Geda | Was man sieht, wenn man über das Meer blickt | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

Geda Was man sieht, wenn man über das Meer blickt

Roman
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-446-27372-6
Verlag: hanserblau in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

ISBN: 978-3-446-27372-6
Verlag: hanserblau in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Mitten in einer Ehekrise reist Andrea nach New York, in die Stadt seiner Jugend. Seit einem Aufenthalt vor vielen Jahren sehnt er sich hierhin zurück. Was als Kurzurlaub beginnt, wird zu einem alles verschlingenden Strudel an Eindrücken, Erlebnissen und Erinnerungen – doch zu Hause in Italien wartet Andreas Familie auf ihn, und eines Tages muss er sich zwischen altem und neuem Leben entscheiden.
Warmherzig und klug verwebt Fabio Geda die Schicksale seiner Charaktere miteinander, bis ein Netz entsteht, das die ganze Welt zu umspannen scheint.

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2
Irgendwo muss ein Feuer ausgebrochen sein, dachte Agnese. Zwei Löschfahrzeuge hatten die Kreuzung mit gellenden Sirenen überquert, sie hatte sie vorbeisausen sehen, ohne sich aus dem Bett zu rühren, gespiegelt in den offenen Fenstern. Ein Tag für offene Fenster heute, sagte sie kaum hörbar zu sich selbst; dann drifteten ihre Gedanken zu der Tragweite eines Feuers, zu der Bedeutung des Wortes, zu der freigesetzten Hitze; sie verdrängte das Bild eines verbrannten Gesichtes, das sie im Fernsehen gesehen hatte, und aus der Erinnerung stieg das eines Skiausfluges auf — sie trug eine kaninchenförmige Mütze, die nicht ihr gehörte —, die Terrasse eines Restaurants mit Blick auf die Skipiste, die bunten Overalls, der Geruch nach Sonnencreme; dann konzentrierte sie sich wieder auf das spiegelnde Fensterglas. Ein Tag für offene Fenster heute, sagte sie noch einmal. Die Ärztin kam herein; hinter ihr Andrea. Sie trat zur Seite, um ihn vorbeizulassen, und nachdem sie eine Winzigkeit zu lang neben ihm gestanden hatte, wie um Agnese und ihn einander vorzustellen, sagte sie: Wenn Sie mich brauchen, ich bin am Ende des Flurs. Es war ein Zweibettzimmer, aber nur ihr Platz war belegt; an den Wänden alte Drucke der Stadt — keine Poster von Kindern in Nussschalen. Mit linkischen Bewegungen nahm Andrea einen Hocker, setzte sich und streichelte flüchtig über das von ihrem Fuß gewölbte Stück Bettdecke. Wo warst du, verdammt? Laufen. Laufen, klar. Das konnte ich doch nicht ahnen. Nein, sagte sie, das konntest du nicht. Du nicht und ich nicht, und genau das — sie schüttelte den Kopf, als wollte sie die bereits herabrinnenden Tränen vertreiben — lässt mir keine Ruhe. Also springe ich dauernd von einem lächerlichen Gedanken zum nächsten, denn wenn ich zu denken aufhöre und innehalte, fange ich an zu überlegen, was ich heute gemacht habe, und ich schwöre dir, ich habe nichts Besonderes gemacht heute, ich habe weder schwer gehoben noch bin ich Rad gefahren, ich bin losgegangen, um Tee zu kaufen, okay? Tee. Also überlege ich, was ich gestern gemacht habe, aber auch gestern habe ich nichts falsch gemacht, und so gehe ich noch einen Tag zurück und noch einen und einen weiteren, ohne etwas zu finden, keinen Hinweis, keine Spur. Ihr Atem versagte und sie brach in verzweifeltes Schluchzen aus. Wie soll ich ohne einen beschissenen Hinweis kapieren, was nicht in Ordnung ist? Wie soll ich so ein Kind kriegen? Andrea nahm ihre Hand. Sie zog sie weg, als hätte eine Spinne sie gebissen. Drehte sich auf die Seite. Am liebsten hätte sie die Knie zur Brust gezogen, um sich in den Fötus zu verwandeln, der ihr genommen worden war, doch sie vermochte die Beine nicht anzuwinkeln. Geh weg, sagte sie. Agnese … Bitte, geh weg. Geh. Andrea blieb noch einen Moment sitzen, bis ihm ein Stich durch den Oberarmknochen fuhr und er den Schrei des Rotmilans hörte; aber nein, es waren weitere Sirenen, die auf der Straße aufflammten. Auf dem Weg hinaus sah er die Schwiegereltern auf dem Gang, die Augen geschlossen, die Hände im Schoß. Er klopfte an die Praxistür der Ärztin. Agnese müsse noch ein paar Tage im Krankenhaus bleiben, sagte sie. Und, ja, wenn sie wollten, könnten sie es erneut mit einer Schwangerschaft versuchen. Und, nein, es gebe keine Möglichkeit herauszufinden, ob und wann eine Schwangerschaft erfolgreich wäre. Jetzt müssen Sie sich um Ihre Frau kümmern, sagte sie. Ja. Drängen Sie sie nicht. Nein. Es braucht Zeit. Zeit, wiederholte er. Das Telefon klingelte und die Ärztin klemmte den Hörer zwischen Schulter und Ohr, um sich eine Zigarette anzuzünden; sie trat ans Fenster und öffnete es weit. Andreas Blick fiel auf den Druck eines Klimt-Gemäldes hinter dem Schreibtisch: ein Ausschnitt aus Die drei Lebensalter der Frau, das ergriffene Antlitz der Mutter, die ihre kleine Tochter in einer Umarmung an sich