E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Gehrmann Stresstest
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-8412-0496-7
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-8412-0496-7
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Volltreffer.
Sophie ist schwanger, aber ihr dauerjugendlicher Freund Lukas ist alles andere als die Traumbesetzung für die Rolle des werdenden Familienvaters. Während sie Karriereambitionen hat und die Rechnungen zahlt, lebt er als Comiczeichner in einer chaotischen WG und kann sich einfach nicht entschließen, erwachsen zu werden. Keine gute Voraussetzungen, um die Bewährungsprobe Kind zu bestehen. Schon bald hat Lukas alle Mühe mit Sophies monatelanger Übelkeit, Listen der allerwichtigsten Babyartikel - 'Nur das Nötigste!' -, kilometerlangen Warteschlangen bei Kreißsaalbesichtigungen und nicht zuletzt mit seiner eigenen Co-Schwangerschaft und eklatanten Gewichtszunahme. Als dann auch noch ein Nebenbuhler auftaucht, der alles mitbringt, was Lukas nicht hat, ist Sophie irgendwann weg, mitsamt Bauch und Baby. Und Lukas muss beweisen, dass er der Richtige für Sophie ist ...
Sebastian Gehrmann, geboren 1979 im schönen Hagen/Westfalen, kehrte seiner Heimat den Rücken, um in Göttingen und Frankfurt am Main zu studieren. Mehr als zehn Jahre arbeitete er für die »Frankfurter Rundschau«. Die erste Folge von »Tempo 30«, seiner wöchentlichen Kolumne über die Tücken des Familie- und Erwachsenwerdens, erschien ziemlich genau ein Jahr nach seinem dreißigsten Geburtstag. Um manche Dinge zu verkraften, braucht es eben seine Zeit. Er lebt als freier Journalist und Autor mit seiner Frau und seiner Tochter in Frankfurt.
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kapitel 1
Mein dreißigster Geburtstag fiel auf einen Mittwoch. Aschermittwoch.
Da sich meine Begeisterung für jenen alten Brauch, den der Volksmund je nach Breitengrad Karneval, Fasching oder sonst wie nennt, in eher überschaubaren Grenzen hielt, war Aschermittwoch in meinem Leben bislang kein Tag gewesen, um über das normale Maß hinaus Trübsal zu blasen. Zudem fiel es mir neuerdings zunehmend schwerer, mich körperlich und seelisch an die ständigen Wechsel zwischen vier Jahreszeiten zu gewöhnen. Ich brauchte keine fünfte.
Irgendwie mochte ich den Aschermittwoch. Eigentlich.
Mein Wecker klingelte, was wie eine wilde Schießerei klang, und ein kleiner Scheinwerfer warf die Silhouette eines breitbeinigen Cowboys an die Zimmerdecke.
»Luke?«
Ich blinzelte hinauf zu dem Schatten, unsicher, ob mich der Kerl mit dem Grashalm im Mundwinkel gerade beim Namen genannt hatte, als die Tür zu meinem Zimmer behutsam einen Spaltbreit geöffnet wurde und das mit Abstand bezauberndste Wesen, dem ich jemals über den Weg gelaufen war, seinen Kopf hindurchschob. Sophie war eine dieser Frauen, von denen man nicht zu träumen wagte, dass sie am Abend neben einem einschliefen und, wenn man am Morgen aufwachte, immer noch da waren. Und man konnte einfach nicht an sie denken, ohne dabei kitschig zu werden.
Sophie stand in der Tür und lächelte angestrengt. Ihre Füße steckten in dicken Baumwollsocken, die ich ihr nach unserer ersten Nacht geschenkt hatte, und obwohl ich hätte schwören können, dass sie darunter mindestens zwei weitere Paar trug, tippelte sie über den Boden, als liefe sie barfuß über eine Eisscholle. Ihre Zähne klapperten, und ihr Lächeln wirkte wie eingefroren. »Kkkafffee!«
Ich war am Ende.
»Hallo, Luke? Jemand zu Hause? Sag mal, träumst du mit offenen Augen? Du hast bald Geburtstag. Jetzt freu dich doch mal. Und würdest du bitte damit aufhören, mich anzustarren, als wärst du ein geisteskranker Psychopath?«
Nun, so wie die Dinge lagen, war ich kurz davor, einer zu werden.
