Gammerl | anders fühlen | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 400 Seiten

Gammerl anders fühlen

Schwules und lesbisches Leben in der Bundesrepublik. Eine Emotionsgeschichte

E-Book, Deutsch, 400 Seiten

ISBN: 978-3-446-27003-9
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



„Eine Geschichte von Alltag und Aktivismus, von Verfolgung und Strafe, von Befreiung, Freundschaft und Liebe, eine Geschichte gelebten, queeren Lebens, über die sich ein Schleier des Vergessens zu legen droht. Man muss dieses Buch lesen!“ Daniel Schreiber


Von heimlichen Begegnungen bis zum Christopher Street Day, vom §175 bis zur Ehe für alle – die Wege schwulen und lesbischen Lebens in Deutschland waren steinig, und sie sind bis heute weniger geradlinig, als unsere Vorstellung von Liberalisierung vermuten lässt. Benno Gammerl legt die erste umfassende Geschichte der Homosexualität in der Bundesrepublik vor. Eindringlich beschreibt er die Lebens- und Gefühlswelten von gleichgeschlechtlich liebenden Menschen seit den 1950er Jahren und lässt Männer und Frauen verschiedener Generationen zu Wort kommen. Ein lebensnaher und einsichtsreicher Blick auf eine spannende Geschichte, der Historikerinnen und Historiker bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt haben.
Gammerl anders fühlen jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


