Gehler / Gonschor | Ein europäisches Gewissen | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 624 Seiten

Gehler / Gonschor Ein europäisches Gewissen

Hans-Gert Pöttering - Biografie

E-Book, Deutsch, 624 Seiten

ISBN: 978-3-451-82130-1
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Die beiden Geschichtswissenschaftler Michael Gehler und Marcus Gonschor liefern eine fundierte Biografie des langjährigen Europapolitikers und ehemaligen Vorsitzenden der Konrad-Adenauer-Stiftung, Hans-Gert Pöttering. Sie zeichnen Pötterings Lebenslauf und politische Entwicklung nach und würdigen seine maßgebliche Rolle beim Aufbau parlamentarischer Strukturen in der EU. Gehler und Gonschor schreiben damit zugleich ein wichtiges Stück christdemokratischer, bundesrepublikanischer Geschichte.
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1. Herkunft, Kindheit und Jugend
Als Hans-Gert Pöttering am 15. September 1945 zur Welt kam, hatte der Zweite Weltkrieg weite Teile Europas und anderer Kontinente schwer verwüstet hinterlassen. Er hatte Millionen von Menschenleben gefordert und unzählige europäische Städte zerstört und war Ursache für Flucht und Vertreibung vieler Millionen Menschen. Der Nationalsozialismus hatte nicht nur das größte humanitäre Verbrechen der Geschichte, den Mord an sechs Millionen europäischen Juden, zu verantworten, sondern hinterließ den gesamten Kontinent in Zerstörung und Aufruhr, sodass eine wirtschaftliche und politische Neuordnung Europas die Folge war. Nach der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reichs im Mai 1945 folgte die Besatzungsherrschaft durch Großbritannien, Frankreich, die Vereinigten Staaten von Amerika und die Sowjetunion. Die vormalige Reichshauptstadt Berlin wurde in vier Sektoren unterteilt. Die vier Hauptsiegermächte hatten beschlossen, Deutschland gemeinsam verwalten und regieren zu wollen. Derweil wurden die deutschen Gebiete jenseits von Oder und Neiße, nämlich Hinterpommern, Schlesien und Ostpreußen, dem durch die Rote Armee befreiten Polen als Kompensation für das ehemalige Ostpolen zugewiesen, das die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) sich einverleibte – genauso wie sie das nördliche Ostpreußen (Kaliningrader Oblast) annektierte. Das Sudetenland fiel an die Tschechoslowakei.1 Während im Westen des Kontinents parlamentarische bzw. konstitutionelle Demokratien nach der Befreiung von der nationalsozialistischen Herrschaft durch die westalliierten Armeen (wieder)entstehen konnten, gestattete die Sowjetunion, die ganz Ostmitteleuropa zuerst von Wehrmacht und NS-Schergen erobert und danach kommunistische Marionettenregime in­stalliert hatte, diesen Nationalstaaten und Völkern hingegen nicht eine freie und souveräne Entscheidung über ihre wirtschaftliche und politische Zukunft. Ganz im Gegenteil: Die von der Sowjetarmee2 im weiteren Verlauf unterjochten Staaten mussten auf Geheiß des Diktators Josef Stalin3 mittelfristig das sowjetisch-kommunistische System übernehmen. Sie entwickelten sich zu Satellitenstaaten der UdSSR. Auf den totalitären Nationalsozialismus folgte der totalitäre Kommunismus in der Mitte und im Osten des Kontinents. 1.1 Familiäre Wurzeln
Hans-Gert Pöttering erblickte zu dieser Zeit das Licht der Welt im westlichen Teil des schon in Bälde durch einen »Eisernen Vorhang« (Winston Churchill)4 geteilten Europas. Er wurde am 15. September 1945 im norddeutschen Bersenbrück bei Osnabrück geboren, das in der damaligen britischen Besatzungszone lag. Zuvor hatte Bersenbrück während des Dritten Reichs zum NS-Gau Weser-Ems gehört.5 1231 hatte eine bischöfliche Urkunde die Gründung einer Abtei des weiblichen Zweiges des Zisterzienserordens in Bersenbrück erstmalig verzeichnet, das den Namen St. Marien trägt. Während der Zeit der Reformation (1517–1648) war das Zisterzienserinnen-Kloster mit der Theologie Martin Luthers und insbesondere seiner Schrift »De votis monasticis« (1521/22) in Berührung gekommen, was »zu einer Lockerung der Klausur und zu einem von weltlichen Einflüssen geprägten Leben geführt« hatte. Reformatorisches Gedankengut entfaltete sich. Im Zuge der Gegenreformation (Konzil von Trient 1545–1563) wurde das Kloster Bersenbrück seit 1614 jedoch wieder zu den