E-Book, Deutsch, 381 Seiten
Gaige Unter uns das Meer
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-7325-9502-0
Verlag: Eichborn
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Roman
E-Book, Deutsch, 381 Seiten
ISBN: 978-3-7325-9502-0
Verlag: Eichborn
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
'Amity Gaige ist eine begnadete Erzählerin. Sie ergründet unsere Gegenwart, öffnet dem Leser die Augen und schenkt Geborgenheit.' JONATHAN FRANZEN
Die Havarie einer Ehe, ein Segeltörn in der Karibik. Mit großem erzählerischem Geschick entfaltet Amity Gaige ein nautisches und menschliches Drama.
Juliet arbeitet an ihrer Dissertation und lebt mit den beiden Kindern und ihrem Mann Michael ein Vorstadtleben. Michael gelingt es, sie für seinen großen Traum zu begeistern: ein Jahr auf hoher See auf einer Segelyacht zu verbringen. Atemlos steuern wir mit der vierköpfigen Familie in der Karibik dem dramatischen Finale entgegen.
'Viel mehr als nur eine packende Story auf hoher See. Gaige ist unfassbar begabt und ihr Roman fesselt.' JENNIFER EGAN
''Unter uns das Meer' erweckt nicht nur die Gefahren auf hoher See auf brillante Weise zum Leben, sondern auch die versteckten Unwägbarkeiten von Familienleben, Mutterschaft und Ehe. Was für ein schlauer, eleganter und aufregender Roman.' LAUREN GROFF
Amity Gaiges letzter Roman "Schroders Schweigen" erschien 2013 und war für den Folio Prize nominiert. Es war eines der besten Bücher des Jahres für u.a. die New York Times Book Review, Huffington Post, Washington Post und das Wall Street Journal. Amity Gaige ist eine Fulbright und Guggenheim Fellow. Sie lebt mit ihrer Familie in Connecticut.
Autoren/Hrsg.
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I
Wo genau nimmt ein Fehler seinen Anfang? In letzter Zeit finde ich es schwer, diese einfache Frage zu beantworten. Unmöglich im Grunde. Ein Fehler hat seine Wurzeln an einem bestimmten Ort und zu einem bestimmten Zeitpunkt – wo hat man sich befunden und was hat man sich im entscheidenden Moment gedacht? Irgendwo im Schnittpunkt dieser beiden Faktoren lässt sich der Fehler finden – nautisch ausgedrückt: seine Koordinaten.
Beginnt mein Fehler beim Boot? Oder schon bei meiner Ehe? Ich glaube nicht. Seine Wurzeln muss mein Fehler in einer unschuldigen Erfahrung haben, der nachzugehen ich vergessen habe, in einem Rätsel, das mein Leben seitdem stillschweigend beherrscht hat. Zum Beispiel erinnere ich mich daran, wie ich mit zwölf Jahren neben einem blendend blauen Howard-Johnson’s-Motel-Pool gestanden und beobachtet habe, wie sich ein Paar hinter einem halb offenen Vorhang gegenseitig ausgezogen hat, während sich mein mir bereits fremd gewordener Vater in der Lobby über die Rechnung beschwerte. Hätte ich wegschauen sollen? Oder bin ich schon früher vom Weg abgekommen, als ich auf dem grob gestrickten Teppich im hellen Kindergartensonnenschein saß, mich zu dem Jungen neben mir lehnte und bereit war, mir sein aufgeregtes Flüstern anzuhören? Seinen Speichel spüre ich immer noch wie Tau in meinem Ohr.
Und jetzt sitze ich in einem Schrank.
In Michaels Schrank.
Ich sollte das erklären.
Ich bin vor ein paar Tagen eingezogen. Eigentlich habe ich etwas von ihm gesucht, aber dann ist mir aufgefallen, wie flauschig der Teppich hier drin ist. Die Klapptüren mit den Lamellen filtern das Sonnenlicht auf wunderschöne Weise. Ich komme zur Ruhe hier drin.
Sich in Schränken zu verstecken, ist eine Kinderangewohnheit, ich weiß. Als Kind habe ich mich immer im Schrank meiner Mutter verkrochen. Darin befanden sich Seidenkleider und Wollsachen, die sie nie angezogen hat. Ich habe es geliebt, mit diesen Stoffen über meine Haut zu streichen, in ihre High Heels zu steigen wie auf ein Podium und meine Zukunft zu proben. Geschämt habe ich mich dafür nie.
Ganz bestimmt gibt es einen Zusammenhang zwischen der Tatsache, dass ich früher im Kleiderschrank meiner Mutter Zuflucht gesucht habe, und der Tatsache, dass ich mich jetzt in Michaels Schrank verstecke. Aber das hilft mir auch nicht weiter.
Manchmal schreibt einem das Leben winzige, schreckliche Gedichte.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich es schaffe, diesen Tag zu überleben.
Ich meine, ob ich es will.
