Früchtl | Demokratie der Gefühle | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 183 Seiten

Reihe: Blaue Reihe

Früchtl Demokratie der Gefühle

Ein ästhetisches Plädoyer

E-Book, Deutsch, 183 Seiten

Reihe: Blaue Reihe

ISBN: 978-3-7873-4081-1
Verlag: Felix Meiner
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Vor dem Hintergrund einer zunehmend von politischen Emotionen geprägten gesellschaftlichen Lage stellt das neue Buch von Josef Früchtl die grundsätzliche Frage nach dem Zusammenhang von Gefühlen und Politik und verbindet sie mit einer ästhetischen Perspektive.
Auf zentralen gesellschaftlichen Ebenen – technologisch in den digitalen Netzwerken mit ihren 'hate speeches' und 'shit storms', ökonomisch im kapitalistisch rasenden Prozess der Globalisierung, kulturell im Kampf religiös unterfütterter Wertsysteme und staatspolitisch im kriegerischen Zerfall von Nationen – haben sich in den vergangenen zwei bis drei Jahrzehnten die Schleusen für eine Politik der Emotionen geöffnet. Welche Rolle aber spielen Gefühle in einer demokratischen Lebensform? Und welche Rolle kommt den von Kunst und populärer Kultur angeleiteten Erfahrungen dabei zu? Die entscheidende Frage kann heute nicht mehr sein, ob, sondern in welchem Ausmaß und in welchem Sinn Gefühle eine Rolle im demokratischen Streit spielen und spielen sollen. Auf diese Frage – so die These Früchtls – gibt es vier zentrale Antworten. Im politischen Zusammenhang verlangen Gefühle nämlich nach einer zeitgemäßen Form der Darstellung, nach Mäßigung, nach balancierendem Ausgleich und nach sinnvoller Umwandlung. Diese vierfache Reaktion lässt sich entweder unter Mithilfe von ästhetischen Erfahrungen oder sogar in ausgezeichneter Weise durch sie erreichen.
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Autoren/Hrsg.


