E-Book, Deutsch, 368 Seiten
Frizzell Panic Years
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-455-01398-6
Verlag: Atlantik Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dates, Zweifel und die eine große Frage im Leben
E-Book, Deutsch, 368 Seiten
ISBN: 978-3-455-01398-6
Verlag: Atlantik Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Nell Frizzell ist eine britische Autorin, Journalistin und Podcasterin. Sie schreibt unter anderem für The Guardian, Vogue, Time Out, Elle und The Telegraph. Panic Years ist ihre erste Buchveröffentlichung und war ein großer Erfolg in Großbritannien.
Weitere Infos & Material
Einleitung
Am Morgen meines achtundzwanzigsten Geburtstags wachte ich allein in einem Einzelbett im Gästezimmer meiner Mutter auf und erinnerte mich daran, dass mein Freund der letzten sechs Jahre nicht mehr mein Freund war. Während ich vom Gewicht meines eigenen Herzens auf die Matratze gedrückt wurde, kam mir der Gedanke, dass ich mich zum ersten Mal seit langer Zeit allein fühlte, fremd, unsicher und ungebunden.
Am Morgen meines dreißigsten Geburtstags wachte ich im Bett neben meiner besten Freundin auf. Sie war im fünften Monat schwanger, hatte einen Immobilienkredit aufgenommen und war verlobt. Ich war ein kinderloser Single und würde bald überflüssig sein. Ich blickte zu ihr hinüber, während die grelle Dezembersonne durchs Fenster kreischte wie ein Feueralarm, und fühlte mich, als stünde ich auf einem Bahnsteig und sähe zu, wie meine Freundin außer Sichtweite verschwand.
Am Morgen meines dreiunddreißigsten Geburtstags wachte ich neben einem Mann im Bett auf, den ich liebe, mit einem zwei Wochen alten Baby, das neben mir so sanft atmete, dass ich zum 578. Mal seit seiner Geburt eine Hand ausstrecken und sein Gesicht berühren musste, um sicherzugehen, dass es noch am Leben war. Mein Bauch fühlte sich an wie nasser Schlamm. Meine Augen waren vom andauernden Weinen zu Lychees angeschwollen. Seit den letzten paar Wochen meiner Schwangerschaft hatte ich nicht länger als drei Stunden am Stück geschlafen, ich trug eine Binde in Luftmatratzengröße und roch nach vergorener Milch. Als eine blassrosa Dämmerung die Baumkronen entlang des Flusses Lea küsste, zog ich mir einen XL-Herren-Jogginganzug und Socken von meinem Freund an, schlich mich aus meiner überhitzten kleinen Wohnung, überquerte die Fußgängerbrücke zu den Walthamstow Marshes, hielt mein Gesicht in die Sonne und brüllte.
In kürzerer Zeit, als meine Schwester brauchte, um ihren Führerschein zu machen, hatte sich mein Leben vollkommen auf den Kopf gestellt. Ich hatte die Sicherheit einer Beziehung aufgegeben, hatte mich mit der endlichen Natur meiner Fruchtbarkeit auseinandergesetzt, zeitweise eine sorglose Verderbtheit an den Tag gelegt und schließlich eine komplett neue Identität angenommen. Diese Veränderungen hatten dazu geführt, dass ich jetzt ein Baby hatte, aber ob es nun darum geht, eine langjährige Beziehung zu beenden, in ein anderes Land zu ziehen, einen neuen Karriereweg einzuschlagen, zu heiraten oder einen Nervenzusammenbruch zu erleiden: Während dieser namenlosen Periode in unseren späten Zwanzigern, unseren Dreißigern und nicht selten auch noch Vierzigern geschehen meist enorme Dinge, nach denen es oftmals kein Zurück mehr gibt. Eltern zu werden ist dabei die einzige Entscheidung, die mit einer biologischen Deadline versehen ist, und auch die einzige, die sich tatsächlich nicht mehr umkehren lässt: Daher ist sie die eine Entscheidung, die alle anderen so scharf in den Fokus rückt. Man kann sich einen neuen Job suchen, umziehen, neue Freundschaften schließen, neue Partner oder Partnerinnen finden, aber sobald man zu Eltern wird, bleibt man es fürs Leben.
