Fuchs | Wir zerschneiden die Schwerkraft | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

Fuchs Wir zerschneiden die Schwerkraft

Erzählungen
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-218-01013-9
Verlag: Kremayr & Scheriau
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Erzählungen

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

ISBN: 978-3-218-01013-9
Verlag: Kremayr & Scheriau
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Klem schickt Sehnsuchtsbotschaften per Silvesterrakete zu den Sternen. Ein alter Mann flüchtet in seinen Koffer und treibt mit diesem durchs All. P. Gruber zerpflückt im Zuge mehrerer Bewerbungsschreiben sein Leben und am Ende bleibt nur eine Insel.
Es ist die Frage nach der eigenen Daseinsberechtigung, die in den Erzählungen von Irmgard Fuchs immer wieder auftaucht. Die Figuren zweifeln an sich selbst, an der Wirklichkeit und an der Welt im Allgemeinen. Sie haben ihre Schwerkraft verloren, gewinnen dadurch allerdings eine Freiheit, die es ihnen erlaubt, anders zu sein.
Irmgard Fuchs beeindruckt durch ihren genauen Blick und ihren eigenwilligen Ton, der poetisch und leicht, verträumt und ironisch zugleich ist. In ihren Erzählungen versetzt sie die Welt in eine Schieflage: Alltägliches kippt ins Groteske, das Groteske wirkt plötzlich ganz normal.

