Geda | Emils wundersame Reise | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Geda Emils wundersame Reise

Roman
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-641-08072-3
Verlag: Knaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

ISBN: 978-3-641-08072-3
Verlag: Knaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Quer durch Europa – dem eigenen Glück entgegen

Emil ist erst 13 und hat doch schon mehr gesehen, als ein Kind je sehen sollte. Ohne Papiere hat er sich mit seinem Vater von Rumänien bis nach Italien durchgeschlagen. Doch als der ausgewiesen wird, ist Emil ganz auf sich allein gestellt. Seine einzige Hoffnung: Er muss seinen Großvater finden, den er nur aus Briefen kennt und der mit seiner Artistentruppe in Berlin gastiert. Mit einer Gruppe Jugendlicher – alle schräge Außenseiter wie er selbst – macht er sich auf die abenteuerliche Reise. Sie führt ihn quer durch Europa, immer ein Stück dem eigenen Glück entgegen.

Schon mit »Im Meer schwimmen Krokodile«, der Geschichte des Flüchtlingsjungen Enaiat, begeisterte Fabio Geda die Leser. Nun schenkt er uns mit »Emils wundersame Reise« einen neuen Blick auf die Welt und lehrt uns, ins Herz der Dinge zu schauen – magisch!
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Das Bein tut mir so weh, dass ich es am liebsten zerfleischen würde

Das Bein tut mir so weh, dass ich es am liebsten zerfleischen würde. Und das, obwohl die Operation sieben Jahre her ist – sieben strahlende, unvergessliche Jahre, in denen sich die Erde 2555-mal um sich selbst gedreht hat. In diesen sieben Jahren habe ich Erfolge erzielt, von denen ich niemals zu träumen gewagt hätte. Nicht zuletzt deshalb, weil es besser ist, mit geschlossenen Augen aufzusteigen: Denn wenn man dann fällt, tut es nicht so weh. Man denke nur an Orpheus. Man darf sich nie umdrehen. Abgerechnet wird am Ende.

Ich war ein naiver Studienanfänger gewesen, mit einem Lebenslauf, in dem an oberster Stelle ein Praktikum bei IKEA in Turin und ein Aushilfsjob bei Wal-Mart in Montreal standen. Aber seitdem hat sich so einiges getan. Ich habe einen anderen Haarschnitt, ich habe gelernt, mich zu kleiden, ich habe hartnäckig an mir gearbeitet, um der zu werden, der ich heute bin.

Ein echter Triumph.

Wenn das Bein nicht wäre, ja, wenn ich damals in Kanada auf der Route 327 nicht vom Motorrad geflogen wäre, würde mich nicht mal meine Mutter wiedererkennen – unter Umständen nicht einmal ich selbst.

Ich werde die Unfallfolgen mit ins Grab nehmen, so die Ärzte. Allerdings sind das dieselben, laut denen ich eigentlich tot oder querschnittsgelähmt sein oder wenigstens im Rollstuhl sitzen müsste – in einem dieser Modelle mit Fernbedienung und Lämpchen an der Rückenlehne, wie Stephen Hawking einen hat. So gesehen darf man sich letztlich nicht wirklich auf sie verlassen. Stattdessen mussten sie alle mit mir auf das Wunder anstoßen. Nur Wetterwechsel rufen mir jenen herrlichen, strahlenden Nachmittag wieder in Erinnerung: Der Himmel war knallblau, und es schien die Sonne, gleichzeitig nieselte es, sodass man sich fragte: Wie kann es nieseln, wenn gleichzeitig die Sonne scheint?

Manchmal träume ich von dem Unfall: Ich sehe, wie der Fuß zurückschaltet, wie das Motorrad in die Kurve geht und wieder beschleunigt. Dann ist da auf einmal eine Art Luftloch, und die gelbe Triumph Speed Triple beschreibt einen hohen Bogen am Himmel, grell wie ein Komet. Kleine Funken und Windschildsplitter bilden seinen Schweif.

Ein erhabener Anblick.

Der Angestellte der Immobilienfirma schwitzt wie jeden Donnerstagvormittag, wenn er mir Häuser zeigt. Ich gebe mich schüchtern, aber nur, wenn ich glaube, dass es mir was nützt, und auch das überwiegend bei der Arbeit. Wenn ich will, kann ich auch sympathisch sein. Liebenswert. Der Nachbar, dem man seine Schlüssel anvertraut. Der Klassenkamerad, der abschreiben lässt. Der Bruder, den man gern gehabt hätte. Der imaginäre Freund. Aber wenn ich will, kann ich andere bewusst nervös machen, mit einem Blick dafür sorgen, dass sie sich unwohl fühlen. Dass ihr Puls steigt. Dass nervöse Ticks wieder auftreten, die sie seit der Pubertät für überwunden hielten.