Trotzdem hat diese Periode keinen Namen. Im Gegensatz zu Kindheit, Jugend, Menopause oder Midlife-Crisis haben wir keinen allgemeingültigen Begriff für den Tumult aus Zeit, Hormonen, gesellschaftlichem Druck und Sehnen nach einem Kind, der über viele Frauen mit Ende zwanzig, Anfang dreißig hereinbricht. Es gibt keinen medizinischen Fachbegriff, kein zusammengesetztes deutsches Wort, nichts auf Lateinisch, Arabisch oder Französisch. Die Astrologie mag auf die Sieben-Jahres-Zyklen der Rückkehr des Saturn verweisen, aber diese vage Formulierung erzählt nur wenig von Mut und Größe, Blut und Tränen, Reisen und Transformationen, die ich sowohl an mir selbst, als auch an den Menschen in meinem Umfeld wahrgenommen habe. Während man mittendrin steckt, hat man das Gefühl, sich durch ein Netz aus unmöglichen Entscheidungen zu schlängeln – über Arbeit, Geld, Liebe, Wohnort, Karriere, Verhütung und Verpflichtungen –, von denen jede einzelne wie ein Faden an allen anderen zieht, sodass es unmöglich ist, das Ganze zu entwirren oder sich hindurchzubewegen, ohne es zu zerstören. Im Rückblick wurden viele, wenn nicht alle dieser Entscheidungen so drängend durch das pulsierende, pochende, unausweichliche Wissen um die Endlichkeit der eigenen Fruchtbarkeit, die sinkende Anzahl von Eizellen und die Tatsache, dass es der eigene Körper einem eines Tages nicht mehr ermöglichen wird, Kinder zu bekommen.
Diese Jahre sind geprägt durch die ewige Frage: Soll ich ein Baby bekommen, und wenn ja, wann, wie, warum und mit wem? Diese Frage sickert im Laufe der Zeit in jeden Bereich unseres Lebens. Sie ist das Rattern auf den Gleisen unter den eigenen Füßen. Die allem zugrunde liegende Basslinie. Ob man Eltern werden möchte oder nicht, als Person in ihren späten Zwanzigern und Dreißigern und vielleicht sogar noch in den Vierzigern bringt das langsame Verstreichen unbefruchteter Gelegenheiten eine Dringlichkeit in das eigene Leben, die sich so in keiner anderen Lebensphase wiederfindet. Man muss sich entscheiden, was man will, und zwar sofort, bevor der eigene Körper einem keine Wahl mehr lässt.
Dass es in jeder großen europäischen Sprache mehrere Wörter für die Jugendzeit gibt, aber kein einziges für diese zweite transformative Zeit im Leben einer Frau, weist auf zwei Dinge hin: Erstens lässt die Sprache uns häufig im Stich, und zweitens haben wir diese Phase nie richtig ernst genommen. Zu oft wird unsere Reise aus der Jugend hinaus, durch die fruchtbaren Jahre und hin zu einer neuen emotionalen Reife als Erwachen der Muttergefühle, als innere Unruhe oder ›lediglich‹ als das Ticken der biologischen Uhr abgetan. Dabei ist sie das komplexe Zentrum allen Drucks, aller Widersprüche und Ängste, mit denen westliche Frauen heute konfrontiert sind, von Fruchtbarkeit und Finanzen bis zu Liebe, Arbeit und Selbstwert.
