E-Book, Deutsch, 198 Seiten
Geipel Tochter des Diktators
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-608-10986-3
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
Roman
E-Book, Deutsch, 198 Seiten
ISBN: 978-3-608-10986-3
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
Ivano Matteoli, Sohn eines KP-Funktionärs, verlässt Anfang der sechziger Jahre sein toskanisches Heimatdorf gen Leningrad. Dort lernt er Bea kennen – Beate Ulbricht, das 'erste Staatskind der DDR' und Tochter von Walter Ulbricht. Dies ist der Beginn einer Amour fou zwischen Ost und West, einer Liebe im politischen Geflecht zwischen Paris, Leningrad, Rom, Ost-Berlin und dem erzkatholischen Cigoli.
Die Erzählerin Anni kennt Ivano von Kindesbeinen an. Auf den Dächern der alten Häuser ihres toskanischen Heimatdorfes haben sie beide zusammen gesessen und den Männern beim Bocciaspielen zugesehen. Auch, als es sie wegen des Studiums in unterschiedliche Himmelsrichtungen verschlägt – sie nach Paris, ihn nach Leningrad –, verfolgt Anni aus der Distanz Ivanos Liebe zu der Deutschen Beate. Deren Eltern, Walter und Lotte Ulbricht, versuchen die Ehe der beiden zu verhindern. Das gelingt nicht, aber der Preis dafür ist hoch. Ines Geipel ist in ihrem ganz eigenen Ton ein raffinierter und kontrastreicher Roman darüber gelungen, wie das Autoritäre ins intimste Innere des Lebens eindringt.
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Anni, was ist denn?
Komm doch!
MEIN NAME IST ANNI, genauer gesagt Anni Paoli. Aber Anni reicht. Ich will die Geschichte meines Lebens erzählen. Nein, nicht die ganze Geschichte. Ich weiß ja, dass das nicht geht. Es kann nie die ganze Geschichte sein. Aber ich nenne es mal so – die Geschichte meines Lebens. Auch weil die, die unbedingt in diese Geschichte gehören, nicht mehr da sind. Bea nicht, Nello und Giorgia nicht, Francesco, Giulia, Leticia, Nino nicht, so viele aus dem Ort nicht, vor allem aber Ivano nicht. Ich bin die Letzte, die Einzige von uns, die noch weiß. Es gibt niemanden mehr, mit dem ich meine Erinnerungen teilen kann. Was für das, was ich zu erzählen habe, nicht ganz unerheblich ist. Es bedeutet nämlich, dass ziemlich viel möglich ist. Dass ich erfinden kann und es auch gern tun würde. Aber nein, das geht nicht. Das ist nicht drin, höchstens ab und an, in ein paar Ausnahmen. Ich bin hier verpflichtet. Heute zum Beispiel, da wollten wieder zwei kommen. Um unseren Ort sollte es gehen, um Ivano und um Bea. Um wen denn sonst. Aus Berlin wollten die beiden anfliegen. In Pisa hätte ich sie abgeholt. Na, das mache ich dann schon. Aber Achtung, Anni, habe ich mir gesagt. Das wird nichts, das kann nur schiefgehen, das macht ja gar keinen Sinn. Denn sagen wir mal so: Die Leute, die hier vorbeikommen, die haben ein Bild, und das ist fertig. Sie wissen, wie die Geschichte geht. Und ich bin im Grunde nur dazu da, ihnen ihr Bild zu bestätigen oder, was noch besser für sie wäre, es mit meinen Gefühlen aufzufüllen. Ich bin ein Platzhalter, nichts weiter. Weil ich eben schon da war. Aber das ist nicht lustig und auch nichts, was ich mir zumuten werde. Denn das bringt nichts. Das bringt niemandem etwas. Und deshalb kommen die beiden auch nicht. Ich habe abgesagt. Ich kann nicht. Das erste Licht des Tages und noch immer kein Schlaf. Anni schläft wieder nicht, wird Carlo mir auf der Piazza später zurufen und dabei so eigenartig mit den Armen rudern. Er sieht das. Er sieht das Licht, das die ganze Nacht durch meine Läden blinzelt. Und er hat ja auch recht. Das mit dem Schlaf ist keine ganz einfache Sache, trotz Perricone und Magenschmiere. Also erst der Popenwein und darauf zwei Maalox Rapid. Das hilft, das ist die perfekte Mischung. Der Magen liegt dann schön in Watte und kann in Ruhe vor sich hin wolken. Jahrelang ist das gut gegangen, aber seit zwei, drei Wochen klappt das nicht mehr. Keine Ahnung, was da los ist. Mitunter verschiebt sich ja was, sagt Grazia, meine Nachbarin. Muss nichts Großes sein, ein winziger Tick und schon gehört nichts mehr zusammen. Aber lassen