ERSTER O-TON: FRAU SCHMIDT & HERR MEYER   Ich als Lesbe bin was Besonderes. Lesbischsein bedeutet für mich, ich zu sein. Es bedeutet, hat für mich bedeutet, politisch sehr aktiv zu sein. Lesbischsein bedeutet auch, ganz anders sein zu können. Als Lesbe fühle ich mich in der normalen Gesellschaft ganz fremd, das ist für mich ’ne Zwangsheterosexualität. Ich empfinde mein Lesbischsein nicht als unnormal, aber das Leben von heterosexuellen Menschen ist mir fremd. Ganz simples Beispiel. Ich bin mit meiner Freundin im Theater. Neben mir sitzt ’ne Heterotante. Ich halt es kaum aus, weil die riecht nach einem Parfum, entsetzlich. Fühl ich mich belästigt. Das erleb ich in lesbischen Kreisen nicht. Ich geh jetzt seltener, aber schon mal ins Lesbencafé und da fühl ich mich sofort wohl, da fühl ich mich unter meinesgleichen, und da hab ich keine fremden Gerüche um mich herum. Ich werd jetzt 65. Ich bin, war sehr engagiert auch in der Szene und hab ganz viel aufgebaut in E. Ich bin ’ne Politlesbe, sag ich jetzt mal so salopp. Also ich hatte auch so ’nen Ruf, dass ich ’ne Mackerfrau wär, weil ich mich gegenüber Männern sehr energisch durchsetzen konnte. Ich hab auch ein sehr ausgeprägtes Rechtsbewusstsein. Wenn mir Unrecht geschieht, dann kann ich ziemlich wütend werden. Ich bin impulsiv. Und ich finde, Wut ist ’n befreiendes Gefühl. Die Freundin-Liebe ist für mich gleichwertig mit der Partnerin-Liebe. Meine Freundinnen sind mir ganz wichtig. Da tue ich auch ganz viel für, und ich bin da eigentlich ganz treu. Für mich zählen Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit, keine Show. Wenn ich ’ne Beziehung eingehe, will ich doch wissen, was in der anderen vorgeht. Sexualität hat dabei für mich nicht so ’n Stellenwert. Das gehört dazu einfach. Das ist gut und richtig und wichtig, aber das ist nicht der einzige Grund, warum ich anderen Frauen nahe sein will. Bei mir spielt Verliebtheit und Anziehung immer ’ne Rolle. Manchmal sagen die Leute zu mir, du hast ja auch zwei Ehen hinter dir und bist dann auf Lesben gekommen, weil du sexuell mit den Männern nicht klargekommen bist. Dann sag ich immer, wie kommt ihr denn auf so ’nen Blödsinn? Ich hab mich damals einfach für Frauen, für diese Lebensweise entschieden. Ich kann ganz schnell rausfinden, was mir in einer Beziehung guttut. Und wenn es mir nicht mehr guttut, also ob das nun die Sexualität betrifft oder das Emotionale, dann bin ich diejenige, die ’ne Änderung will, die dann auch anfängt, zu reden, Dinge zu benennen. Da bin ich sehr intuitiv, ich kann manchmal auch Dinge vorhersehen. Meine Mutter hatte auch so Fähigkeiten. Ich weiß es nicht, aber wenn ich spüre, dass etwas schiefläuft, dann sage ich das. Und ich zeige meine Gefühle. Als mir meine damalige Lebensgefährtin erzählt hat, dass eine Studienfreundin sich das Leben genommen hat, da bin ich weinend durch Berlin gelaufen. Da war es mir völlig egal, was andere denken. Es war mir schon immer gleich, was die Leute über mich reden oder denken. Ich zeig meine Gefühle, ich zeig auch der anderen, was ich von ihr halte, was ich von ihr will. Das geht manchen zu nahe. Inzwischen bin ich überlegter geworden, lasse mich nicht mehr so von meinen Gefühlen leiten. Ich setze, je älter ich werde, mehr auch meinen Verstand ein. Und trotzdem find ich das gut, dass ich so bin, wie ich bin. Ich hätte auch, also heute hier beim Interview, ich hätte mich nicht von einem heterosexuellen Mann interviewen lassen. Als ich von dem Projekt gelesen hab, da hab ich schon ’nen Moment gedacht, och, schön wär’s auch, wenn’s ’ne Frau ist, die mich hier interviewt. Und ich hab sofort zu meiner Partnerin gesagt, der das macht, ist ein schwuler Typ, Punktum. Und wenn das keiner ist, dann merk ich das ganz schnell und dann geh ich raus aus der Situation. So bin ich nun mal. Ich leb mittlerweile jetzt 14 Jahre mit meiner derzeitigen Lebenspartnerin, mit der ich auch auf dem Standesamt war. Also ich halt eigentlich nichts von Ehe und diesen Geschichten, aber das haben wir aus pragmatischen Gründen gemacht. Ich will sie beerben, wenn sie vor mir geht, und sie soll mich beerben. Das ist der einzige Grund. Eigentlich mag ich solche Rituale nicht. Das ist für mich ja gerade der Unterschied zu heterosexuellen Beziehungen, dass da mehr auf Konventionen geachtet wird. Das leb ich schon lange nicht mehr, und ich will das auch nicht mehr leben. Also zum Beispiel beim Tischdecken: Das Messer muss so, und die Gabel muss so und der Löffel so. Das ist mir pupegal, Hauptsache, das Essen schmeckt. Oder auch mit der Religion. Ich bin zwar evangelisch, immer noch, und ich bin auch keine ungläubige Person, aber ich muss nicht in die Kirche rennen, um da irgendwas zu zeigen. Das ist doch gerade der Vorteil von lesbischen Beziehungen, dass es nicht so ’n Druck gibt, weil sich das jetzt gehört, müssen wir jetzt zusammen die oder die besuchen oder ins Theater gehen oder Weihnachten zusammen feiern mit der ganzen Familie, weil das macht man so. Lesbischsein bedeutet für mich, mich aus Konventionen zu befreien. Diese schrecklichen heterosexuellen Rollenklischees. Manchmal ist es ja in schwulen und lesbischen Beziehungen