzustellen, hier zu liegen, hier zu enden.
Aber nein, sie ist Ministerin und wird alles dafür tun, einen Ort wie diesen in Zukunft zu meiden. Noch ist sie nicht tot, das bestätigen ihr die Spiegel. Sie sieht attraktiv aus; im Gegensatz zu den Patientinnen, die sie eben angestarrt haben. Das gefährliche an ihrer Krankheit ist, dass sie lange Zeit nur das Innere eines Menschen zerstört. Die äußere Erscheinung bleibt bis zu einer Therapie unbeschadet.
Vielleicht aber hat sich der Klinikleiter geirrt. Er ist alt und verbraucht. Seine Eitelkeit als Mann leidet darunter. Möglicherweise hat er schon vor Jahren die Kontrolle über seine Karriere verloren, den richtigen Zeitpunkt verpasst, um sich zurückzuziehen. Als Ministerin hat sie natürlich Informationen über ihn einholen lassen, obwohl alles sehr schnell gehen musste. Immerhin stehen sie mitten im Wahlkampf.
Er sei aus Verlegenheit, weil kein anderer zur Verfügung stand, in der Klinik eingesetzt worden. Unter Kollegen war er schon abgeschrieben. In früheren Jahren soll er einer der Besten gewesen sein im Land. Das kann sie von heute aus nicht beurteilen.
Es wäre auch denkbar, dass sie den Mann falsch verstanden hat, was ihre Aussichten betrifft. Zwischen Fakten und Schmeicheleien hatte sie am Ende nicht mehr unterscheiden können. Sie wird sich an einen ranghöheren Mediziner in einer anderen Klinik wenden, der jünger und kompetenter ist. Unter Umständen wird sie sich sogar in ihn verlieben. Ärzte haben sie schon als Kind beeindruckt. Heute schätzt sie nur noch die, die sich in Kliniken bis ganz nach oben gekämpft haben. Starke Hierarchien bringen starke Menschen hervor, in der Politik, wie in der Wirtschaft. Und nichts anderes sind Kliniken als Wirtschaftsbetriebe.
Sie denkt an ihre Arbeit als Vorstandsmitglied des Gremiums, das für Patientinnen geschaffen worden ist, deren Krankheit sie nun auch hat. Sie weiß, dass diese Krankheit nicht ansteckend ist. Trotzdem beschäftigt sie die Frage, warum es gerade sie getroffen hat. Sie, die sich in ihrer Partei dafür stark gemacht hat, finanzielle Mittel bereitzustellen, um sie in die Forschung zu investieren. Sie, die mit viel Geschick die Skandale der Klinik, der größten und angesehensten, abgewendet hat.
Wieder fordert der Spiegel sie heraus: „Lächle und straffe den Hals!“
Plötzlich möchte sie nicht weiterdenken: unter ihrem Dekolleté beginnt der Zerfall. Sie hat ihn gespürt: den Zerfall ihrer Partei; niemals hätte sie geglaubt, dass auch ihr Körper jetzt schon Anzeichen… Um ihr Gesicht verdichten sich grünliche Schatten; das muss an dem Kellerlicht liegen, das bis in die Kabine dringt. Sie weiß, würde sie so in die Öffentlichkeit treten, hätte sie keine Chance mehr.
2.
Jetzt sollte sie sich erst einmal auf den Aufzug konzentrieren. Auf den engen Raum, den sie vielleicht in nächster Zeit immer wieder betreten muss. Der Aufzug wird sie nach oben bringen wie das neue Parteiprogramm. Nicht umsonst hat ihre Partei Spendengelder investiert, um neue Wege zu gehen. Junge Leute rekrutiert, die ganz nah an den Wählern „dran sind“. Ein ordinärer Ausdruck, aber mittlerweile schätzt sie ihn.
Der Aufzug stottert und stolpert, als wäre er ein nervöser Redner, der auf einer Wahlveranstaltung, bei der es um viel geht, nicht die richtigen Worte findet, obwohl er sie unzählige Male eingeübt hat. Darüber ist sie hinaus. Seit sie vor Jahren zur Ministerin aufstieg, ist sie daran gewöhnt, das zu bekommen, was sie will.
In ihrer Kindheit war das ganz anders, schrecklich demütigend. Aber davon hat sie nur wenigen Vertrauten erzählt. Nein, jetzt schaut sie frontal in den Spiegel – sie hat sogar dem Foto zugestimmt, das sie und ihre Mutter zeigt – die alte Frau in ihrer ganzen Armseligkeit. Diese Demütigung hat sie auf sich genommen, um Bürgernähe zu gewinnen. Das...