Garner | Das Haus an der Bunker Street | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 160 Seiten

Garner Das Haus an der Bunker Street

Roman
1. Auflage 2010
ISBN: 978-3-8270-7095-1
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)

Roman

E-Book, Deutsch, 160 Seiten

ISBN: 978-3-8270-7095-1
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Athena und Dexter führen ein glückliches Leben in einem Melbourner Haus mit Garten, ganz konzentriert auf den kleinen Kosmos ihrer Ehe und die Erziehung der beiden Söhne. Plötzlich taucht die chaotische Elizabeth auf, ein Relikt aus Dexters Vergangenheit. Zu ihrem Gefolge gehören die pubertierende Schwester Vicky und der anziehende Rockmusiker Philip mitsamt seiner zwölfjährigen Tochter Poppy. Erst vorsichtig, dann immer enger verschränken sich ihre Beziehungen. Noch bevor es ihnen bewusst wird, verändert das Zusammentreffen mit Elizabeths Patchworkfamilie Athenas und Dexters Leben von Grund auf. Das Haus an der Bunker Street ist die scharfe Zeichnung eines Beziehungsmosaiks moderner Zeiten - einfühlsam, ehrlich und meisterhaft erzählt.

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    Philip erschien nicht mit dem Auto. Das überraschte Elizabeth nicht. Sie nahm den Bus zum Flughafen. Vickis Flugzeug hatte Verspätung. Elizabeth ging auf den glänzenden Fliesen auf und ab. Sie mochte es nicht, wenn die Leute sahen, dass man sie warten ließ, und zumindest ein Mädchen lächelte sie so schüchtern an, dass man merkte, ihr dämmerte gerade, dass sie Elizabeth schon mal im Fernsehen gesehen hatte. Außerdem bekam man hier keinen anständigen Kaffee, und einigermaßen angenehm sitzen konnte man auch nicht. Sie ließ sich an einem Blechautomaten vor einer Drogerie den Puls messen. Die Ziffer, die aufleuchtete, war so niedrig, dass sie dachte, das Ding sei kaputt. Sie schlenderte in den Laden, stahl einen Lippenstift von Dior für fünfundzwanzig Dollar und ein billiges Adressbuch mit Plastikeinband und probierte es dann noch einmal: Der Adrenalinausstoß nach dem belanglosen Diebstahl machte sich bemerkbar. Das Adressbuch konnte sie Vicki schenken, falls die den Flug nicht sowieso verpasst hatte. Elizabeth ließ die geklauten Sachen aus dem Ärmel in ihre Tasche gleiten und ging in die Cafeteria, um eine Flasche Mineralwasser zu kaufen. Ein Mann saß mit dem Rücken zu ihr, inmitten einer Reihe von Blumenkübeln aus Plastik, die den Bereich der Cafeteria abgrenzten. Sie musste sich ganz schmal machen und versuchen, seitlich durchzuschlüpfen, um an seinem ungünstig stehenden Stuhl vorbeizukommen. Welcher ihrer Sinne erkannte ihn zuerst? Sie war so nahe, dass sie gleichzeitig sein ungewaschenes Haar roch, seinen bis zu den Ohren hochgerutschten steifen Hemdkragen sah, das unbekümmerte Schlürfen seiner Lippen an der Tasse hörte. Sie stand genau hinter ihm und balancierte auf den Zehenspitzen. War es möglich? Und wenn sie ihn ansprach, würde es ihr hinterher wohl leidtun? »Entschuldigen Sie«, sagte sie. Er wandte den Kopf. Es war Dexter. Oje, ihre schrecklich modernen Kleider, ihr Haar so stachelig wie unter Schock. Er sah den Fächer von Linien um ihre äußeren Augenwinkel, und sein Herz machte einen Sprung. Er stieß den Stuhl zurück und stand unbeholfen und hastig auf. »Morty«, flüsterte er. »Morty, guck mal. Ich bin’s.« »Ich habe es mir schon gedacht«, sagte sie. »Ich hab es mir gedacht.« Sie hörte, wie die Wärme aus ihrer Stimme wich und Trockenheit sich breitmachte, und hatte plötzlich das Bedürfnis, um etwas Verlorenes zu weinen. Warum fängt er nicht an zu brüllen? Warum macht er keinen Riesenaufstand? Freut er sich etwa nicht, mich zu sehen? Sehe ich irgendwie komisch aus? Aber wir haben uns ja früher auch nie umarmt. Warum sollten wir jetzt damit anfangen? »Du siehst sehr – du siehst –« Ihm fiel kein höfliches Wort ein, er war so übervoll von Gefühlen. »Das ist ja noch dieselbe Jacke«, sagte sie, trat einen Schritt zurück und deutete darauf. »Dieselbe stinkige alte Khakijacke.« »Mein Vater ist auch hier«, sagte Dexter. »Schau, Dad! Da ist Morty!« Dexters Vater hatte eine Papierserviette im Kragen stecken und eine Gabel in der Hand. Er nahm seinen Hut von dem leeren Stuhl und hielt sich verdattert daran fest. Neben ihm saß ein kleiner Junge mit blassen Augen und einem Prinz-Eisenherz-Haarschnitt. Dexter erholte sich allmählich wieder, begann in seinen riesigen Golfschuhen herumzutänzeln und mit den Armen zu fuchteln. Elizabeth schob sich an ihm vorbei auf den Stuhl. »Ich geh Kuchen holen!