E-Book, Deutsch, 202 Seiten
Fröhlich Roberto und ich
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7518-8037-4
Verlag: Friedenauer Presse
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Bund mit Büchern
E-Book, Deutsch, 202 Seiten
ISBN: 978-3-7518-8037-4
Verlag: Friedenauer Presse
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Er, Roberto Calasso, ist der Mailänder Verleger, der Autoren aus aller Welt im von ihm geführten Adelphi Verlag versammelt, und zudem ein scharfsinnig gelehrter und sprachlich eleganter Autor. Sie, Anna Katharina Fröhlich, zieht von Frankfurt nach Mornaga am Gardasee und befindet sich als junge, abenteuerliche Frau zwischen Büchern und ihrem Garten auf dem Weg zur erfolgreichen Schriftstellerin. Zum ersten Mal begegnen sich die beiden im Oktober 1995 auf der Frankfurter Buchmesse. »Eine Liebesgeschichte unter dem Stern des Reisens« beginnt – und ein Bund mitBüchern. Knapp dreißig Jahre später blickt Anna Katharina Fröhlich zurück und erzählt von der Verbindung zweier Menschen, die gemeinsam den Mut hatten, sich auf ein ganz und gar unkonventionelles Abenteuer einzulassen, das Geist und Leben zu vereinen versprach – und bis 2021 andauerte, dem Todesjahr von Roberto Calasso, der auf der venezianischen Toteninsel San Michele neben seinem besten Freund, dem Dichter Joseph Brodsky, sein Grab fand.
Anna Katharina Fröhlichs erinnerndes Erzählen ist frivol und diskret zugleich, humorvoll und intim, vor allem aber gedankenreich. Es zeichnet aufs Lebendigste das Porträt eines Menschen und den Kern im umfangreichen Œuvre eines Schriftstellers nach, der sich die Freiheit nahm, alle Konventionen des Literatur- und Wissenschaftsbetriebes zu ignorieren.
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Dass unsere Liebesgeschichte unter dem Stern des Reisens stehen würde, hatte von Anfang an in der Luft gelegen. Es interessierte mich jedoch nicht so sehr, die Welt zu sehen, als vielmehr die Welt an Calassos Seite zu sehen, eines Mannes aus besonderem Stoff. Welcher Art Wesen aber gehörte er an? Wenn man die einen Menschen zusammensetzenden geistigen Substanzen wie die Ingredienzen einer Tablette aufzählen könnte, so wäre es möglich, den Stoff eines Schriftstellers wie Calasso aus den Büchern zusammenzustellen, die er gelesen hat. Im Lauf der Jahrzehnte hatten sich Robertos Lektüren wie geologische Schichten in ihm abgesetzt, von den mesopotamischen Schicksalstafeln bis zu den Mythen der Griechen, von Giordano Bruno bis Baudelaire, von Swedenborg bis Stirner, von Pascal bis Proust. Schon als junger Mann hatte er seine literarische Neugierde in alle Himmelsrichtungen gerichtet, unermüdlich auf der Suche nach etwas, das sich im Alten Testament genauso gut wie in einem Brief von Keats finden konnte. Es verbarg sich in glühenden, eine Wahrheit bergenden Sätzen, in Satzfragmenten, zuweilen auch nur in einem Wort. Dieses Etwas verbarg sich hinter allerlei Namen: Gott, Prajapati, Ka, das Unbekannte, das Göttliche, Traum, Form, Epiphanie.
