E-Book, Deutsch, 233 Seiten
Frischmuth Über die Verhältnisse
1. Auflage 2011
ISBN: 978-3-8412-0283-3
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 233 Seiten
ISBN: 978-3-8412-0283-3
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Drei Leben aus den Fugen.
Mela, attraktive Wirtin eines beliebten Wiener Lokals, ist eine starke Frau, die in der Liebe die Unabhängigkeit schätzt. Dass ihre Tochter sich ganz anders entscheidet, empfindet Mela als Katastrophe. Doch auch ihr höchster Gast, der Regierungschef, steckt in einer Krise, und Mela weiß besser als er selbst, dass es sich um mehr als eine politische handelt ...
Barbara Frischmuth, 1941 in Altaussee (Steiermark) geboren, studierte Türkisch, Ungarisch und Orientalistik und war seitdem freie Schriftstellerin. Sie starb am 30. März 2025.
Nach ihrem von der Kritik hochgelobten Debüt »Die Klosterschule« und dem Roman »Das Verschwinden des Schattens in der Sonne« wurde sie vor allem mit der zauberhaften und verspielten Sternwieser-Trilogie bekannt, der die Demeter-Trilogie folgte. Neben weiteren Romanen wie »Die Schrift des Freundes«, »Der Sommer, in dem Anna verschwunden war«, »Vergiss Ägypten«, »Woher wir kommen« und »Verschüttete Milch« veröffentlichte sie u. a. Erzählungen und Essays. »Der unwiderstehliche Garten« war das vierte ihrer literarischen Gartenbücher.
Autoren/Hrsg.
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1;Über die Verhältnisse;8
(S. 7-8)
Du ziehst einen Faden, und der ganze Stoff kräuselt sich. Demeter – Figur und Person in einem. Wenn ich Demeter sage, muß ich auch Kore, Baubo, Zeus sagen. Stell dir vor, du hängst einen leeren Rahmen an die Wand, der ein Stück Mauer eingrenzt. Die Linie eines Profils tritt hervor, und wenn du lange genug hinschaust, erscheint der Kopf.
Du machst Licht. Der Schatten des geflochtenen Lampenschirms berücksichtigt den Rahmen nicht, doch kann er das Bild, das sich einmal gezeigt hat, nicht ungeschehen machen, auch wenn er bedeutet, daß innerhalb und außerhalb des Rahmens nichts als die bloße Wand ist. Ebenso setzt sich eine Fliege über den Rahmen hinweg, innerhalb dessen sie jedoch zum Bild gehört. Also das Spanferkel, unser aller Nährschwein, die Sau, die man haben muß, um noch rosige Zeiten zu erhoffen. In diesem Rahmen ein Lokal, in dem man – göttlicher Einfall, den du erst haben mußt – ißt, was vom Schwein kommt, und nur vom Schwein.
Vom Rüssel über die Ohren bis zum Ringelschwanz, Haxen, Eingeweide, Schwarte, auf vielerlei Weise und Manier zubereitet, gedämpft, geröstet, gespickt, gerollt, geräuchert, gebraten, auf Spießen, im Topf, auf dem Holzkohlenrost, im Rohr und in der Gußeisenpfanne, auf Reissockeln oder im Erdäpfelwall, um Knödel drapiert, über Nudeln geschichtet, von zarten Gemüsen in der Farbe kontrastiert, durch Beimischung von Kräutern zu anderen Geschmacksebenen sublimiert und schließlich um die Wildform erweitert: Eberschinken, die Zunge rollt sich im Speichelfall – das also ist das Spanferkel.
Wo denn nun? Ich denke an das Wort Regierungsviertel, aber das ist ein Allerweltsbegriff, so würde in dieser Stadt niemand sagen. In einer unscheinbaren Gasse also, in Parlaments- und Kanzleramtsnähe, so daß es in unvorhergesehenen Pausen rasch und zu Fuß erreicht werden kann, was nicht nur dem gelegentlich entwischenden Oberolympier zugute kommt, sondern auch den zu seinem Verfolg abgestellten und geheimen Sicherheitsbeamten, die sich im Falle eines unbemerkten Abhandenkommens ihres obersten Dienstgebers ebenfalls ins Spanferkel verfügen, wo ihrem fragenden Blick bedeutet wird, daß der Vermißte sich im Extrazimmer finden ließe, falls er tatsächlich gefunden werden müsse.
Erleichtert bestellen die hauptamtlichen Schutzverantwortlichen erst einmal ein Bier – ist doch Unauffälligkeit die Voraussetzung ihres erfolgreichen Wirkens –, denn was wäre auffälliger, als zu dieser Nichtessenszeit hier zu sitzen und kein Bier zu trinken? Die Kellnerin aber, längst durch das einmalige Zukommenlassen einer Opernkarte gefügig gemacht, signalisiert rechtzeitig den geheimen Rückzug des im Auge zu Behaltenden, worauf die pflichtbewußten Beschatter sich sofort auf den Weg machen, ohne ihr Bier zu bezahlen, um kurz vor dem Wiederbetreten des Amts zu beiden Seiten des Schutzverurteilten Aufstellung zu nehmen, unverschämterweise auf gleicher Höhe, beinah so, als arretierten sie ihn, was natürlich protokollwidrig ist, aber im Hinblick auf die Demokratie, die das Staatsvolk als Regierungsform verordnet bekommen hat, und seine eigene bäuerlich-proletarische Herkunft verabsäumt der Chef, die vom Protokoll vorgeschriebene Geh- und Stehordnung einzufordern.
Und je unverschämter die beiden Benimm-Verletzer ihn anlächeln, desto trauriger schaut er vom einen zum anderen, nicht weil er nicht wüßte – schließlich bezahlt er in regelmäßigen Abständen die im Spanferkel offengebliebenen Biere –, sondern weil sie ihm die flüchtige Illusion persönlicher Freizügigkeit auf so ordinäre Weise vergällen."