katholischen Bräuchen zurückgebracht.6 Wie der Großraum Osnabrück ist auch Bersenbrück stark katholisch geprägt und gehört zum zwischen 780 und 800 gegründeten Bistum Osnabrück. Um das Stift Bersenbrück als geistig-kulturellen Fixpunkt herum war eine Stadt entstanden, die sie im rechtlichen Sinne aber erst im Jahre 1956 wurde. Zum Zeitpunkt der Geburt ihres späteren Ehrenbürgers im Jahre 1945 zählte Bersenbrück zwischen 2000 und 3000 Einwohner. Noch um 1800 hatten dort nur 90 Personen gelebt, während das in der Nähe liegende Dorf Ankum bereits 1063 Einwohner zählte. Obgleich Bersenbrück erst nach dem Krieg Stadt wurde, war es bereits seit 1885 Namensgeber für den gleichnamigen Landkreis, der im Zuge der späteren Gebietsreform von 1972 im Landkreis Osnabrück aufging.7 Politisch betrachtet, wurde Hans-Gert Pöttering am 1. November 1946 im Alter von knapp 14 Monaten Niedersachse mit der Gründung des gleichnamigen Landes auf Teilen des Gebietes der britischen Besatzungszone Deutschlands. Es war infolge der Verordnung Nr. 46 der britischen Besatzungsmacht vom 23. August 1946, das die »Auflösung der Provinzen des ehemaligen Landes Preußen in der Britischen Zone und ihre Neubildung als selbstständige Länder« vorschrieb, entstanden.8 Am 9. Dezember 1946 kürte der nicht gewählte, sondern von der britischen Militäradministration ernannte Niedersächsische Landtag Hinrich-Wilhelm Kopf von der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) zum ersten Ministerpräsidenten des neu gegründeten Landes, das fortan mit dem Wiederaufbau der im Krieg beschädigten Infrastruktur beschäftigt war. Für Hans-Gert, seinen 1942 geborenen Bruder Manfred und seine Mutter Agnes Sophie waren es zunächst wie für so viele Niedersachen, Deutsche und Europäer sehr schwere und harte Zeiten. Die Mutter musste alleine für die Erziehung ihrer beiden Kinder sorgen, denn ihr Ehemann und der Vater der beiden Söhne galt zur Zeit der Geburt des zweiten Kindes im September 1945 bereits seit Längerem als vermisst. Zuletzt hatte der im Range eines Obergefreiten in der Wehrmacht dienende Wilhelm Pöttering seine Familie über Weihnachten 1944 sehen können. Im Januar 1945 musste er gemäß seinem Marschbefehl wieder an die Ostfront9 zurückkehren. Die Mutter betonte später wiederholt gegenüber ihrem Sohn Hans-Gert, wie schwer die Zeit des Abschieds gewesen war. Der Verlust des Vaters wurde eine enorme Belastung für die Söhne, besonders wenn die Mutter Agnes Sophie ihre Erinnerungen an die schwierige Zeit des Krieges und besonders danach zum Ausdruck brachte. Immerhin galt ihr Ehemann und Vater als vermisst – ein Fünkchen Hoffnung auf die Wiederkehr des geliebten Mannes und Vaters bestand also eine Zeit lang. Beim letzten Heimaturlaub von Wilhelm Pöttering im Winter 1944/45 hatte Agnes Sophie sogar mit dem Gedanken gespielt, ihren Gatten nicht wieder an die Front zurückgehen zu lassen und ihn stattdessen zu verstecken. Eine solche Tat – Fahnenflucht bzw. Desertation – wäre unter nationalsozialistischer Herrschaft jedoch sehr gefährlich gewesen: Wäre der versteckte Soldat gefunden worden, hätten ihn die sogenannten »Kettenhunde« der Geheimen Feldpolizei der Wehrmacht, oftmals glühende Nationalsozialisten, wahrscheinlich sofort erschossen.10 Doch dazu kam es nicht: Der Vater musste noch im Winter 1945 an die Front zurückkehren, von wo aus er der Familie auch ein letztes Mal schreiben konnte: Wilhelm Pöttering schickte im Februar 1945 einen Brief in die Heimat, den der jüngste Sohn 73 Jahre nach Versenden im Nachlass seiner Mutter findet. Tief berührt erfährt Hans-Gert Pöttering, dass sein Vater Wilhelm offenbar von der Schwangerschaft seiner Frau Agnes Sophie wusste. Eigentlich sollte das zweite Kind der Eheleute Pöttering ein Mädchen werden. Den Brief hat Wilhelm Pöttering mutmaßlich wenige Tage vor seinem Tod geschrieben, den die Familie im Februar 1945 vermutet. Die letzten Worte in diesem sehr liebevollen Brief an Hans-Gerts Mutter Agnes Sophie, seinen Bruder Manfred und ihn, das noch ungeborene Kind, lauteten: »Dein Willi« und »Euer Papi«. Dies war das einzige Mal, wo der Vater Bezug auf den noch nicht geborenen Sohn nahm, ihn irgendwie auch ansprach, was den im Nachhinein emotional stark berührte.