Reisen! Wenn ich an Roberto denke, habe ich das Bild des jungen französischen Orientalisten Anquetil-Duperron vor Augen, dessen leidenschaftlichen Aufbruch nach Indien Calasso in einem Aufsatz schildert. Anquetil, der eine Zeit lang an der Sorbonne Hebräisch und klassische Sprachen studierte und später eine Anstellung in der Königlichen Bibliothek bekam, wo er auf bis dahin nicht entzifferte Kopien der heiligen Schriften der Zoroastrier stieß, meldete sich 1745 als Soldat für ein nach Indien bestimmtes Schiff, um die zu ihrem Verständnis notwendigen Kenntnisse zu erlangen. Die Regierung erteilte ihm bald einen wissenschaftlichen Auftrag, sodass er, vom Militär freigestellt, als Gelehrter reisen konnte. Als ich den Aufsatz vor kurzem wiederfand, hatte ich sofort den Eindruck, dass es sich um ein verstecktes Selbstbildnis von Roberto als jungem Mann handelte: ein Abenteurer, der sich, wie Anquetil-Duperron, voller Neugier und Mut in die Welt des Unbekannten aufmacht. Calassos literarische Wanderlust hinein in die alten, verschlungenen Dschungeldickichte der Mythen war die Manie eines Mannes, der vor dem Ende seines Lebens auf die Ursprungsquelle stoßen wollte, aus der alle Götter, Mythen und Denkschulen hervorgegangen sind. Ja, im Nachhinein sehe ich Roberto als einen Mann vor mir, der die Bücher durchwandert hat, der sich durch die Veden, die Texte der klassischen Antike, das Alte und das Neue Testament, durch die französische, deutsche, italienische, englische oder spanische Literatur wie durch einen Wald hindurchgelesen hat, in der Gewissheit, während seiner systematischen Durchquerung auf einen Schatz zu stoßen, ähnlich wie Sir John Marshall, der 1922 mit seinen Archäologen im wiederentdeckten Mohenjo-Daro auf die Büste des Königspriesters stieß, einer der wenigen Funde, die der Nachwelt etwas über die Induskultur verraten. Mit Cioran teilte Calasso die Überzeugung, dass im Bereich der Kunst und des Denkens alles, was nicht in einen leicht perversen Übereifer umschlägt, oberflächlich und damit irreal bleibt.
Gegen Ende November 1995 saß ich in einem alten, sibirischen, mir von meiner Freundin Liz vermachten Pelzmantel auf dem Flugplatz von Linate und wartete auf Roberto. In meinen Händen hielt ich das Buch Liebe, Tod und Teufel von Mario Praz. Damals wusste ich noch nicht, dass Roberto bei Praz mit einer Arbeit über die Hieroglyphen im Werk von Sir Thomas Browne promoviert hatte. Calasso redete nur selten und mit gesenkter Stimme von seinem Professor, da in Rom der Aberglaube verbreitet ist, den Namen dieses Gelehrten nicht aussprechen zu dürfen, weil er als Teufel angesehen wird. Einmal erzählte Roberto mir, dass er nie am Unterricht seines Professors teilgenommen, ihm schließlich nur seine Doktorarbeit übergeben habe.
Auch wenn ich inzwischen die unüberwindbar scheinenden Hindernisse unserer Verbindung erkannt hatte, ging ich stur auf dem im Restaurant Français in Frankfurt eingeschlagenen Weg weiter, von dem sicheren Gefühl getragen, dass es keinen zweiten Weg für mich gab.
Beide etwas befangen, kamen wir lange nicht ins Reden, bis wir in London landeten.
Mit dem Taxi von Heathrow in die Innenstadt zu fahren schien mir mindestens so aufregend wie vor dem Hotel Berkely auszusteigen. An jenem Tag war der Himmel strahlend blau und Frühlingslicht lag auf den Straßen.
»Ich wünsche mir Schnee«, sagte ich, als ich hinter Roberto in das Hotelzimmer trat.
»Es wird schneien«, gab er wieder.
Ich verliebte mich in diesen Raum, so wie ich mich in alles verlieben sollte, was zu Robertos Welt gehörte, bei seiner Zahnpasta Forhans angefangen bis zu den Büchern, die er las. Hier, in dem Zimmer mit der Nummer 314, von der Roberto behauptete, sie sei die Zahl der Vollkommenheit, würde ich vier Tage lang das Glück erfahren.
Muss man Casanova sein, um zu der falschen Ansicht zu gelangen, dass Geld und Liebe ein und dasselbe seien? Für mich war dieser Raum, wie fast alle Hotelräume, die wir später beziehen würden, ein Paradies, ein »erotisches Paradies«, wie in Kafkas Das Schloß das winzige Zimmer von Pepi, Henriette und Emilie, das – »wie die antiken Mysterien – auf das Geheimnis gegründet ist«. Und wie das »winzige Zimmer der für die Reinigung zuständigen Dienstmädchen, das voll ist von Schleifen und Unterröcken«, war auch dieses Hotelzimmer »paradiesisch und höllisch zugleich«, denn wie Pepi K. liebt, voller Verzweiflung, »wie sie noch nie jemanden geliebt hatte«, so liebte ich Roberto.
