E-Book, Deutsch, Band 1, 304 Seiten
Fromm THOR und der Gott des Feuers
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-9819732-8-0
Verlag: Primero
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein fesselnder Science-Fiction-Roman mit mythischer Tiefe
E-Book, Deutsch, Band 1, 304 Seiten
Reihe: THOR – die Götter kehren zurück
ISBN: 978-3-9819732-8-0
Verlag: Primero
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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1
Niemand kannte seinen Namen. Sie nannten ihn »Cee«, aber wofür das C stand, wusste nicht einmal er. Die anderen hatten wenigstens Namen: Wolf, Ratz und Hipp saßen vor der ausgebrannten Ruine eines Supermarkts und blinzelten hinter ihren dunklen Schutzbrillen über den von Granattrichtern übersäten Parkplatz in die Sonne. Das Licht war nicht stark, aber zu stark für jemanden, der sein Leben hauptsächlich in einem spärlich beleuchteten Bunker verbracht hatte. Es war beinahe wie eine zweite Geburt, endlich einmal ohne Luftfilter zu atmen. Das ölige Wasser ließ die Granattrichter aussehen wie Augen, die tückisch jede menschliche Bewegung überwachten. Die Sonne bohrte zwar wieder einige dünne Strahlen durch den kilometerdicken Ring aus Asche, universalem Schrott und Fallout, aber ihr Licht war das kalte, kraftlose Lächeln einer Schwerkranken, das kaum die Haut erwärmte. Es war der siebte Tag, seitdem sie das erste Mal ohne Schutzanzüge die Bunkeranlagen verlassen hatten, diese aus grauem Beton gegossenen Gänge und Räume, ein vibrierendes Nervengeflecht im Schädel des Bergs, das, seitdem sie denken konnten, ihr Zuhause gewesen war. Tief unter der Erde hatten sie die Atompilze überlebt, unterhalb einer Raubritterburg, die Jahrhunderte bevor sie mit neuem Krieg überzogen wurde, bereits eine finstere, rußgeschwärzte Ruine gewesen war. In ihrem Labyrinth waren sie zu neuen Raubrittern herangewachsen, gemeinsam mit ungefähr 200 anderen, die widerstandsfähig genug gewesen waren, um die Strahlendosis von bis zu 50 Gy zu überleben: Mit Konserven, deren Verfallsdatum irgendwann abgelaufen war, und Wasser, das aus unterirdischen Rinnsalen tröpfelte und die Geigerzähler auf bis zu 40 Kilobequerel ausschlagen ließ. Seit einigen Wochen zeigte das Wasser nur noch fünf Kilobequerel an und die Strahlendosis war auf 120 Millisievert gesunken, falls ihre jahrzehntealten Messinstrumente stimmten. In ihrer letzten Versammlung, die sie »Thing« nannten und vor zehn Tagen abgehalten hatten, hatte die Mehrzahl der Mitglieder von »Thor« zugestimmt, das Restrisiko, das mit der Strahlung verbunden war, einzugehen und zu einem Leben über der Erde zurückzukehren. Es blieb ihnen auch nichts Anderes übrig. Die Konserven, die Thors Krieger, geschützt durch ABC-Anzüge, auf ihren Streifzügen erbeutet hatten, gingen endgültig zur Neige und die Abgesandten der verbündeten »Gladiatores« am Unterlauf des großen Flusses hatten den drei Brüdern bei ihrem letzten Besuch und Warenaustausch zu verstehen gegeben, dass sie Thor zwar als treuen Verbündeten schätzten, aber selbst keine Konserven mehr besaßen und Thor, wie alle anderen auch, sich ernsthaft mit Ackerbau befassen müsse. Der Fluss würde dabei keine Hilfe sein. Alle nannten ihn Veleno, weil er nur noch eine stinkende Kloake war, in der missgestaltete Fische und übergroße Echsen, die seit Jahrmillionen jeder Vernichtung und jedem Gift trotzten, ihr Unwesen trieben. Für eine Bewässerung kam er nicht infrage. Die Strahlung verseuchte Luft und Erde sehr unterschiedlich. Die Supermarktruine und ihr Parkplatz am Fuß des Burgbergs waren relativ sauber, aber insgesamt war der Boden rund um die Ruine immer noch gefährlich stark kontaminiert. Deshalb hatten die Gladiatores Thor ein Tauschgeschäft in Aussicht gestellt: Zwei Zwanzigtonner mit sauberer Erde gegen zwei Tanklastzüge voller Diesel oder Normalbenzin, nach wie vor die wichtigsten Flüssigkeiten neben trinkbarem Wasser, wobei trinkbar in diesen Zeiten alles war, woran man nicht umgehend verstarb. Obwohl keiner wissen konnte, ob dieses lebensgefährliche Unternehmen gut für sie ausgehen würde, hatten die vier im Augenblick blendende Laune. Das lag an den Bikes, die trotz der kümmerlichen Sonne vor ihren Augen glänzten. Keine verdreckten Crosser, die sie auf ihren Raubzügen benutzten und an denen alles krumm und verbogen war. Diese edlen Konstruktionen aus Stahl und Titan, die ihr Vater und ihr ältester Bruder Tommi in jahrelanger Arbeit aus den Trümmern ehemaliger Rennmaschinen gebaut hatten, ließen sie in tiefe Bewunderung versinken. Jeder hatte seinen Liebling: Cees Augen wanderten den aus dem Vollen gefrästen Rahmen seiner divenhaften Rakete entlang, Ratz bewunderte einen