Fuchs Wir zerschneiden die Schwerkraft jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Napoleon, mon amour
In der Pause der Samstagsmatinee stürmen die Zuhörer, einer Massenpanik gleich, aus dem Konzertsaal und hin zum Buffet. Es ist noch früh am Tag und doch gieren sie bereits nach den Weingläsern, Weißwein vor allem, weil der rote ihnen am Vormittag zu schwer ist, zumindest behaupten sie das voreinander, um nicht als Trinker dazustehen. Während sie darauf warten, dass die Buffetdame sie nach ihren Wünschen fragt, sind ihre Münder, die durch die überteuerten Brötchen kurz von jeder Redeschuld befreit sein werden, bereits halb geöffnet. Wenig später rutschen sie kauend in den guten Schuhen hin und her, flanieren auf dem Parkett und halten die Stiele ihrer Gläser fest umklammert, als würde das Gefäß sie führen und erst ihre aufrechte Haltung ermöglichen. So bleibt es, bis das Klingeln den Frieden der Pause zerreißt. Beim ersten Signal widersteht das Publikum noch und will sich nicht von einer Klingel dazu zwingen lassen, in den Konzertsaal zurückzugehen, wo die Luft schlecht und die Beinfreiheit eingeschränkt ist. Doch schon beim zweiten Klingeln überkommt alle eine Unruhe, denn was wäre, wenn die richtige Tür nicht mehr auffindbar wäre oder schlimmer noch, ein anderer den eigenen Platz eingenommen hat und den roten Polstersessel mit seinem fremden Hintern flach drückt? Am Ende bleibe nur ich übrig. Ich widersetze mich dem Klingeln nicht, denn es meint gar nicht mich, weswegen ich auch kein halbleeres Glas mit zu viel Wucht auf einen der Stehtische stelle, und schon gar nicht suche ich, verzweifelt rufend, meine verloren gegangene Begleitung auf der Toilette. Ich bleibe stehen. Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, überblicke ich das Gläsermeer vor mir, innen leer, doch außen voller Fingerabdrücke, verbrauchtes Geschirr, das bis zur nächsten Pause nicht mehr benötigt wird, wo ich wieder hier stehen werde, mit den Händen hinter dem Rücken, während der Zeiger auf meiner Armbanduhr, die du immer so abscheulich gefunden hast, die Zeit schneller vergehen lässt als meine nur mit dem Mindesten entlohnte Wahrnehmung. Kein Glas, kein Feuer, kein Augenkontakt. Unauffällig, freundlich. Stolz auf die Uniform, die mich zu einem Bestandteil des Hauses macht. So soll ich mich fühlen, und ich bleibe noch für einen Moment im Pausenfoyer stehen und überlege, ob mich hier überhaupt irgendjemand als mich selbst wahrnimmt. Mich, die nicht mehr ganz junge, aber doch vom Leben noch etwas erwartende Exfrau, von deren Schicksal niemand erfährt, weil es nicht in die für alle gleiche Uniform eingeschrieben ist. 100% Polyester steht stattdessen darin und dass man sie nicht waschen darf. Meine Augen sind geschlossen wie vor einem Kuss. Im Pausenfoyer ist es still, und ich kann in Ruhe zuhören, wie jedes Glas von den Serviererinnen in die Hand genommen und auf ein Tablett gestellt wird. Ich vernehme einzelne Töne klassischer Musik und versuche ganz genau hinzuhören, ob das Konzert schon weitergegangen ist. Die Musik entpuppt sich als Handyklingeln im Gilet einer Servicekraft. Da schrillt jedoch erneut das Klingelsignal, das sonst nur den Beginn oder die Fortsetzung des Konzerts ankündigen darf, und weil dies so ungewöhnlich ist, beunruhigt es mich. Klingt so der Katastrophenalarm? Ist das jetzt der Notfall, für den ich bezahlt werde? Ich drehe mich einmal um mich selbst, wie ein Hund, der seinen Schwanz fängt. Ich lausche, aber es folgen weder Pfeifton noch Sirenen. Nur Helmut, ein Arbeitskollege, der in seinen Pausen immer zu mir kommt, taucht auf. Wenn jetzt bloß eine Flut käme. Bis in den ersten Stock müssten die Sturzwellen reichen. Das Wasser müsste sich seinen Weg über alle Absperrungen und Hindernisse hinweg bahnen, Fensterscheiben einschlagen und in die Körper derer vordringen, die sich nicht rechtzeitig in Sicherheit gebracht hätten. Wasserunmengen müssten es sein. Sie würden durch die Türen gedrückt. Auch die stärksten Wände könnten sich nur kurz zur Wehr setzen, bevor unzählige Schwachstellen auftauchen würden. Die Flut reißt die Stadt in eine unvorstellbare Tiefe und Dunkelheit, in der Gebäude in Stücke gerissen werden und die vollbesetzten Touristenbusse wie Quallen durchs Wasser treiben. Und endlich wird auch das Konzerthaus kippen. Wie die untergehende Titanic wird sich das Gebäude an einer Seite aufstellen, in der Mitte zerbrechen und sinken, während das Orchester bis zur letzten Note weiterspielt und ich nicht fliehen kann, weil ich längst in meiner Uniform am Fischgrätparkett angewachsen bin. Für mich wird es keinen Rettungsring geben. Aber das macht nichts. Zuerst werde ich mich zwar noch fürchten, wenn das Wasser über meine Knie steigt und die Flut um mich spült, sobald ich dann aber erst einmal ganz unter Wasser bin, wird es mir nichts mehr ausmachen. Dann werde ich den Besuchern von den billigen Plätzen, den Instrumenten und Wurstbrötchen in gewohnter Weise dabei zuschauen, wie sie an mir vorbeitreiben. Hinter meinem Rücken zerbricht ein Glas, es ist beim Buffet von der Theke gefallen. Es geht mich nichts an und ich drehe mich nicht