»Und, was sagen Sie?«, fragt der Angestellte. Er ringt sich ein Lächeln ab und biegt den Rücken durch, um selbstsicher zu wirken. Ich lasse den Blick vom Glaszement zu ihm schweifen, grinse kaum wahrnehmbar, kräusle meine Lippen. Sofort wendet der Angestellte den Blick ab. Er hyperventiliert und gibt vor, etwas in der Tasche seines schwarzen Kaufhausjacketts zu suchen. Er räuspert sich. Er weiß nicht, wie er reagieren soll.

Ich mache gerade das wichtigste Geschäft meines Lebens.

Ein Loft.

In Hanglage.

Die Atriumdecke werde ich abhängen müssen. Ich kann ein paar Artemide-Strahler darin einlassen, die dem Verlauf der Wand folgen und den Weg ins Wohnzimmer weisen. Wie viele? Sieben vielleicht. Alle siebzig bis achtzig Zentimeter. Ich strecke den Arm aus. Wie viel werde ich ausgeben? Distributio, distributio, flüstert mir Vitruv ins Ohr.

Genau das, wonach ich gesucht habe.

Ich schaue mich um.

Der Immobilienangestellte hat so ein nervtötendes Zucken in der rechten Hand. Sie zittert ununterbrochen. Außerdem trägt er furchtbare senfgelbe Schuhe. Ich messe die Länge des Raums mit Hilfe der Arme, breite sie aus und strecke die Finger.

»Ich nehme es«, sage ich.

Der Angestellte kann sein Glück kaum fassen und führt innerlich einen Freudentanz auf.

»Sie werden mir noch dankbar dafür sein«, sagt er.

»Das wohl kaum.«

Jenseits des Panoramafensters erstreckt sich zu meinen Füßen Turin. Bis zu den Bergen. Unvergänglich wie der Olymp. Wie ein zurückhaltender, reservierter Olymp. Turin ist meine Stadt. Turin ist nicht kalt oder unterkühlt, wie die Leute sagen. Nein, Turin ist intim und diskret. Würdevoll vielleicht. Wofür steht Turin? Mein Imperium wird von hier aus seinen Ausgang nehmen.

»Aber diesmal werde ich es nicht wieder verkaufen«, sage ich.

Keine Ahnung, warum.

Der Angestellte reißt die Augen auf. »Im Ernst?«

»Im Ernst.«

»Sie wissen schon, dass Sie Ihr Kapital durch eine angemessene Renovierung verdoppeln können? Wollen Sie das Loft selbst nutzen?«

»Ja.«

»Heiraten Sie?«

Er zwinkert mir zu, als hätte er einen sympathischen Scherz gemacht. Einen Moment lang befürchte ich, dass er mir einen Klaps auf die Schulter gibt. Das ist ja furchtbar. Ich schnaube und lächle, als hätten wir als Kinder im selben Schwimmbecken geplanscht und uns als Teenager dieselben Mädchen geteilt. Nur, um ihn nicht zu enttäuschen.

»Sind Sie verheiratet?«

»Ja.«

»Und, sind Sie glücklich?«

»Ja. Und Sie?«

»Ob ich glücklich bin? Ich denke schon. Wissen Sie, wann Sie glücklich sind?«

»Natürlich.«

»Im Ernst?«

»Im Ernst.«

»Und woher wissen Sie das? Hören Sie dann ein Klingeln? Ein Bimmeln? Erscheinen Ihnen schemenhaft tanzende Jünglinge? Säuseln sie Ihnen süße Worte ins Ohr? Schwillt Ihnen eine Ader im rechten Hoden?«

Er wird rot bis in die Ohrspitzen vor Scham. Er weiß nicht, was er darauf antworten soll. Er schafft es einfach nicht, die Hand ruhig zu halten. Seine Stimme klingt verrostet. Der Fernseher passt genau unter die Treppe. Ein Bang & Olufsen mit einem 42-Zoll-Plasmabildschirm, durchsichtige Stühle aus Polykarbonat. Die habe ich in Genua gesehen. Ein schwarzer maschinengewebter Teppich in der Mitte des Zimmers, dazu écrufarbene Bodenkissen aus indischen Stoffen. Keine Sessel. Aber ein Sofa muss sein. Wo hat Manuela ihres gleich wieder her? Das Sofa aus dem Fosbury-Apartment an der Piazza Castelli. Ich werde sie gleich heute Abend danach fragen.