blutroten Tank, Wolf und Hipp reservierten ihre erotischen Gefühle für robuste PS-Hämmer allererster Güte. Sie kannten jeden Winkel, jede Metallvertiefung, jede Schraube dieser Bikes. Ihr Vater hatte sie in die Wartung eingewiesen, bis sie die Maschinen im Schlaf zerlegen und wieder zusammenbauen konnten. Beide, Tommi vor über zwanzig, ihr Vater erst vor zwei Jahren, waren gestorben, trotz Schutzanzug zerfressen von den radioaktiven Substanzen, denen sie sich immer wieder aussetzen mussten, um ihren Bunker gegen Eindringlinge zu verteidigen und Lebensmittel zu besorgen. Aber diese Bikes waren geblieben und funkelten in der Sonne. Heute war ein besonderer Tag. »Schöne, frische Luft«, flüsterte Cee. Seine Stimme klang heiser, wie das Zischen einer der Schlangen, die sie manchmal auf den staubtrockenen Pisten überfuhren. Keiner wusste, ob seine Heiserkeit der Beginn einer gefährlichen Krankheit war. Man wusste nicht viel, außer ob man lebte oder starb. Medikamente und Fieberthermometer gab es nur noch für die Schwerkranken und an den Geschmack der Jodtabletten, die sie als Kinder bekommen hatten, konnten sie sich kaum noch erinnern. Das beste Medikament gegen die Radioaktivität war der selbstgebrannte Wodka der Gladiatores, der mit echtem Vorkriegswodka, den sie sich nur noch in den seltensten Fällen organisieren konnten, nicht mehr viel zu tun hatte. Er brannte wie die Hölle, ein Vorgeschmack auf das Jenseits. Cee hustete, grinste. Die Lippen der anderen folgten. Sie alle konnten über die Krankheit, den Tod lachen. Das war die beste Möglichkeit zu überleben. Nicht von Angst zerfressen im Bunker zu vegetieren wie der Erzeuger von Wolf, Ratz und Hipp, dem am Schluss wahrscheinlich nicht einmal die Radioaktivität, sondern die Panik vor der großen, endgültigen Dunkelheit zum Verhängnis geworden war. Jeden Tag bereit sein zu sterben! Wolf, Ratz und Hipp versuchten, nach diesem Motto zu leben, aber verinnerlicht hatte es nur Cee. Das wussten die drei Brüder und deswegen bewunderten sie Cee wie einen Freund und fürchteten ihn insgeheim wie einen Feind. »Wer zuerst bremst, stirbt als Zweiter!« Cee schwang sich auf sein Bike, seine Hände umfassten kurz die nagelneuen Gummigriffe des Lenkers. Er drehte den Zündschlüssel und startete den Motor mit einigen kurzen Gasstößen, die wie dumpfe Glockenschläge aus einem Lichtjahre entfernten Bikeruniversum klangen. Der bereits kahle Wolf, dessen knochige Gesichtszüge einen eher unentschlossenen Geist verbargen und der lieber in Büchern las, als Befehle zu erteilen, rollte seine Maschine mit giftigem Fauchen neben Cee. Ratz, in dessen hübschem Gesicht alles etwas zu groß geraten war, folgte mit seiner dunkel grollenden Zweizylinder-Schönheit und Hipp, der Jüngste, der sich bis vor drei Jahren ausschließlich von Babynahrung ernährt hatte und der ein unnachahmliches Talent besaß, immer die richtigen Dinge zum falschen Zeitpunkt zu sagen, fuhr seinen PS-Hammer, der, wie seine gesamte Kleidung, zwei Nummern zu groß für ihn geraten war, neben sie. Die ganze Woche hatten sie ihren Rundkurs ausbaldowert, gereinigt, gepflegt. Die Schikane zwischen zwei ausgefransten Granattrichtern war der erste riskante Punkt, gefolgt von einer Kehre mit glattem, schlechtem Asphalt, aus der man direkt auf den nächsten Tümpel zuraste, bevor man scharf rechts in eine tückische Bodenwelle abwinkeln musste. Der gesamte Kurs über den Parkplatz maß nicht mehr als 800 Meter, aber er hatte es in sich, wie sie bei einigen Proberunden festgestellt hatten. Das war etwas Anderes als die Crossbikes, mit denen man zwar mühelos einen Zwanzig-Meter-Satz hinlegen konnte, aber nicht mit 170 PS auf dem Hinterrad aus einer Erster-Gang-Kehre rausbeschleunigen. Sie stülpten die Helme über, rollten nebeneinander an den Start, der durch einen Erdwall neben dem schmalen Asphaltband markiert war. Warfen sich verstohlen letzte Blicke zu, die den Grad an Mut und Angst in den Augen des anderen abschätzten. Eigentlich waren die Bikes viel zu schade, um sie auf so einem Micky-Maus-Kurs zu verheizen, Juwele, die einen Platz im Museum verdienten, andererseits waren sie lange genug sinnlos herumgestanden. Jetzt ging es darum, die Kraft der Motoren, die Elastizität des Fahrwerks durch die traumatisierten, schmerzgepeinigten, erkalteten Zellen ihrer Fahrer zu jagen, bis alles wieder voller Leben und Wildheit glühte. Der rhythmisch zunehmende Applaus ihres Publikums spornte sie zusätzlich an. Alle, bis auf die paar Psychos und Intelligenzbestien, die sich nicht aus dem Bunker trauten, waren gekommen. Eine Meute aus zahnlosen Zwanzigjährigen, deren Gesichter von jahrzehntelangen Entbehrungen gefaltet waren und vor deren ausgemergelten Körpern...