danach um. Stattdessen gehe ich langsam und mich am Geländer festhaltend die Treppe hinunter. Meine Hand wird beim Abstieg vom Samtüberzug des Geländers gestreichelt, und ich halte inne, um den Stoff anzugreifen, der sich nur im ersten Moment weich und zart, im zweiten aber rau und durchgewetzt anfühlt. Ruckartig und nur durch die Nase atme ich aus, so wie ich es immer tue, wenn ich innerlich auflache. Ich lache, weil dieser Stoff ein perfektes Sinnbild für unsere Liebe ist. Bei dem Gedanken daran wird mir jedoch brennend heiß, anders als bei einer Hitzewallung, es ist eher wie eine Stichflamme in meiner Brust, und ich muss mich auf die Stufen setzen, um nicht hinunterzufallen. Einatmen, tief, und die Sorgen ausatmen. Die Flammen züngeln durch den vielen Sauerstoff höher, gelbe Spitzen, die in mich hineinstechen. Verzweifelt halte ich die Luft an und kämpfe mich weiter die Stufen hinunter, denn im Parterre gibt es eine Löschdecke, in die ich mich einwickeln kann. Am Ende des Konzerts gehen die Gäste paarweise auf die Straße hinaus. Ich schaue ihnen nach und wundere mich, dass sie alle plötzlich nicht mehr allein sind. Erst als ich einen untersetzten Mann sehe, der sich selbst nicht und nicht in den Mantel helfen kann, ich zu ihm hintrete und unaufgefordert seine Hand beherzt in den Ärmel stecke, denke ich, dass es doch noch Möglichkeiten für mich gibt. Bei dem Wort Möglichkeiten fällst aber sofort du mir wieder ein und ich ärgere mich darüber. Vor allem, weil ich deinetwegen noch Schlagobers für meinen Kuchen, den ich nur für dich gebacken habe, kaufen muss. Die Sonne leuchtet jeden Winkel der Einkaufsstraße aus, während ich sie entlang eile und Menschen ausweiche, die mich auffordern, Listen zu unterschreiben und Geld gegen das Ende der Welt zu überweisen. Ich sehe die Klemmbretter und Mappen und überlege für einen Moment, eine dieser Personen anzusprechen und zu fragen, wo man unterschreiben könne, wenn man für ein Ende sei, halte mich aber zurück und biege stattdessen in den Eingang zum unterirdisch gelegenen Supermarkt. Geblendet stehe ich da und erst als die Augen das Tageslicht vergessen haben, erhält der schwarze Gang langsam eine Farbe und die Stufen beginnen sich voneinander abzuheben. Wieder greife ich nach dem Treppengeländer, lasse die Stange jedoch sofort wieder los, als ich die kalte, harte Oberfläche in der Handfläche spüre, und für einen Augenblick ist mir, als hätte ich mir die Hand am Geländer verbrannt. Ein Mann kommt mir entgegen und trägt mehrere prall gefüllte Plastiksäckchen, die er beim Obst eingesteckt haben muss. Unbeteiligt schaut er durch mich hindurch, wie ich zuerst meine unbeschadete Hand und dann ihn studiere. Unsere Blicke treffen sich kurz, dann geht der Mann an mir vorbei und schaut auf die Stufen, während ich jetzt jedem seiner Schritte nach oben mit meinen Augen folge. Ich präge mir seine Schuhe, seine Hose und seinen Hinterkopf ein und wundere mich, warum mir der Mann so bekannt vorkommt. Plötzlich bin ich mir sicher, auch wenn die Augen nicht gestimmt haben und der Mund zu traurig nach unten gezogen war, so bin ich mir doch sicher, dass das Felix Baumgartner ist. Er muss es sein, wer denn sonst, und im Fernsehen sehen doch alle immer anders aus, entschlossener, und durch teures Scheinwerferlicht wird vielleicht jeder zu einem Helden. In der Verkaufshalle stehen lange Schlangen vor den Backwaren, den Kassen sowie der Flaschenrückgabe. Einkaufswägen werden wie kleine Schlachtschiffe durch die Gänge manövriert, eine Frau fährt ihren Wagen gegen meine Hüfte, ohne Entschuldigung weicht sie aus und verschwindet zwischen den Flaschen. Die Menschen hamstern für den einen Tag, an dem die Geschäfte geschlossen sind, als würden diese nie wieder aufsperren. Ich will mich, im Gegensatz zu allen anderen hier, nicht mit der Zukunft auseinandersetzen müssen, mit morgen, dem Sonntag meines Geburtstags, welchem du schon heute Abend beizuwohnen gedenkst, weil ich morgen bei der Abendvorstellung arbeite. Um der alten Zeiten willen, hast du gesagt, aber in Wahrheit gemeint, dass es sich eben so gehört. So oder so, ich werde das Schlagobers holen, und sonst nichts, denn nach morgen wird es bestimmt immer noch eine Welt mit normalen Öffnungszeiten geben. So schnell kann sich wohl leider keine Sturzflut bilden und auch mit Tsunamis ist in einem Binnenland nicht zu rechnen. Im flirrenden Licht des Kühlregals sehe ich, wie meine Finger zittern. Im nächsten Moment liegt der Becher massiv und gleichzeitig unsicher in meiner Hand, die sofort die Kälte der Flüssigkeit annimmt. Durch den Schlagobersbecher fallen mir die Geburtstagsfeiern meiner Tante auf dem Land ein, die wir, als ich ein Kind war,...


Irmgard Fuchs wurde 1984 in Salzburg geboren. Sie studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft in Wien und Berlin sowie Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst. Etliche Preise, Stipendien und Auszeichnungen, zuletzt: Wiener Literatur Stipendium 2013, Nominierung zum Leonce-und-Lena-Lyrikpreis 2015. "Wir zerschneiden die Schwerkraft" ist ihr erstes Buch.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.