nicht anders. Manchmal denk ich, meine Güte, wir spielen hier Rollen, wie Männer und Frauen das miteinander machen. Da hat sich auch bei uns so manches eingespielt, im Negativen wie im Positiven natürlich. Und oft gibt es auch Rollenzuschreibungen von außen: Da ist dann meine Partnerin die große starke Kluge, und ich bin die Emotionale und die Sozialtante. Ich bin ja auch so ’ne kleine nette Niedliche. Also jetzt ein bisschen ironisch. Das ging mir in der Heterozeit auch schon so. Ich musste immer beschützt werden. Also wenn man in Klischees denkt, dann wird mir eher der weibliche Part zugeschrieben und ihr der männliche. Das ärgert mich. Für mich ist das immer wieder ’n Aushandeln. Mir ist es ganz wichtig, dass wir ein Wir sind in der Partnerschaft. Aber auch, dass ich weiterhin mein Ich da behalte und meine Autonomie. Familie wird jetzt mit zunehmendem Alter wieder wichtiger für mich. Also meine eine Schwester zum Beispiel, meine Mutter, die jetzt 90 geworden ist und im Altenheim lebt, meine beiden Töchter und ihre Partner und mein Enkelsohn. Dem ist es aber manchmal peinlich, mit mir ins Kino zu gehen, weil ich dann lache an Stellen, wo sonst niemand lacht, und dann sagt er: »Oma, lass das mal.« Aber Familie ist auch meine Wahlverwandtschaft. Morgen treffe ich hier in Berlin zum Beispiel meine frühere Lebensgefährtin, die meine jüngere Tochter mit großgezogen hat. Meine Familie war auch sehr stolz, dass ich als Volksschülerin und Einzelhandelskauffrau es bis an die Uni geschafft habe. Trotz meines Diploms in Pädagogik und obwohl Lesen ein Hobby von mir ist, bin ich aber keine Theoretikerin. Ich kann gut ackern. Ich bin sehr zielstrebig und kann gut im Team arbeiten. Ich hab auch immer gerne gearbeitet. Immer wenn ich erwerbslos war, ist mir das überhaupt nicht bekommen. Übers Studium bin ich vor über 30 Jahren in E. gelandet, meiner Wahlheimatstadt. Das ist ’ne Kleinstadt und trotzdem ’ne Großstadt, und du hast da alles, was du dir wünschst. Das ist kulturell toll, und die Uni ist auch da. Ich hab meine Vertrautheit, meine sozialen Kontakte. Ich geh da übern Markt, und dann treff ich da Bekannte oder frühere Kolleginnen. Das ist einfach so ’n schönes Heimatgefühl. Früher gab’s auch mal die Überlegung, in Berlin zu leben, aber das kann ich mir jetzt gar nicht mehr vorstellen. Das wär mir einfach zu unruhig, zu anstrengend. Ich bin eigentlich gar nicht ängstlich, aber durch meine Krankheit bin ich ängstlich geworden. Vor drei Jahren bin ich an Brustkrebs erkrankt. Ich bin aber ganz zuversichtlich. Das ist jetzt erledigt. Das ist operiert und gut. Ich hatte noch mal Glück. Ich bin dadurch sehr aufmerksam geworden, was mein Körpergefühl angeht. Ich konnte wegen der Krankheit vor zwei Jahren in den vorzeitigen Ruhestand gehen und achte seither sehr auf ’n Rhythmus in meinem Leben. Und ich achte noch genauer als früher darauf, mit wem ich Umgang haben möchte. Gruppen kann ich schon gar nicht mehr ab. Ich war sehr aktiv in Lesbengruppen. Das ist nicht mehr meins. Aber ich suche jetzt immer mehr den Austausch mit älteren Lesben. Wenn ich mit älteren Lesben zusammen bin, fühl ich mich sehr aufgehoben. Wie ich jetzt lebe mit meiner Freundin, dieses ›nur wir beide‹, das will ich auf Dauer nicht mehr. Ich möchte gerne so ’nen Kreis haben, die sich das Leben im Alltag ähnlich vorstellen, nämlich in einer Hausgemeinschaft mit Gleichaltrigen, vielleicht auch mit jungen Lesben, oder mit schwulen Männern, also so ’n Mehrgenerationenhaus. So was wünsch ich mir eigentlich. __________   Ich bin Wolf-Peter Meyer und bin geboren und aufgewachsen in Spertal, einem Dorf in Hessen. Ich beherrsche auch die dortige Mundart noch ein bisschen. Ich komme nicht aus dem Bildungsbürgertum, sondern bin ein Sohn armer kleiner Leute. Meine Eltern waren Kleinstbauern, Fünf-Uhr-Bauern. Tagsüber arbeitete mein Vater im Hüttenwerk, und abends kümmerte sich die ganze Familie um die Landwirtschaft. Mein Vater war ein nicht-eheliches Kind, die Frucht einer sanften Vergewaltigung, nehme ich an. Er war eigentlich ein Nichts. Und er war auch braun, also der war in der Partei. Da trug man nämlich eine Uniform, und in Uniform war er jemand. Er kam verletzt aus dem Krieg. Diese ewigen Kriegsgeschichten fand ich manchmal zum Kotzen. Tief in meinem Herzen war ich schon immer Pazifist. Die Mutter war jemand, wo man dachte, das ganze Leid der Welt musste sie tragen. Als hätte sie gerade eine Bombennacht in Dresden überlebt. Sie musste als Mädchen ihren Bruder versorgen, der im Dorf als Narr galt. Und sie erzählte immer, wie...


Gammerl, Benno
Benno Gammerl ist Historiker und gilt als führend in der Erforschung von queerem Leben in Deutschland. Nach Stationen am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin und am Goldsmiths College in London lehrt er seit 2021 als Professor für Gender- und Sexualitätengeschichte am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz. Für seine Forschung wurde er mehrfach ausgezeichnet. Zuletzt erschien bei Hanser anders fühlen. Schwules und lesbisches Leben in der Bundesrepublik. Eine Emotionsgeschichte (2021).


Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.