E-Book, Deutsch, 248 Seiten, Format (B × H): 125 mm x 205 mm
Fühmann Zweiundzwanzig Tage oder die Hälfte des Lebens
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-356-02521-7
Verlag: Hinstorff
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 248 Seiten, Format (B × H): 125 mm x 205 mm
ISBN: 978-3-356-02521-7
Verlag: Hinstorff
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Franz Fühmann, 1922 in Rochlitz an der Iser (Rokytnice nad Jizerou) geboren, schrieb Erzählungen, Essays, Gedichte, Kinderbücher und verfasste zahlreiche Nachdichtungen. Zu den vielfachen Auszeichnungen seines Schaffens zählen der 'Heinrich Mann Preis' sowie in letzter Zeit mehrfach 'Die besten 7' (für die Neuausgabe der Märchen auf Bestellung) und der 'Luchs' (für die Neuausgabe des Märchens Anna, genannt Humpelhexe). Franz Fühmann starb 1984 in Berlin. Sein Werk erscheint im Hinstorff Verlag.
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15. 10.
Gespenstischer Gedanke, daß jeder Tag mit der Mitternacht beginnt, der Geisterstunde, der Stunde bis eins. Noch viel gespenstischer aber ist die Entdeckung, daß dies ja gar nicht der Fall ist: Die Mitternacht beginnt nicht um o, sie beginnt um 24 Uhr, das ist es … Der alte Tag schleift in den neuen, der dauerlose Zeitpunkt stockt eine volle Stunde, heute bleibt erst einmal gestern – da ächzen die Toten in ihren Gräbern, und die wachsamen, furchtsamen Hunde heulen
Ein Zeitpunkt – was ist das eigentlich? Dimensionslose Zeit, wie soll man sie sich vorstellen? Der dimensionslose Raum, der Punkt also, ist die Schnittfläche von zwei eindimensionalen Gebilden – was aber schneidet die Linie der Zeit? Der Meridian? Der schneidet die Projektion der Sonnenbahn. Eine zweite, andere Zeitlinie? Wie aber wäre die denkbar, und wäre sie denkbar: wie wäre sie dann zu denken? Und: Kann ein Zeitpunkt auch nur für ein Nu so existent sein, wie ein Punkt existent ist? Er ist doch immer nur das, was noch kommt oder schon gegangen ist, die Mitte zwischen zwei Grenzen, die ohne Mitte zusammenstoßen, das Präsens (– und damit auch das Präteritums)lose. Ob es Sprachen gibt, die solche Verben haben, also nur mit Zukunft und Vergangenheit
Und das Adverb für dies Gegenwartslose heißt doch »jetzt», nicht wahr (wie »da» für das Raumlose), das ist ein Geheimnis
Linien, die einander schneiden – der Sadistenclub in der Geometrie
Jene Abschiedsszene vor fünf Minuten war wohl letzten Endes darum so merkwürdig, weil es eine Frau war, die Abschied – im Sinn des Weggehens – nahm. Dies ist ein neues, noch unentfaltetes Mythologem – in den überlieferten nehmen stets die Männer von den Frauen Abschied, ich kenne wenigstens kein andres. Ariadne geht zurück, nicht fort; Helena wird geraubt, und wenn Kore Abschied nimmt, verläßt sie nicht den Mann, da verläßt sie die Mutter
Reiselektüre: Einer bewährten Praxis folgend, sollte man stets etwas Andersartiges wählen, für eine Krimreise etwa die Schilderung einer Nordpolexpedition. Was sucht man da aus, wenn man nach Ungarn fährt, diesem Kreuzpunkt aller nur denkbaren historischen und geistigen Linien? Ich habe lange gesucht und immer wieder verworfen; ich wollte schon die Bibel mitnehmen, schließlich entschied ich mich für Jean Paul: Des Feldpredigers Attila Schmelzle Reise nach Flätz – ich glaube, das müßte trotz des Namens zu Ungarn ein Anderes sein
Belustigend fratzenhaft die Idee zu einer Geschichte, ein häßlicher Einfall, und plötzlich wie ein vergeltender Faustschlag die Müdigkeit
Einschlafen im fahrenden Zug: Erinnerung aus frühesten Tagen, vielleicht aus frühesten Zeiten der Wanderschaft: gedämpftes Stampfen von vielhundert Füßen, Rhythmen, Geborgenheit, huschendes Dunkel und sanftestes Schaukeln, Geraun fremder und doch vertrauter Laute, und dazu diese seltsam körperlosen und doch so bestimmt dich an Schulter und Hüfte fassend- und führenden Schübe und Züge der Fliehkraft in den Kurven ins Unbekannte
Nach Paß und Zoll, Zoll und Paß und langem, traumlosem Schlaf: Wo sind wir? Eine Böschung, darüber nur einzelne Kronen junger Kiefern, ganz würdevoll-ungestüm unterm gleichmäßig grauen Himmel – wo
Im Spiegel des Toilettenschränkchens wandert die Gegend entgegengesetzt zur Bewegung, die sie dem Blick aus dem Fenster bietet, und wenn sie dort von dir zu fliehen scheint, kommt sie im Spiegel auf dich zu. Die Zukunft zeigt sich als Gegenwart; Gestalt und Dauer der Welt draußen wird verdoppelt; ein magischer Gewinn, aber diese Doppelung erzeugt auch Schwindel, man kann seinen Platz nicht mehr bestimmen; die Frage: vorwärts oder rückwärts wird sinnlos, und die zerteilte Welt läuft in der Fuge von Spiegel und Fenster zusammen und schiebt sich in sich und hebt sich auf: Antimaterie und Materie, einander lautlos in einem Flimmern treffend und sich lautlos eins im andern vernichtend