Sophie legte den Kopf schief und sah mich streng an. »Hättest du die Güte, mir zu verraten, wo eure Kaffeekanne ist? Irgendwas braut sich da in meinem Bauch zusammen, und wenn ich nicht sofort etwas dagegen unternehme, war es das wohl mit Reinfeiern.«
Ich zog mir die Decke über den Kopf: »Klingt gut. Bleiben wir einfach im Bett. Am besten für immer.«
Sophie sah mich noch strenger an. »Wo. Ist. Die. Kanne?«
Ich blinzelte, aber träumte wohl nicht. »In der Küche?«
Noch strenger. »Wann warst du das letzte Mal in eurer Küche? Dort holt sich Mutter Natur gerade zurück, was sich die Ameisen noch nicht unter den Nagel gerissen haben. Und wie es riecht. Die Kanne ist da auf jeden Fall nicht.«
Ich zwickte mich. Nur zur Sicherheit. »Vielleicht im Bad.«
»Was glaubst du, wo ich als Erstes nachgesehen habe? Ich kenne doch deinen Mitbewohner. Der wohnt da ja mittlerweile.«
»Vielleicht hat Obelix sie mit in sein Zimmer genommen.«
»Kannst du Olli bitte fragen?« Da Sophie sich nicht anders zu helfen wusste, verlieh sie ihrer Stimme etwas Schmeichelndes, aber selbst eine tiefe Verbeugung wäre wirkungslos verpufft. Punkt Mitternacht würde ich dreißig werden, und dieser Gedanke quälte mich. Trotz meines Pessimismus, meiner Paranoia und Panik wurde ich alt und brauchte gar nicht zu hoffen, dass mir irgendwelche glücklichen Umstände in letzter Sekunde den Arsch retten würden. Von wegen Lucky Luke. Es würde passieren, ob ich wollte oder nicht. Und es war wohl kein Zufall, dass ich ausgerechnet jetzt, da mein Leben endete, daran denken musste, wie es begonnen hatte.
An dem Tag, an dem ich das Licht der Welt erblickte, waren Pippi Langstrumpf und Kermit der Frosch hektisch damit beschäftigt, mich rechtzeitig vor der Prunksitzung der örtlichen Lach- und Schießgesellschaft zu entnabeln, weshalb sie sich mit ihren weißen Kitteln allenfalls halbherzig als fachmännisch geschultes Krankenhauspersonal verkleidet hatten. Eine Wand des geräumigen Kreißsaals war mit bunten Luftschlangen geschmückt, der Boden war übersät mit Konfetti. Hin und wieder steckte Zorro, der gewisse Ähnlichkeiten mit einem der Oberärzte besaß, seinen maskierten Kopf durch die Tür und erkundigte sich ungeduldig nach dem Verlauf der Geburt. Er soll sogar gedroht haben, die Nabelschnur mit seinem Degen zu durchschlagen, damit es die drei rechtzeitig zum ersten Tusch in den Festsaal schafften.
Möglicherweise hätte man sich denken können, dass es nicht spurlos an so einer halben Portion Mensch vorüberging, wenn ein hyperventilierender Frosch und seine hysterische Gespielin schon vor der Geburt Unruhe verbreiteten, als ginge es um Leben und Tod, obwohl man streng genommen noch nicht einmal existierte. Kein Wunder, dass man da irgendwie verkrampfte.
Dann dachte ich an meinen Vater. Wie er allein hinter einer dicken Scheibe gestanden hatte, die den Kreißsaal von der Geburtsstation trennte. Und wie er von dort aus tatenlos hatte mit ansehen müssen, wie Pippi und der Frosch nervös um meine Mutter herumturnten, während im Hintergrund die Bläck Föös aus einem Kassettenrekorder kölschten: »Drink doch ene met, stell dich nit esu ann, du stehs he die janze Zick erüm …«
Es war in der Tat bemerkenswert, wie ruhig Vater geblieben war, wohingegen ich an seiner Stelle spätestens beim Konfetti durch die Scheibe marschiert wäre. Doch er ertrug den ganzen Irrsinn mit der Gelassenheit einer englischen Palastwache. Wie bedauerlich, dass er mir dieses unerschütterliche, stets besonnene Gemüt nicht mit in die Wiege gelegt hatte. Vielleicht wäre dann vieles anders gekommen.