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I.Historisch-phänomenologische Analyse politischer Gefühle
1.Empörung, Wut, Zorn
Protest in Amsterdam Üblicherweise beginnt alles mit Ärger, jedenfalls wenn es um Politik geht. Es ist ein Gefühl, das aufkommt, weil etwas oder jemand einen stört, belästigt, plagt, nervt. Es gibt dann ein Hindernis für das, was man gewöhnlich tut. Ärger an sich deutet nicht auf ein wirkliches Problem, eines, das sofort gelöst werden müsste oder nur unter erheblichem Aufwand gelöst werden könnte. Ärger ist wie eine Fliege, die einem um den Kopf surrt, über das Kinn krabbelt und die Nase kitzelt. Man versucht, sie zu verjagen, ein, zwei, mehrere Male. Und schließlich lässt man es, entweder weil man zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt ist oder zu müde oder vollkommen entspannt, »gelassen« im Deutsch-Heidegger’schen Sinn. Oder man reagiert verärgert, ungehalten, selbst etwas wütend und versucht, »dieses Miststück« zu fangen, zu erschlagen oder gar zu erschießen. Berühmte Beispiele aus unserer Werbe-, Comic- und Filmkultur sind das HB-Männchen (»Halt, wer wird denn gleich in die Luft geh’n! Greife lieber zu HB. Dann geht alles wie von selbst«), von den ausgehenden 1950er Jahren bis in die 1980er eine der bekanntesten und erfolgreichsten Zeichentrickfiguren in der deutschen Werbegeschichte; die Zigarette gilt hier (noch) als Beruhigungs- und Problemlösungsmittel. Als spaßige Zwischenoption darf man die berühmte Eröffnungssequenz von Sergio Leones Spiel mir das Lied vom Tod ansehen. Einer der Revolvermänner – dargestellt von Jack Elam in seinem unrasiertesten und verknittertsten Gesicht – fängt eine Fliege im Pistolenlauf und horcht dann geradezu zärtlich nach ihrem verzweifelten Brummen. Ärger kann sich also in Ungehaltenheit und Wut transformieren. Das lästige Gefühl von Ärger bläst sich dann selber auf. Ungehaltenheit, Wut und schließlich auch Zorn können nicht stillsitzen. Sie müssen gegen ihre Ursache angehen; sie müssen handeln. Geschieht dies nicht, schlucken – wie man zutreffend sagt – die Menschen ihre Wut hinunter, transformieren sie eine psychische in eine physische Tatsache und werden früher oder später krank. Auf dem Terrain, das man im Deutschen immer noch »Bildungspolitik« nennt, im Englischen Higher Education, lässt sich so eine Entwicklung – vom Ärger zum Zorn – seit Mitte der 1990er Jahre beobachten. Das ist im Übrigen auch die Zeit, in der im intellektuellen Diskurs der Begriff der Postmoderne langsam verschwindet. Zu dieser Zeit hat sich der Begriff des Neoliberalismus, ursprünglich der Name einer ökonomischen Theorie, die in den 1960er Jahren an der University of Chicago ausgearbeitet wird, erfolgreich im politischen Diskurs etabliert als Kernbegriff für die Deregulierung von Marktverhältnissen und die Privatisierung staatlicher Einrichtungen wie etwa dem Schul- und Hochschulsystem, dem öffentlichen Verkehr, der Energieversorgung, dem Wohnungsbau- und Mietsektor, der medizinischen Versorgung und der Polizei. Was unter dem Regime von General Pinochet und seinen »Chicago Boys« in den 1970er Jahren in Chile begonnen hat, wird von Ronald Reagan und Margret Thatcher, den Bannerträgern des Konservatismus in den 1980er Jahren, übernommen und schließlich an strebsame Sozialdemokraten wie Tony Blair und Gerhard Schröder (»der Genosse der Bosse«) in den 1990er Jahren weitergereicht. Zu dieser Zeit beginnt der Neoliberalismus – nun bereits ein Kampfbegriff7 – die europäischen Universitäten in seinem Sinn zu formieren. 1999 unterschreiben die europäischen Repräsentanten der Bildungspolitik die sogenannte Bologna-Erklärung in der Absicht, einen vereinheitlichten europäischen Bildungssektor zu schaffen. Wesentliche Elemente sind das zweiphasige Graduierungssystem (BA und MA), das European Credit Transfer System (ECTS) und ein auf den Arbeitsmarkt ausgerichtetes Studium. In den Niederlanden entscheidet die Regierung – auch hier geführt von einem Sozialdemokraten, Wim Kok – bereits ein paar Jahre vorher, 1995, öffentlichen Institutionen wie Universitäten, Schulen und Krankenhäusern die Verantwortung für ihre Immobilien zu übergeben. Diese Entscheidung hat dann einschneidende Konsequenzen. Als die Universität von Amsterdam (UvA) das Projekt vorstellt, sich städteplanerisch um vier »Zentren« (Campus) herum zu reorganisieren, ist der erste Schritt in einen langsam anwachsenden Schuldenabgrund getan. Um es mit ein paar Zahlen zu resümieren: 2008 – dem Jahr des Bankrotts von Lehman Brothers – nimmt die UvA ein Darlehen von 55 Millionen Euro auf. Zum ersten Mal in ihrer langen Geschichte seit 1632, dem viel beredeten Goldenen Zeitalter, wird diese Universität zum Nettoschuldner. 