Ist in jedem Jetzt Zukunft da? Es scheint so
Kalkweiß, mondweiß: Kilometersteine vor dem dunkelgrünen Wald hinter der sumpfigen Wiese: Wolfszähne in einem Walfischrachen. Jedesmal sehe ich diese eine, kaum zehn Zugsekunden lange Stelle, und jedesmal weiß ich, daß es jetzt langweilig wird, und schaue doch noch lange hinaus
Bratislava: Vier Soldaten, im Laufen aus Biergläsern trinkend, und hinter ihnen eilig trippelnd eine zarte kleine Frau mit einem riesigen Teddy quer in der Hängetasche, eine merkwürdige, auch durch die Bewegung so merkwürdige Pietà
Zigarettenpaffende Frauen: Ungarn ist nahe
Zwei Bauernmädchen mit Regenschirmen
Der frappierende Anblick auf einem Bahnhof: ein Schornsteinfeger mit Leiter, Kugel und Hut. Warum verblüfft, ja erschreckt einen dies so? Ein Indianer im Kriegsschmuck würde staunen machen, aber nicht so verblüffen. Nicht das Durcheinanderbringen von Geographischem bestürzt, sondern das von Tätigkeiten. Nicht der exotisch Fremde ist uns unheimlich, sondern der, von dem wir nicht wissen, was er tut oder eigentlich tut – Hoffmanns Hofräte zum Beispiel, oder, im Passiv, Gogols Aktenkopisten
Schmutz, wie bekannt, ist Materie am falschen Ort. Wäre Schrecken falsches Funktionieren? Dies erklärte auch seine Nähe zum Gelächter
Hinterm Bahnhof zwischen Krähenschwärmen massenhaft braune und graue Papierfetzen wie kleine Drachen, in heftigen winzigen Rucken sich hochschnellend oder stürzend und von erschreckender Bösartigkeit
Letzter Gruß aus der Slowakei: eine Zeile grüngedachter bunter Bienenhäuser, die Vorderfronten blau, grün, rot, gelb in allen Kombinationen wie Standarten von Vaterländern, eine summende friedliche Koexistenz! Und noch ein Gruß: vorm Maisfeld ein himmelblaues Auto, umringt von spielenden weißen Hühnern, an denen vorbei zwei Fasane schreiten
Nicht mehr in dem einen, noch nicht in dem andern Land: Drei Stunden Verspätung! Da hast du deine Mitte zwischen zwei Grenzen! Und ich hatte doch gerade diesen (unbequemen) Zug gewählt, um mit einer Schilderung Esztergoms über der Abenddonau mein geplantes Reisebüchlein zu beginnen
Die Doppeldeutigkeit des Wortklangs »grüngedacht» ist ganz lustig, etwa um eine Enttäuschung auszudrücken:
Ich hatt’ es mir ganz grün gedacht,
nun aber ist’s nur grüngedacht.
Was es ja gibt. Es wird schon ein Sinn hinter solchen Gleichklängen stecken
Zu schreiben (vielleicht im Széchenyi-Familienbad): ein Heftchen Gedichte, bei denen die Überschrift allemal länger als das ihr folgende Gedicht wäre
Budapest, Westbahnhof, Taxistand, Matsch und Regen. Ein schmuddliger, angetrunkener und überhaupt rundum unsympathischer Strizzi betätigt sich als unerbetner Helfer beim Koffereinladen; man läßt es ihn merken, daß er unerwünscht ist, und gelingt es ihm doch, jemandem das Gepäck zu entreißen und in den Kofferraum zu stopfen, übersieht man seine tief ins Auto gestreckte, wippende Hand. Auch ich bin entschlossen, mir nicht helfen zu lassen, und Gábor ist es offenbar auch, doch Elga läßt ihn ihren Einkaufsbeutel verstauen und steckt ihm beim Einsteigen etwas zu. »Ja doch», sagt sie auf meine vorwurfsvolle Verwunderung, »ja doch, ein paar Forint», und begütigend, ehe ich noch schimpfen kann: »Hast du denn nicht gesehn, der muß doch jetzt trinken, und ihm fehlen noch drei, vier Forint zur Flasche, da trägt er halt Koffer, und jetzt ist er glücklich!» – »Auch ein Glück», sage ich aufgebracht, und Elga erwidert, Glück sei Glück, das habe mit Moral nichts zu tun, höchstens mit dem Gesetzbuch, und was für mich ein neues Buch sei, das sei für ihn heut abend die Flasche! Ich knurre gereizt; Gábor lächelt in sich hinein wie immer, und Elga sagt, mit dem Kopf nach mir deutend: »Er kommt halt frisch aus Preußen!» Doch da halten wir schon beim Astoria
Was diese Jahrhundertwendehotels so zauberhaft macht, ist ihre Verwandtschaft mit der Sesamhöhle. Auch wenn sie in vielem ihr Gegenstück sind (zum Beispiel aus dem Gestein der Umgebung hervortreten, statt sich ihm anzugleichen, und das Tor, statt es unsichtbar zu machen, betonen), gehören sie doch in den Bannkreis Ali Babas und Sindbads. Beim Duna-Continental oder Stadt Berlin oder Hilton-Havanna käme man gar nicht auf diesen Gedanken, sie haben zum Märchen nicht die geringste Beziehung, wohl aber zu der vollautomatischen Hühnerfabrik. Was nicht anders funktionieren könnte, als es funktioniert, ist kein Märchen, hier aber sind wir in der Sphäre des Zaubers und nehmen dafür gern auch Unbequemlichkeiten, so jetzt für die erste Woche ein Behelfszimmer (Interhotels hätten keines) in Kauf
Astoria: Auf dem Tresen der Rezeption hat jedes...