«, rief Dexter. Dr. Fox sah Elizabeth an, kaute dabei weiter, nickte und lächelte. Sie musste jetzt fast vierzig sein, genau wie Dex. Gottlob waren sie nicht dumm genug gewesen, zu heiraten, obwohl Dexter sie ohne Zweifel gevögelt hatte, als sie noch zusammen studierten. Er hätte fast laut aufgelacht. Sie war ganz offensichtlich nicht die Sorte Frau, die hei ratet. Kinder kamen sicher überhaupt nicht in Frage. Er sah ihre weit geöffneten Augen, ihre nervös bebenden Nasenflügel, ihren Geltungsdrang, spürte etwas Exzentrisches und Erfolgreiches in ihrem Gebaren und war doch überzeugt, dass sie zu den Frauen gehörte, die mit Ausdrücken wie die orthodoxe feministische Position um sich warfen. Er spülte die letzten Krümel mit einem Schluck Kaffee hinunter und wartete darauf, dass sie etwas sagte. Er erriet, was es wohl sein würde. Und sie sagte es. »Ist Mrs. Fox nicht dabei?« Wie wohlerzogen. Er konnte sich noch erinnern, wie sie mit neunzehn gewesen war. Wenn seine Frau nicht da war, hatte sie ihm zum Mittagessen ein Omelett zubereitet, ungeschickt und pflichtschuldig, und hatte ihn gerufen, damit er kam und es aß, aber er war gerade oben und zerbrach sich den Kopf über einer Tabelle, und so hatte er keine Antwort gegeben und war nicht gekommen, bis das Essen kalt geworden und zusammengefallen war. Sie hatte ihn vom Spülbecken her finster angesehen. Die jungen Frauen hatten seine Frau immer lieber gemocht als ihn. »Nein. Meine Frau ist zu Hause. Und da fahre ich jetzt auch wieder hin.« Seine kultivierten Vokale: Nain. Maine. Sie hätte ihm am liebsten die Serviette aus dem Kragen gerissen. »Ist das Dexters kleiner Junge?« Dr. Fox fuhr auf. »Ja. Einer seiner Söhne. Er heißt William.« Das Kind hatte seltsam ausdruckslose Augen. Elizabeth, die mit kleinen Kindern nicht gut umgehen konnte, beugte sich über den Tisch und versuchte, ihr Gesicht in sein Blickfeld zu rücken. Der Blick des Jungen wanderte umher, blieb aber nicht an ihr hängen. Es war, als würde man ihn unter Wasser anschauen. Ein glückseliges Lächeln erwärmte seine Züge und war gleich wieder verschwunden, ein kleiner Gedankenknoten wölbte sich zwischen seinen Brauen und glättete sich gleich wieder. Sie schaffte es nicht, seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Der alte Mann räusperte sich. »Leider ist Billy nicht ganz …« Elizabeth richtete sich auf. »Sie haben es ziemlich lange nicht … Er kann bis heute nicht sprechen. Aber er singt. Seine Stimme ist sehr … Dexter und seine Frau haben eine Weile geglaubt, dass er so etwas wie ein musikalisches Genie ist. Man bringt ihnen bei, selbständig auf die Toilette zu gehen, sie können lernen, sich allein zu waschen …« Dexter kam mit einem Kuchenteller zurück. Er hielt den Arm über den Kopf, den Teller in der Hand. Er warf sich auf den Stuhl neben ihr. »So ein beschissener Käsekuchen«, dröhnte er. Er beugte sich vor und schob dem kleinen Jungen ein Stück in den Mund. Dr. Fox wäre mit der Papierserviette, die ihm immer noch aus dem Kragen wuchs, ins Flugzeug gestiegen. Elizabeth nahm sie ihm hastig ab. Er schloss die Augen und blieb vor ihr stehen, wie ein Kind, das darauf wartet, dass man ihm das Gesicht abwischt. Ihr fiel die Empfehlung wieder ein, die er ihr geschrieben hatte, als sie sich um ihre erste Stelle bewarb: »ein ziemlich hoch entwickelter Verstand«. Jetzt kam ihr das lustig vor, eigentlich sogar wie ein Kompliment; aber damals hatte sie über die Einschränkung geweint. Sie knüllte die Serviette zusammen und trat zurück. »Ich werde bald vierzig«, sagte sie. Dr. Fox machte die Augen auf und gab einen eigenartigen Laut von sich. »Ah! Dann sind Sie ja aus dem Schlimmsten heraus. Mit vierzig können Sie niemandem mehr schaden, und niemand kann Ihnen schaden.« Was?, dachte sie. Das kann unmöglich stimmen. Aber es war genau die Antwort, die sie sich gewünscht hatte. Er lachte und zog eine Schnute, dann drehte er sich um und gab dem Jungen einen Abschiedskuss, aber dessen Gesicht war plötzlich von Seligkeit erfüllt, und er breitete die Arme aus, als wäre hinter der Schulter seines Vaters eine glanzvolle Vision erschienen. Auch Eli zabeth nahm etwas Abstand, wie man es aus Rücksicht und Angst bei einem Menschen macht, der gerade auf einem Ecstasy-Trip ist und für den man nicht körperhafter ist als ein verwischter Lichtfleck.     Elizabeth hatte eigentlich gar keine Lust, Dexter von ihrer Mutter zu erzählen. Obwohl das alles schon mehr als ein Jahr her war, würde er ein so ungeheueres und tiefes Mitleid mit ihr empfinden, dass sie vor lauter Verlegenheit irgendeinen dummen Spruch von sich geben würde, der ihn erschrecken und bekümmern würde, und darauf würde er sie tadeln, und sie würde nicht anders können, als zu erröten und den Kopf hängen zu lassen. Sie hätte ihm auch gern gesagt: »Nenn mich nicht Morty. So nennt mich inzwischen keiner mehr.« Aber das hätte hochnäsig geklungen, und er hätte sie nur ausgelacht. »Mama ist gestorben«, sagte sie. »Und untersteh dich, Mitleid mit mir zu haben.« »Sie ist gestorben.« Er ging weiter und drehte nicht einmal den Kopf, um sie anzusehen. Er hatte sich den seltsamen Jungen über die Schulter gehängt wie eine Satteltasche. Er hielt ihr den Arm hin. »Nimm meinen Arm, Morty«, sagte er. »Gehn wir nach unten. Von wem ist das noch mal?« »Von Browning. ›My Last Duchess‹.« »Meine liebe Morty«, sagte...