Sophie kam zurück, frisch geduscht und nur mit einem Handtuch bekleidet. Sie setzte sich auf die Bettkante und fing an, ihre schulterlangen, leicht ausgebleichten Haare zu kämmen, die aussahen, als würde sie den Großteil ihres Lebens am Strand und in den Wellen verbringen. Ich stieß einen tiefen Seufzer aus, aber Sophie machte nicht den Eindruck, als würde sie bemerken, in was für einer ausweglosen Lage ich mich befand. Und offensichtlich war ihr jedes Mittel recht, das mich dazu bewegte, aufzustehen und Obelix nach der verfluchten Kanne zu fragen. Ein Tropfen fiel mir direkt ins Auge, das auf der Stelle nervös zu zucken begann. »Scheiße, Sophie! Kannst du das lassen?«
An einem stinknormalen Tag wäre es dieser Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hätte. Aber ich war zu schwach, wie gelähmt, gefangen in einem klebrigen Netz aus Verzweiflung und Selbstmitleid. Vermutlich hatte das Alter bereits seine Boten geschickt, damit ich schon mal einen kleinen Vorgeschmack bekam. Fehlte nur noch, dass ich mich, ohne es zu bemerken, langsam einpisste.
»Ich habe ja keine Ahnung, auf was für einem Trip du gerade bist, Luke.« Sophie schluckte. »Aber gehst du bitte zu Olli? Mir ist das echt unangenehm.« Sie strich mir behutsam den Haaransatz entlang.
»Sophie, du kennst ihn genau so lange wie mich. Stell dich nicht so an.«
»Was, wenn er wieder nackt ist?«
»Du hast doch diesen ganzen Medizinkram studiert. An dem ist nichts dran, was da nicht hingehört. Er ist auch nicht ungewöhnlich groß oder behaart.«
»Hör auf, Lukas. Mir wird richtig schlecht.« Sophie hielt sich den Bauch, und ihr Bitten klang nun wie ein Flehen. »Was, verdammt noch mal, ist eigentlich dein Problem?«
Nun, mein Problem bestand darin, dass Menschen gemeinhin erwachsen wurden, indem sie in den ersten dreißig Jahren ihres Lebens Entwicklungsstadien unterschiedlichster Schwierigkeitsgrade durchliefen und diese mehr oder weniger erfolgreich meisterten. Sie wurden vor immer kompliziertere Herausforderungen gestellt, und indem sie die richtigen Schlüsse aus dem Zusammenspiel von Ursache und Wirkung zogen und Probleme unterschiedlicher Komplexität lösten, passten sie sich an. Manchmal mussten sie lediglich hier ein wenig justieren und da etwas regulieren. Manche mussten sich auch grundsätzlich verändern oder regelrecht neu erfinden, aber im Laufe der Zeit entwickelten sie sich beständig weiter, bis sie im Alter von dreißig Jahren zu einem erwachsenen Individuum gereift waren.
Ich hingegen war schon immer so, wie ich war – unreif, ungeduldig und, nicht zu vergessen, unausgeglichen. Und so, wie die Dinge lagen, würde ich genau das auch für immer bleiben.
Meine Mutter erzählte manchmal davon, wie ich während meiner Geburt noch in ihr einen derartigen Wutanfall bekam, dass sie gar nicht mehr wusste, ob sie atmen, pressen oder gleich ihre Sachen packen sollte. Es hielt sich sogar das hartnäckige Gerücht, man habe mich bereits schreien gehört, als ich noch nicht zu sehen war, was einer mittelschweren biologischen Sensation gleichgekommen wäre. Ich hatte schon immer Nerven wie Bindfäden, die bei jeder noch so winzigen Berührung rissen, als hätte man nach Leibeskräften an ihnen gezerrt. Vielleicht war ich einfach zu früh auf der Welt. Vielleicht hätte man an diesem Tag in aller Seelenruhe noch ein paar Stunden auf mich warten sollen, damit sich drahtseildicke Nerven bilden konnten. Oder einen Tag. Oder eine Woche.
Erstaunlicherweise hatten meine Eltern aus den Ereignissen jenes Tages nicht die richtigen Schlüsse gezogen. Jedenfalls verließen sie nicht Jahr für Jahr beim Anblick der ersten kastrierten Krawatte fluchtartig das Land, weil ich dem bunten Treiben nervlich offenbar nicht gewachsen war. Nein, zu allem Überfluss luden sie auch noch sämtliche Narren aus der Gegend ein, da eine Geburt um den Rosenmontag die...