Der Immobilienangestellte sucht nach einer Antwort auf meine sinnlose Frage und stammelt etwas noch Sinnloseres, das zahlreiche Ähs und Najas enthält.

»Woran ich merke, dass ich glücklich bin?«, fragt er.

Einige Tauben spielen Fangen über der Terrasse. Eine verlässt die unsichtbare Flugbahn, die sie sich mit den anderen teilt, und gleitet mit einem eleganten, präzisen Flügelschlag davon. Ich fahre sie mit dem Finger nach und hinterlasse einen Abdruck auf der Glasscheibe, der sofort wieder verschwindet.

»Ich merke es am Tränenkanal«, sage ich.

Es gibt so viel Schönheit.

»Am Tränenkanal?«, fragt er. »Und wo ist der genau?«

»Dort, wo die Lederhaut, also der weiße Teil des Auges, endet. Der Tränenkanal befindet sich im inneren Augenwinkel, neben der Nase.

Der Angestellte führt seine zitternde Hand an die Wange.

»Ja. Genau dort.« Ich nicke.

Warum hat er nicht die andere genommen? Ist das Absicht? Behinderungen stellt man nicht zur Schau, man erträgt sie im Stillen. Die Bandage, die mein Knie stabilisiert, sieht niemand, und die Nägel befinden sich unter der Haut. Nie im Leben würde ich damit hausieren gehen.

»Dort, wo die Tränen rauskommen.«

Ich nicke erneut. »Genau da.«

»Und sind Sie … dort glücklich?«

»Nein, aber dort juckt es mich, wenn ich glücklich bin.«

»Es juckt, natürlich …«

»Es ist nicht direkt ein Jucken, eher eine Art Kribbeln: So als würde mir jemand eine Feder ins Auge stecken. Eine leicht raue Feder, keine von den ganz weichen, um mich damit zu kitzeln.«

Er nickt zufrieden, tut so, als hätte er verstanden. Er sucht verzweifelt nach einem Ausweg. »Schauen Sie bei uns vorbei, um die Unterlagen abzuholen?

»Gibt es den Notar Prella noch?«

»Natürlich.«

»Dann bitten Sie ihn, den Vorgang abzuwickeln.«

»Gern.«

»Gehen wir?«

»Ich hole die Schlüssel. Die Rollläden funktionieren übrigens automatisch.«

Der Wohnzimmerboden besteht aus sandgestrahlter, rötlich gebeizter Lärche. Wände, Fensterrahmen und Möbel werden hell sein, um einen guten Kontrast zu bilden. Ich muss noch überlegen, was ich mit der geschwungenen Wand mache, die den Eingangsbereich diagonal unterteilt. Sie besteht aus Flusskieseln. Ich bin mir nicht sicher, ob man die anbohren kann. Ich werde Federico fragen. Kann nämlich sein, dass sie sonst bersten. Der weiß das bestimmt. Ich rufe ihn an. Wo sind wir verabredet? Dabei habe ich es mir doch irgendwo aufgeschrieben.

Das Handy klingelt. Mein Bruder.

Ich habe keine Lust, mit ihm zu reden.

Matteo liegt mir ständig damit in den Ohren, dass ich eine Sekretärin brauche. Vielleicht hat er recht. Ich werde eine Freundin von Manuela fragen. Vielleicht die Rothaarige mit dem kleinen Sohn. Jacopo. Ein wunderschönes Kind. Erhaben. Mit einem Vater, der … Ich müsste so ein Kind haben. Wie heißt...


Geda, Fabio
Fabio Geda, 1972 in Turin geboren, arbeitete viele Jahre mit Jugendlichen und schrieb für Zeitungen. Bereits sein erster Roman »Emils wundersame Reise« war in Italien ein Überraschungserfolg; das Buch »Im Meer schwimmen Krokodile« brachte ihm auch international den Durchbruch, es verkaufte sich in 33 Länder und ist zu einem modernen Klassiker geworden.

Burkhardt, Christiane
Christiane Burkhardt lebt und arbeitet in München. Sie übersetzt aus dem Italienischen, Niederländischen und Englischen und hat neben den Werken von Paolo Cognetti u. a. Romane von Fabio Geda, Domenico Starnone, Wytske Versteeg und Pieter Webeling ins Deutsche gebracht. Darüber hinaus unterrichtet sie literarisches Übersetzen.



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