Falkner, Gerhard
Gerhard Falkner, geboren 1951, zählt zu den bedeutendsten Dichtern der Gegenwart. Er veröffentlichte zahlreiche Lyrikbände, u.a. »Hölderlin Reparatur«, für den er 2009 den Peter-Huchel-Preis erhielt, und zuletzt »Ignatien« (2014). Für seine Novelle »Bruno« wurde ihm 2008 der Kranichsteiner Literaturpreis verliehen. Nach Aufenthalten in der Villa Massimo/Casa Baldi und der Akademie Schloss Solitude war er 2013 der erste Fellow für Literatur in der neugegründeten Kulturakademie Tarabya in Istanbul und 2014 Stipendiat in der Villa Aurora in Los Angeles. Seine Romane »Apollokalypse« (2016) und »Romeo oder Julia« (2017) standen auf der Long- bzw. Shortlist des Deutschen Buchpreises und wurden von der Kritik gefeiert. Gerhard Falkner lebt in Berlin und Bayern.
 
Bio 2: für Übersetzungen:
Gerhard Falkner, einer der vielseitigsten und wichtigsten zeitgenössischen Autoren Deutschlands, übersetzt  seit vielen Jahren gemeinsam mit der freischaffenden Künstlerin Nora Matocza aus dem Englischen, u.a. Werke von Anne Michaels, Tom Drury und Mark Z. Danielewski.

Garner, Helen
Helen Garner wurde 1942 im australischen Geelong geboren. Zu ihrem Werk zählen Romane und Kurzgeschichten sowie Sachbücher. Mit »Das Zimmer« eroberte Garner die internationalen Bestsellerlisten und wurde vielfach ausgezeichnet.



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