E-Book, Deutsch, 464 Seiten
Gallaway Die Sache Metropolis
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-95985-257-9
Verlag: Albino Verlag, Salzgeber Buchverlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 464 Seiten
ISBN: 978-3-95985-257-9
Verlag: Albino Verlag, Salzgeber Buchverlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Von den Pariser Boulevards des 19. Jahrhunderts in die Hochhausschluchten des modernen New York - ein atemberaubendes Buch über die Liebe zur Musik und die Suche nach dem Glück.
Martin, ein erfolgreicher Anwalt aus New York, möchte seinem Leben einen neuen Sinn geben. Maria, eine junge Frau mit einer außergewöhnlichen Stimme, will die Tristesse ihrer Heimatstadt hinter sich lassen. Anna, ein aufsteigender Star der internationalen Opernbühnen, merkt schnell, dass der Ruhm auch Schattenseiten hat. Und Lucien scheint wie geschaffen für die großen Konzertsäle, doch der Weg dorthin ist lang und steinig. Ihr aller Schicksal ist untrennbar miteinander verknüpft - durch die Musik Richard Wagners und eine unglaubliche Entdeckung ...
Virtuos verwebt Matthew Gallaway die Geschichten seiner Protagonisten zu einer vielschichtigen Partitur, die von Musik und Magie, Liebe und Tod, Verrat und Verlangen erzählt.
Matthew Gallaway lebt mit seinem Partner Stephen und drei Katzen in New York City. 'Die Sache Metropolis' ist sein erster Roman.
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3
Der Mann ohne Eigenschaften
NEW YORK CITY, 2001. Als Martin das Demoiselles betrat, das französische Bistro in der 54th Street, ließ er den Blick über die mit burgunderrotem Plüsch bespannten Sitzbänke schweifen, die sich bis in die Ferne erstreckten, und über die Vorhänge, die sich aus schwindelerregender Höhe ergossen. Der Raum war angenehm gefüllt, nicht überfüllt oder hektisch wie so viele neuere Restaurants, und er genoss das so ruhige wie beharrliche Klirren von Silber und Kristall über den leisen Gesprächen. Er erspähte seinen Freund Jay an der Bar, mit einem Glas in der Hand, in dem sich ohne Zweifel ein Highlands-Single-Malt befand, nicht jünger als zwanzig Jahre, unverdünnt von Wasser oder Eis. Die beiden kannten sich schon seit dem Internat, und obwohl seit ihrem letzten Treffen ein Jahr vergangen war, hielten sie an der Tradition des Geburtstagsessens im September fest. Martins Geburtstag fiel auf den elften, Jays auf den neunzehnten; beide wurden sie einundvierzig. Sie gaben sich die Hand – ein Überbleibsel aus Martins Vergangenheit –, ehe sie sich umarmten und an die Bar zurückkehrten. Martin bestellte sich einen Drink und sprach einen Toast aus, auf ihrer beider Überleben in den letzten vier Jahrzehnten und auf ihre Freundschaft, die seit mehr als der Hälfte dieser Zeit bestanden hatte; danach sprachen sie einige Minuten über Jays Frau, eine frühere Opernsängerin, die mittlerweile im Vorstand der Juilliard School saß. Martin hatte in seiner Jugend vor allem Rockmusik gehört, und zum Teil war es Jay zu verdanken, dass er sich inzwischen auch für die Oper interessierte – er wünschte, sein Beruf ließe ihm mehr Zeit, Aufführungen zu besuchen. »Also, bring mich auf den neuesten Stand, Vallence«, sagte Jay und schob die Brille mit Drahtgestell auf seiner Nase etwas nach oben. »Gibt es gerade jemanden in deinem Leben?« Martin schüttelte den Kopf. »Nichts Ernstes. Immer noch zu viel Arbeit.« Jay reagierte mit einem Bellen, das Martin als Lachen wiedererkannte. »Sagtest du nicht letztes Jahr, dass du – und ich zitiere dich – endlich mal leben wolltest?« Martin lächelte und tätschelte sein inzwischen recht imposantes Bäuchlein. »Das hier wollte ich auch loswerden.« Er war über eins achtzig groß, trug oft einen Kinn-, Voll- oder doch wenigstens Dreitagebart, und es gab kaum einen Zoll seiner Haut, der nicht mit Haaren bedeckt war; er hielt nicht viel von Schubladen und den illusorischen Szenen, die sich oft um diese herum bilden, doch es führte kein Weg an der Tatsache vorbei, dass er ein ›Bär‹ war, mit dem Überschreiten der Vierzig vielleicht sogar ein ›Daddy-Bär‹. »Irgendwann mache ich das auch«, gelobte er, »aber im Moment gibt es bergeweise Arbeit in der Firma – Internetkram und ›Start-ups‹.« Er zeichnete die Anführungszeichen mit den Fingern in die Luft. »Auch noch nach dem viel zitierten ›Börsenkrach‹?«, fragte Jay und zeichnete ebenfalls Anführungszeichen. Er konnte es sich leisten, darüber zu spotten – sein Großvater hatte ihm genug Geld hinterlassen, um das Thema Finanzen für ihn zu einer Nebensache zu machen. Martin nickte, als Jay fortfuhr: »Und von deinem Job mal abgesehen – wie läuft es sonst bei dir? Wie war dein Jahr?« »Kann mich nicht beklagen.« Martin zuckte die Achseln. Jay lachte. »Mir gegenüber darfst du das!« Martin dachte nach. »Gut, wie wäre es mit ein paar nervigen Gesundheitsproblemen, auf die ich sehr gut verzichten könnte?