drückt, Blumen im Haar, porzellanene Wangen. In der anderen Hälfte die alte Frau mit der trockenen Haut und dem aufgedunsenen Bauch, die Hand über den Augen, gequält von der eigenen welken Nacktheit, niemand kennt sie. Ich habe leider keine Zeit mehr für Sie, sagte die Ärztin, warf die Zigarette auf die Straße und legte den Hörer auf; das Morgenlicht fiel auf ihr Gesicht. Attraktive Frau, dachte Andrea und schämte sich sofort. Zeit, wie gesagt, es braucht Zeit, sagte sie. Verlieren Sie nicht die Geduld. In der Tür fuhr Andrea herum. Hören Sie, gibt es zufällig noch einen anderen Ausgang? Wie bitte? Aus dem Krankenhaus, meine ich. Oder … Mit dem Daumen deutete er Richtung Hauptflur. Folgen Sie der roten Linie. Die führt zur Hintertreppe. Links, nach den Toiletten. Agneses Eltern saßen noch immer in der gleichen schmerzvollen Haltung da; sie bekamen nicht mit, wie er floh, die Treppen hinunter und nach draußen schlüpfte, zwischen die vom zarten Hauch des Frühlingstages trunkenen Menschen. Durch Seitenstraßen, an den Häuserwänden entlang machte er sich auf den Heimweg. Vor der Eingangstür schob er die Hände in die Taschen und stellte fest, dass er keine Schlüssel bei sich hatte. Im Geist ging er die Handgriffe vor dem Verlassen der Wohnung durch und kam zu dem Schluss, dass er sie eingesteckt hatte; er musste sie beim Laufen verloren haben. Er klingelte bei den Nachbarn, die ein paar Ersatzschlüssel hatten, doch niemand reagierte. Er blickte sich um. Stellte fest, dass er Hunger hatte, aber kein Geld. Ein Hund schlug an und reckte den Kopf von einem der obersten Balkone des Mietshauses gegenüber. Andrea ließ sich auf die Eingangsstufe sinken, blinzelte zu dem Kläffen empor, die Augen mit der Hand gegen die Sonne beschirmt, eine unbeschwerte Sonne, die alles jenseits des Dickichts aus Antennen und Schornsteinen bestrahlte, die aufgehängte Wäsche trocknete, die Fesseln des langen Winters löste und die Menschen drängte, ihre Häuser zu verlassen und den Anbruch einer neuen Jahreszeit zu feiern. Nach vier Tagen voller Nachuntersuchungen und Schmerzmitteln kehrte Agnese nach Hause zurück. Ehe sie das Krankenhaus verließ, hatte sie versucht, sich wieder herzurichten: Von Andrea hatte sie sich einen schwarzen Rock und eine Bluse mitbringen lassen, die sie sonst zur Arbeit trug. Es war ein Fehler gewesen, das war ihr sofort klar geworden, als sie vor dem Badezimmerspiegel stand und ihre matten Augen und ihre Haut musterte, vor allem die am Hals, die so dünn war, dass die Adern hindurchschimmerten. Beim Aufschließen der Wohnungstür hatte Andrea Mühe, den Schlüssel zu drehen, als würde etwas oder jemand ihn von innen blockieren. Na bitte, das hat uns gerade noch gefehlt, sagte er lächelnd. Sie lächelte nicht zurück. Morgen rufe ich den Schlosser an. Als das Schloss endlich nachgab, schlich Agnese auf Zehenspitzen hinein; mit zusammengekniffenen Augen, die Hand schräg an die Stirn gelegt, taxierte sie die Wohnung, auf der Suche nach einer Zuflucht, einem Ort, an dem sie sich in dieser urvertrauten, mit einem Mal feindseligen Umgebung verkriechen konnte. Willst du einen Kräutertee oder einen Saft? Es ist Joghurt da, wenn du möchtest. Sie antwortete nicht. Sie hatte sich für den Sessel entschieden. Ja, der Sessel war in Ordnung. Sie kauerte sich darauf zusammen und zog die Schuhe aus, schnappte sich ein Kissen, schob es zwischen Kopf und Rückenlehne und schloss die Augen. Nein, es war gar nicht so schwer, die Welt auszusperren. Andrea schaltete das Küchenradio ein und suchte nach einem passenden Sender, doch jede Musik ging ihm auf die Nerven und er machte es wieder aus. Er nahm einen kleinen Topf aus dem Spülbecken, setzte Wasser auf, wartete, bis es kochte, hängte zwei Teebeutel hinein — einmal Minze und einmal Fenchel —, füllte die Tassen und trug sie ins Wohnzimmer. Es war später Nachmittag. Der Wind drückte gegen die Fenster und ließ die Rahmen knarren. Er setzte sich aufs Sofa und schlug die Beine übereinander. Stellte eine Tasse auf dem Couchtisch ab, behielt die andere in der Hand und drückte sie gegen sein Hemd, um die Wärme zu spüren. Haben sie dich angerufen?, fragte Agnese, ohne die Augen zu öffnen. Andrea dachte an die Ärzte. Wie bitte? Aus der Schule....


Geda, Fabio
Fabio Geda, 1972 geboren, arbeitete viele Jahre mit Jugendlichen und schrieb für Zeitungen. Seine Romane "Im Meer schwimmen Krokodile" und "Ein Sonntag mit Elena" (hanserblau, 2020) brachten ihm international den Durchbruch und standen auch in Deutschland auf der Bestsellerliste. Fabio Geda lebt in Turin.

Koskull, Verena
Verena von Koskull hat Italienisch und Englisch in Berlin und Bologna studiert. Sie übertrug unter anderem Matthew Sharpe, Curtis Sittenfeld, Tom McNab, Carlo Levi, Simona Vinci und Claudio Paglieri ins Deutsche.



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