Das Haus zu verlassen, rauszugehen, erfordert Vorbereitung und Selbstüberwindung. Würde ich tatsächlich vor die Tür treten, wieder durch die Gegend laufen, Menschen treffen und Einkäufe erledigen, würde ich all das wirklich schaffen, käme zwangsläufig jemand auf mich zu, um mich zu fragen: Wünschst du dir, du wärst nie gefahren? Und man wird erwarten, dass ich antworte: Ja, unsere Reise war ein Fehler.
Vielleicht würden die Leute hoffen, dass ich das sage.
Doch meine Zustimmung zum Boot war mein klarstes Bekenntnis zu meinem Ehemann. Ich kann mir nicht leisten, das zu bereuen.
Würde ich es tun, würden mir nur die vielen Male bleiben, in denen ich nicht loyal gewesen bin.
Als ich ihn damals kennenlernte, habe ich gedacht: So einen Typen würde ich im Leben nicht heiraten. Zu überkorrekt. Zu konventionell. Keinen Sinn für Humor! Aber ich habe mich getäuscht. Die Ehe und die Kinder und die ganze Plackerei haben bei Michael einen morbiden Sinn für Humor entstehen lassen. Er wurde witziger und witziger, während ich, die früher witzig gewesen war, es immer weniger wurde.
Es gab ein Muskelshirt, an dem er auf geradezu abergläubische Weise hing, als wir auf dem Boot lebten. Bei der Erinnerung an dieses Shirt muss ich laut lachen. Wenn man in heißem Klima segelt, fängt man an, so wenig Kleidung wie möglich zu tragen. Kinder kleiden sich auf einer Langfahrt ohnehin wie Patienten in der Irrenanstalt – sie tragen Grasröcke und Flamenco-Kleider zusammen mit Gummistiefeln und Mützenschirmen und Muschelketten – allesamt Erinnerungsstücke an die Orte, an denen sie gewesen sind. Ich habe keine Ahnung, wo Michael das Muskelshirt aufgetrieben hatte. In Panama-Stadt? Es war weiß mit riesigen Aussparungen für die Arme. Wenn er am Strand stand, strahlend, mit seinem jungenhaften Gesicht und seinen ungewaschenen Haaren, sah er aus wie ein Prep-School-Schüler, der sich vor zwanzig Jahren auf einer Wanderung verlaufen und bis heute nicht zurückgefunden hatte.
Das mit dem Muskelshirt war deshalb so komisch, weil er für gewöhnlich wahnsinnig pingelig ist, ein Dandy, ein notorischer Zurechtzupfer. Er braucht fast keinen Schlaf. Seine Mutter behauptet, er sei schon immer so gewesen. Hier im Haus hat er immer bis spät nachts gearbeitet, hat noch Mails verschickt und Berichte fertig geschrieben, vor allem aber mit Männerbasteleien angefangen. Hat sich mit Elektronik vertraut gemacht, indem er irgendein Gerät auseinandernahm oder kleine Spielzeuge für die Kinder baute. Manchmal ging er sogar spät noch hinaus, bis auf die andere Seite des Bachs, wo er eine Feuergrube ausgehoben hatte, und dann schliefen wir mit dem ländlichen Geruch von Holzrauch in der Nase.
Morgens fuhr er trotzdem putzmunter zur Arbeit. In seinem Wagen, mit dem er pendelte, ließ er die Kinder nicht essen: Käsecracker und Knäckebrotkrümel – verboten. Das Familienauto dagegen, mein Wagen? Gesetzloses Gebiet. Unter den Sitzen rottete stets eine Schicht aus undefinierbarem organischen Material vor sich hin. Und immer knallten irgendwelche mysteriösen Gegenstände gegen die Radkästen, sobald ich eine scharfe Kurve nahm.
Jetzt sitze ich hier und verstehe es. Ich verstehe, wie schön es für ihn gewesen sein muss, einen kleinen Bereich für sich zu haben – einen Schrank, wo Schuhe in Paaren nebeneinander stehen, wo die Welt draußen bleiben muss und man seine eigenen Entscheidungen treffen kann.
Mein Schrank, gleich da drüben, auf der anderen Seite unseres Schlafzimmers, ist dagegen das reinste Chaos. Ich habe aufgegeben, ihn aufzuräumen, als Sybil klein war. Monatelang hatte ich die Blusen, die sie von den Bügeln grapschte, immer wieder aufgehängt, aber irgendwann ließ ich sie einfach auf dem Boden liegen. Und dann kam Sybil in meinen Schuhen aus dem Schrank geschlurft, torkelnd wie eine Betrunkene, und ließ auch die Schuhe irgendwo liegen, wo ich sie nie wiederfinden würde.
Aber ich bin eine Mutter. Nach und nach habe ich sie alle aufgegeben, meine ganzen Räume, einen nach dem anderen, bis zum allerletzten Schrank.
Lächle doch mal, hat man früher zu missmutigen Mädchen wie mir gesagt. Dann kam der Feminismus auf und verkündete: Scheiß aufs Lächeln, einen Jungen würde man nie zum Lächeln zwingen. Aber wie sich rausstellte – und aktuelle Studien belegen es –, erhöht der physische Akt des Lächelns tatsächlich das Wohlbefinden.
Deshalb übe ich manchmal.
Ich sitze hier in meinem Schrank und verziehe das...