Der Raum hatte eine waldgrüne Tapete. Dass auf einem kleinen Tisch ein Einmachglas voller Jelly Beans und eine rote Keksdose in Form eines englischen Busses stand, verbreitete die Luft eines luxuriösen Kinderzimmers. Aus einem der zwei Fenster sollte ich in den nächsten Tagen noch öfter blicken und mir vorstellen, wie das Leben der Bewohner dieser Straße aussah.
Dass Roberto abergläubisch war, erfuhr ich, als ich meine Kappe auf das Bett warf, die er sofort von dort wegnahm. Die Behauptung, die Casanova über seine drei Freunde Herr von Bragadino, Herr Barbaro und Herr Dandolo machte, nämlich, dass sie Leute von Geist, jedoch abergläubisch waren, galt auch für Roberto, der in K. fragt: »Aber ist Aberglaube wirklich eine Dummheit?«, oder ist er, wie Baudelaire meinte, »Born und Sammelbecken aller Wahrheiten?«.
Losgelöst von allen Sorgen, die mich zu Hause bedrängt hatten, ging ich in der milden Luft neben Roberto auf die Jermyn Street zu. An seiner Seite begann ich durch eine literarische, doch auch mondäne Schule zu gehen, die fünfundzwanzig Jahre lang dauern sollte. Alles erregte neben ihm meine lebhafteste Aufmerksamkeit, von einem hinkenden Pudel bis zu der Aufschrift Azerbaijan Air Ways, die mir vorher niemals aufgefallen wäre. Gleichsam Schritt für Schritt begann ich, ohne dass mir das damals zu Bewusstsein gekommen wäre, seine Art des Sehens zu erlernen und mir nach und nach anzueignen. In seinen Gesten und Zügen lag viel Vertrautes. Überhaupt fand ich an seiner Seite einiges aus der Welt meiner Kindheit wieder, wie die von Beklemmung getragenen Sonntagsspaziergänge mit meinem Vater, der meine Hand hielt wie Roberto, mit jenem warmen Griff, der befriedende Kraft besaß.
Auf diesem ersten Weg durch die Straßen von London führte er mich in ein Hutgeschäft, in dem ich eine Reihe von Hüten anprobierte, bevor wir zur Green’s Bar weitergingen, wo ein Kellner gerade einen Hummer aus einem Aquarium fischte. Hier saßen Männer in dunklen Anzügen, die Weißwein tranken und Austern schlürften. Über den jungen, dicken Herrn am Nachbartisch, mit einem Gesicht rund wie eine Oblate, flüsterte Roberto mir zu: »Ein Wahnsinniger! Sieht aus wie der dritte Mann.« Bis heute ist der Eindruck in mir haften geblieben, dass es auf der Straße vorweihnachtlich dunkel war, während in Wahrheit die Sonne schien. Wahrscheinlich hatte die Bar dunkle Fenster.
Inzwischen ist mir klar, dass Calasso damals eine Art Pilgerreise durch London mit mir unternahm, indem er keine der Stätten ausließ, die eine Bedeutung für ihn hatten. Von Green's aus gingen wir zu Fuß zu der von Thomas Carlyle gegründeten London Library, wo Roberto, wann immer er in die Stadt kam, viele Stunden verbrachte, die Bibliothek auch, wie er erzählte, finanziell unterstützte. Uns leise unterhaltend, zogen wir durch die stillen Räume, wo nur das Umblättern von Buchseiten zu hören war. Roberto führte mich zu einem Schrank mit zahllosen Schubladen, versehen mit Schildern, auf denen in Handschrift die Buchstaben des Alphabets standen. Noch immer sehe ich einen älteren Herrn vor mir, der mit einer Zeitung in einem tiefen Sessel saß und uns über den Zeitungsrand hinweg neugierige Blicke zuwarf.
Ich machte damals zwar den Eindruck, mich ganz gut in der Welt auszukennen, und hatte tatsächlich an der Seite eines Freundes, der mir unter einem Panamahut Florenz und Paris gezeigt hatte, einen besonders schönen Teil von ihr gesehen, doch Smython in der Old Bond Street wirkte wie ein bislang unbekannter Tempel mondäner Papiersymbole auf mich. Damen mit großen, blauen Papiertüten suchten hier schon ihre Weihnachtsgeschenke aus, Golfnotices, Guestbooks,...