Als ich mit achtundzwanzig meine Beziehung, mein Zuhause und meine Richtung verlor, sagte mir niemand, dies sei der Beginn von etwas Neuem. Niemand konnte mir kurz zusammengefasst erklären, dass aus so viel Verlust eine vollkommen neue Identität entstehen würde und dass die meisten Menschen in meinem Umfeld ebenfalls in einem Wandel begriffen waren, ob sie sich nun gerade in einer Beziehung befanden oder nicht. Wir alle kämpften mit denselben Fragen, und viele von uns fühlten sich ebenfalls gelähmt von dem Druck, große Entscheidungen zu treffen, im Hinblick auf die Elternschaft sogar unwiderrufliche. Vor der riesigen, ratternden Abfahrtszeitentafel meiner Zukunft war mir nicht bewusst, dass ich dort Schulter an Schulter mit Millionen anderen Frauen stand, die sich auf ihrer eigenen Reise durch das gleiche mütterliche Dilemma befanden.
Weil wir dieser Phase keinen Namen gegeben haben, sind wir nicht ausreichend auf sie vorbereitet, wenn sie vor der Tür steht, und haben nicht die nötigen Werkzeuge entwickelt, um unseren Weg durch sie zu finden. Das ist ein Problem, wenn Frauen dann das Gefühl vermittelt wird, alles, was in dieser Zeit geschieht, läge irgendwie allein in unserer Verantwortung und müsse von uns allein angegangen, ausgehalten und aufgelöst werden. Indem wir die Körperfunktionen der Frauen mit Hilfe von Verhütung regulieren und den Männern gestatten, als ewige Teenager zu leben – mit unsicheren Jobs, kurzen Liebschaften, pubertären Hobbys –, haben wir die Last der Entscheidung, ob man sich um ein Baby bemühen solle oder nicht, beinahe ausschließlich den Frauen aufgebürdet. Wir schirmen die Männer ab vor der Realität von Fruchtbarkeit, Familie und weiblichem Verlangen, weil uns beigebracht wurde, diese Dinge als uninteressant oder unattraktiv aufzufassen. Während meiner Zwanziger und bis in meine Dreißiger habe ich mir verzweifelt Mühe gegeben, locker und sorglos zu erscheinen, da ich glaubte, auch nur eine Andeutung meiner wahren, komplizierten Sehnsüchte – in meinem Fall nach Liebe, Bindung, Unabhängigkeit, einer erfolgreichen Karriere und schließlich auch einem Baby – würden dafür sorgen, dass ich für immer Single bliebe. Ich brachte mich selbst zum Schweigen, weil ich dadurch attraktiver zu wirken glaubte. Ich versteckte meine Schwächen, meine Wünsche und meine Gebärmutter.
Natürlich unterhielt ich mich mit meinen Freundinnen, aber ich war dabei nicht immer vollkommen ehrlich, was bedeutete, dass auch sie sich mir gegenüber nicht gänzlich öffneten. Wir setzten ein tapferes Gesicht auf und taten so, als hätten wir alles unter Kontrolle, wobei wir irgendwie die Tatsache übersahen, dass wir alle im selben Zug saßen. Ohne die üblichen Hilfsmittel aus Sprache und Etiketten, um unsere Erfahrung zum Ausdruck zu bringen, wurden wir bruchstückhaft, unsicher, ängstlich und beschämt. Nun ja, damit ist jetzt Schluss. Ich bin angetreten, um die Schultern zurückzurollen, meinen BH aufzumachen und diesem Ding einen Namen zu geben.
Im Laufe der Zeit sind mir dafür reichlich mehr oder weniger förmliche Vorschläge eingefallen. Zuerst die lustigen: fruchtbare Entscheidung, Eizellroulette, Hurkrux, Ova-Panik. Dann die Metaphern aus der Natur: die Spreu vom Weizen trennen, Lakune (eine Lücke oder ein Hohlraum im Knochen), Rubikon (ein Fluss, der unmöglich zu überqueren scheint), blaue Stunde (jene magische Zeit zwischen Tag und Dämmerung). Es gibt die lateinischen Ideen: – die Zeit der Entscheidung, – schwer von Zweifeln sein, – mit Fragen schwanger gehen. Und zuletzt sind da noch die möglichen...