« Jay verzog das Gesicht. »Willkommen im Leben jenseits der Vierzig.« »Vielen Dank«, sagte Martin, ehe er all die Wehwehchen aufzählte, die ihn im vergangenen Jahr geplagt hatten, darunter Taubheit in Händen und Füßen, ein wahnsinniges Jucken in den Achselhöhlen, Arthritis in der Kniescheibe und Schlafbeschwerden, weil er in manchen Nächten ständig pinkeln musste, vor allem wenn er – und hier gab er dem Kellner ein Zeichen, ihnen eine zweite Runde zu bringen – etwas getrunken hatte. »Tut mir leid, wenn ich dich noch vor dem Essen damit belästige.« Jay winkte ab. »Um Himmels willen, Vallence, wir sind einundvierzig und keine vierzehn mehr! In unserem Alter sollten wir mit dem körperlichen Niedergang rechnen und uns damit abfinden – aber das fällt euch Sportskanonen ja besonders schwer, deswegen versucht ihr mit allen möglichen Tricks, die Jugend zu verlängern.« Das war nicht wirklich fair. Obwohl Martin während seiner vier Jahre an der Cornell University als Torhüter der Hockeymannschaft gespielt und sich lange eines athletischen Körperbaus und einer guten Gesundheit hatte erfreuen können – die paar Kilo zu viel und seinen positiven HIV-Status einmal außen vor gelassen –, hatte er, wie die meisten Torhüter, Gewichtheben und die meisten Formen von Ausdauertraining eher gemieden. Eine mögliche Ausnahme war Sex, der – auch wenn er darüber nur ungern in klinischen Begriffen nachdachte – vermutlich das Beste war, was er mit einiger Regelmäßigkeit für sein Herz tat. Jay war – bis auf die schlüpfrigen Details – mit all dem mehr oder weniger vertraut, und daher verspürte Martin auch keine Notwendigkeit, sich in dieser Hinsicht zu verteidigen. Jay wartete ab, bis der Kellner sein Glas ersetzt hatte. »Und was meint dein Arzt dazu?« Martin zuckte die Achseln. »Das mit den Händen und Füßen ist ihm ein Rätsel – und zu den anderen Sachen fiel ihm nichts Besseres als Prostataentzündung ein.« »O ja, der Klassiker«, sagte Jay und schüttelte den Kopf. »Völlig vage und unheilbar.« »Hast du das etwa auch?« »Versuch bitte, nicht ganz so erfreut zu klingen«, sagte Jay. »Ich wurde damit geboren – schwache Blase, stechende Schmerzen in den Eiern, Schlaflosigkeit – solche Dinge kommen und gehen.« Sie wurden an ihren Tisch geführt und betrachteten ein paar Minuten lang die Speisekarte, ehe Jay nach der Bestellung den Faden des Gesprächs wieder aufnahm. »Nun, wenn die Gesundheit das Thema ist – oder auch nicht –, dann lautet mein Rat, dich so schnell wie möglich aus dem Berufsleben zurückzuziehen.« »Mit einundvierzig!« »Ja, warum nicht – du hast doch jede Menge Geld gescheffelt, oder? Wie viel willst du denn noch?« Martin zog die Idee in Erwägung. »Okay – da du ja ein Literat bist, beschreib mir doch mal einen typischen Tag im Leben von Jay Wellings.« »Mal sehen«, sinnierte Jay. »Ich stehe zwischen halb zehn und zehn auf, lese den Observer, die Times und – weil ich dir vertraue – die Post. Dann trinke ich Kaffee, löse das Kreuzworträtsel – in der Zeitung und nicht im Internet –, lese noch ein bisschen, blättere vielleicht mal den Economist durch, um so zu tun, als wäre ich an Innen- und Außenpolitik interessiert, dann treffe ich jemanden zum Mittagessen – in Zukunft könntest du das sein –, besuche eine Ausstellung oder eine Theateraufführung. Ab und zu sehe ich mir Oprah oder ähnlichen Müll an. Abends gehe ich in eine Show oder in die Oper. Oder ich sitze wieder vorm Fernseher. Oder Linda schleift mich mit zu einer dieser Tischgesellschaften, wo man von mir erwartet, dreiste und unvorhersehbare Kommentare abzugeben, um die anderen Gäste gepflegt zu unterhalten.« Martin lächelte trocken. »Das klingt nicht, als wärst du sonderlich glücklich damit.« »Was hat Glück damit zu tun?« Jay bellte wieder. »Du darfst nicht vergessen, dass existentielles Unbehagen – das man übrigens nicht mit Langeweile verwechseln sollte – eine Konstante des modernen Lebens ist, nach der man sich zu richten hat.« Als Jay ein paar Minuten später aufstand, um die Toilette aufzusuchen, fiel Martin wieder der schiefe Gang seines Freundes auf, und er erinnerte sich an den Tag, als sie sich auf dem Internat kennengelernt hatten, wo sie in der zehnten Klasse Zimmergenossen geworden waren. Er erinnerte sich daran, wie er Jay das erste Mal gesehen hatte: auf dem Bett kauernd, mit dem Rücken zur weißgetünchten Wand, sodass er wie ein Scherenschnitt wirkte. Er las in einem kleinen, gelben Buch; seine Haare waren kurz und seitlich gescheitelt, wirkten aber dennoch unordentlich, wie seit Wochen nicht gekämmt. Ihre Vorstellung bestand aus dem Austausch ihrer Vornamen und einem Händedruck, der so schwächlich ausfiel, dass Martin erleichtert war, dass sein Vater schon weg war – der hätte Jay bestimmt die Finger gebrochen und noch einen Witz darüber gemacht. Danach stand Martin steif...