Hans-Gert Pötterings Eltern, Agnes Sophie und Wilhelm
Später überlegt Hans-Gert Pöttering gelegentlich, ob er als Junge den Fehler begangen habe, zu versuchen, die Mutter von ihrem Schmerz über den Verlust ihres Mannes abzulenken, wenn sie darüber sprechen wollte: »Man hätte viel mehr in die Tiefe eines solchen Gespräches eindringen sollen. Sie hatte wohl ein sehr intensives, gutes und liebevolles Verhältnis zu meinem Vater, das entnahm ich ihren Schilderungen«, erinnert sich Hans-Gert Pöttering im Jahr 2018. Gewissheit über das Schicksal Wilhelm Pötterings herrschte lange Zeit nicht, sodass die ersten zehn Lebensjahre von Hans-Gert noch die Hoffnung bestand, der Vater werde aus dem Krieg bzw. der Gefangenschaft zurückkehren. Sechs Jahre nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland wurde es indes zur traurigen Gewissheit. Bundeskanzler Konrad Adenauer konnte 1955 nach Gesprächen mit der sowjetischen Führung in Moskau, bei denen die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der UdSSR beschlossen wurde, die Rückholung der letzten 10.000 Wehrmachtssoldaten aus der Kriegsgefangenschaft erwirken (»Heimkehr der Zehntausend«).11 Doch Wilhelm Pöttering war nicht unter ihnen, was Hans-Gert schmerzlich zur Kenntnis nehmen musste: »Ich erinnere mich sehr gut daran, dass ein Ehemann einer Frau aus meinem Heimatort zurückkam und wie ich in der Kirche war und weinte, weil mein Vater eben nicht zurückkam. Diese Erfahrung prägte mich doch sehr und ließ in mir auch das Bewusstsein wachsen, dass wir eine Ordnung, eine Welt schaffen mussten, in der die Menschen sich nicht gegenseitig umbrächten. Ich glaube, diese...


Prof. Mag. Dr. Michael Gehler, geb. 1962 in Innsbruck, Leiter des Instituts für Geschichte an der Universität Hildesheim und Jean-Monnet-Chair (seit 2006) und korrespondierendes Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien; Forschungsschwerpunkt: Geschichte Tirols und Südtirols, Österreichs, Deutschlands, Europas und der Imperien, internationale Beziehungen unter besonderer Berücksichtigung der europäischen Integration und transnationale Parteienkooperation. Publikationen v.a.: Imperien und Reiche in der Weltgeschichte, 2 Bde. (2014), gem. m. Robert Rollinger; The Revolutions of 1989. A Handbook (2015), gem. M. Wolfgang Mueller und Arnold Suppan; Welthistorische Zäsuren 1989–2001–2011 (2016), gem. m. Michael Corsten und Marianne Kneuer; Europa und die deutsche Einheit (2017), gem. m. Maximilian Graf; Europa. Ideen – Institutionen – Vereinigung – Zusammenhalt (2018) (Monographie).

Dr. Marcus Gonschor, geb. 1983 in Alfeld (Leine), Realschullehrer für Geschichte, Wirtschaft, Politik und Geographie, Fachseminarleiter für Geschichte am Studienseminar Hameln und Lehrbeauftragter am Institut für Geschichte der Universität Hildesheim; Forschungsschwerpunkte: Geschichte der deutsch-amerikanischen Beziehungen, der europäischen Integration und transnationale Parteienkooperation. Publikationen v.a.: Zwischen transnationaler Zusammenarbeit und europäischem Parlamentarismus. Deutsche Christliche Demokraten und der Aufbau Europas 1945–1979 (erscheint 2020), gem. m. Hinnerk Meyer, in: Christliche Demokraten in Europa, hrsg. v. Michael Borchard; Transnationale Parteienkooperation der europäischen Christdemokraten und Konservativen. Dokumente 1965–1979, 2 Bde. (2018), gem. m. Michael Gehler, Hinnerk Meyer, Hannes Schönner; Politik der Feder. Die Vereinigten Staaten und die Bundesrepublik Deutschland 1945/49 bis 1990 im Spiegel der Erinnerungen von US-Präsidenten und Bundeskanzlern (2017) (Monographie).


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