2011 ist die Nettoschuld bereits auf 136 Millionen Euro angewachsen, 2018 erwartet man eine Schuldenlast von 400 oder sogar 576 Millionen Euro.8 Diese Entwicklung geht einher mit einer Veränderung der Verwaltungsstrukturen, nun Management genannt, die sich bei den Angestellten im zentralen Verwaltungsgebäude – dem Maagdenhuis (Haus der Jungfrauen), so genannt, weil es einst ein Waisenhaus für katholische Mädchen war – im Jahr 2015 folgendermaßen dokumentiert: Es gibt 21 Angestellte für Immobilienmanagement, 13 für den Bereich Finanzen, 8 für den Bereich Kommunikation (sprich Werbung) und schließlich 7 für Lehre und Forschung, also für jenen Bereich, der den Kern der Universität ausmachen sollte. An der UvA ist er zusammengeschrumpft auf ein Siebtel des gesamten Umfangs. Diese ökonomische Entwicklung bringt eine drastische Veränderung der akademischen Arbeit mit sich, eine Veränderung, die in kleinen Schritten einsetzt und daher schwer als das zu identifizieren ist, was es tatsächlich ist: die Ausrichtung akademischen Lebens in Begriffen quantifizierbarer ökonomischer Effizienz, Profitabilität und Transparenz (deren Kehrseite Kontrolle heißt). Jeder einzelne dieser kleinen Schritte ist für die, die dieser Entwicklung kritisch gegenüberstehen, nur ärgerlich und erscheint nicht offensichtlich als gefährlich, aber die Summe führt zu einem »moralischen Schock«.9 Dieser Schock stellt sich ein, als im Herbst 2014 – nur zwei Jahre nach der letzten Restrukturierung der Ausbildungsgänge der Fakultät der Geisteswissenschaften – ein neuer Plan aufkommt. Als Ursache werden dieses Mal die Finanzen angegeben. Zunächst ist zu hören, dass die geisteswissenschaftliche Fakultät etwa 300.000 Euro einsparen müsse. Nicht dramatisch, jedenfalls vorerst. Aber schnell wächst die Summe an auf drei, dann acht und schließlich zwölf Millionen. Niemand weiß Genaues. Und niemand kann erklären, wieso es binnen eines Jahres – im letzten Jahresbericht ist noch von einer finanziell gesunden Fakultät die Rede – zu einem solchen Schuldenberg hat kommen können. Der Dekan der Fakultät kündigt eine »efficiency-battle« an, deren Kern schlicht darin besteht, dass knapp hundert (wissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche) Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen – auch solche mit festen Verträgen – entlassen werden sollen. Denn unter dem Stichwort »Restrukturierung« ist ebendies möglich: die Schließung von Instituten und die Entlassung festangestellter Dozenten. Dies ist der Moment, als die politisch aufgeladenen Emotionen explodieren. Die ersten Briefe und Petitionen zirkulieren, und als eine große Gruppe aktiver Studenten und Studentinnen eine »Night of Protest« organisiert, kann man erleben, wie all die Frustration und all der Ärger, der sich – auch bei vielen Dozenten – angestaut hat, losbricht. Wenig später besetzen die Studenten das Verwaltungsgebäude der Fakultät. Und dann macht das Rektorat der Universität seinen ersten großen Fehler, denn es will durch Gerichtsbeschluss festlegen, dass jeder Besetzer für jeden Tag der Besetzung eine Summe von 100.000 Euro bezahlen müsse. In diesem Moment schießt die Solidarisierung vor allem von Seiten der Dozenten nach oben, denn so eine Summe Geld zu fordern (wiewohl das Präsidium diese Summe bei einer früheren, kleineren Besetzung schon einmal gefordert hat und daher leichtgläubig davon ausgeht, dass, was einmal geschehen ist, immer wieder geschehen dürfe), ist äußerst unverhältnismäßig. Das Fakultätsgebäude wird schließlich durch die Polizei geräumt, aber die Reaktion der Protestgruppen kommt prompt: Sie besetzen nach einer großen Demonstration das Verwaltungsgebäude der Universität, das Maagdenhuis. Für etwa sechs Wochen wird dieses Gebäude daraufhin umfunktioniert zum zentralen Ort des Protests. Vorlesungen, Workshops, künstlerische Aktivitäten, Saturday-Night-Sessions und immer wieder Vollversammlungen reihen sich aneinander. Das vormals dezent Ehrfurcht gebietende Gebäude ist zum Anschauungsbeispiel...


Früchtl, Josef
Josef Früchtl ist seit 2005 Professor für Philosophy of Art and Culture an der Universität von Amsterdam. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der philosophischen Ästhetik, der Theorien der Moderne, der Kritischen Theorie der Kultur und der Philosophie des Films. Er ist Mitherausgeber der 'Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft'.

Josef Früchtl ist seit 2005 Professor für Philosophy of Art and Culture an der Universität von Amsterdam. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der philosophischen Ästhetik, der Theorien der Moderne, der Kritischen Theorie der Kultur und der Philosophie des Films. Er ist Mitherausgeber der »Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft«.


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