wir das. Magen ist kein Thema, Magen ist immer. Als würde man vom Wetter sprechen oder von der Zeit oder von Gott oder vom Licht. Apropos Licht. Die Geschichte, die ich erzählen will, spielt in Cigoli, wenigstens die meiste Zeit über. Cigoli, das ist Süden, das ist Italien, das ist Toskana. Wir reden also von Klischees, nein, von Klischees über Klischees. Aber ich kann ja nicht so tun, als existiere all das nicht – die Bilder, das Wetter, die Farben, und die Klischees eben. Was ich damit sagen will? Ganz einfach: Cigoli, das ist Licht. Den ganzen Frühling über trägt es Flaum, und die Landschaft schlägt sich den Bauch voll damit. Das ist hier unerträglich, unerträglich schön. Doch Schönheit hinzunehmen ist schwerer, als gemeinhin angenommen wird. Die Statistik besagt jedenfalls, dass sich im Frühling bei uns deutlich mehr Unfälle ereignen als das restliche Jahr über. Ein erhöhtes Unaufmerksamkeitsrisiko. Oder auch Aufmerksamkeitsrisiko. Je nachdem, wie man das betrachten will. Wenn jetzt jemand da wäre, dem ich zurufen könnte: Kommen Sie, ich muss Ihnen den schönsten Augenblick des Tages hier zeigen. Ansonsten kapieren Sie ja nichts. Nichts von Cigoli, nichts von Bea und Ivano, nichts von mir. Noch dazu habe ich eine Entscheidung getroffen: Ich werde mich von nun an strikt an die Ereignisse halten und zusammentragen, was ich weiß. Denn es bringt ja nichts, die Wächterin einer Geschichte zu sein, die nur mir gehört. Das entspricht mir nicht. Man wird höchstens seltsam mit der Zeit. Wobei ich klarstellen muss, dass hier niemand ist. Keiner, dem ich sagen könnte: Meine Geschichte, das ist nichts Sentimentales, auch kein Skandal, wo ja eh heute keiner mehr weiß, was noch ein Skandal sein kann. Nein, es geht allein um uns, um Bea, Ivano, um mich und um die Verteidigung eines Glaubens. Denn ich bin halt der Ansicht, dass die Welt eine andere sein wird, wenn ich meine Geschichte erzählt habe. Ja, daran glaube ich. Es kann auch gar nicht anders sein. Bea zum Beispiel, die in der Realität niemand anderes als Beate Matteoli ist, die Tochter des Berliner Mauerbauers Walter Ulbricht, das erste ostdeutsche Staatskind also, wird nie wirklich Bea sein können ohne uns hier, ohne Cigoli. Ohne uns ist ihre Geschichte nicht richtig, ohne uns fehlt ihr was. Fast würde ich sagen, das Wichtigste. Dasselbe behaupte ich von Ivano und mir. Unsere Geschichten sind ohne einander nicht denkbar, das heißt auch ohne Bea nicht. Sie gehört dazu. Und auch Cigoli ist bei Lichte besehen nicht Cigoli ohne die Tatsache, dass mit Bea, die kein einziges Mal bei uns war, etwas völlig anderes, immerhin ein Stück Weltgeschichte vom Norden in den Süden herangeweht kam. Ich persönlich kann mit dem, was man Weltgeschichte nennt, nicht viel anfangen. Was soll das schon sein? Aber für Bea stimmt das. Sie muss ins große Bild, auf ihre ganz eigene Weise. Der schönste Augenblick des Tages. Der Sonnenaufgang in Cigoli. Und zwar ganz oben, direkt vor der Kirche. Ihr Name: Santuario della Madre dei Bimbi. Wie das schon klingt. Das Heiligtum der Mutter mit Kind. Aber niemand hat eine Ahnung davon, was die Madonna für ein erzkatholisches 400-Seelen-Nest wie unseres hier bedeutet. Man braucht gar nicht so rumtun. Keiner weiß es, es kann keiner wissen, und vor allem soll es keiner wissen. Niemand von außerhalb hat eine Vorstellung davon, wie es hier zugeht. Wenn jemand von sich sagt: Ich bin Agnostiker, ich glaube nicht an Gott, kann er das in der Welt überall behaupten, und jedem wäre ziemlich rasch klar, was das bedeutet. Nur bei uns spielt das keine Rolle. Hier ist es egal, was einer ist, was er macht oder nicht macht, was er glaubt oder nicht glaubt. Man gehört dazu, man gehört dem Ort und damit basta. Was allerdings eine Rolle spielt, ist die Tatsache, ob du Jungfrau bist oder nicht. Jungfrau zu sein ist für uns Frauen hier noch immer von großer Bedeutung, ich denke fast, von immer größerer Bedeutung. Ja, ja, ich weiß schon, das führt zu nichts, das ist völlig unzeitgemäß. Na, sicher doch. Nur, Italien ist das – völlig unzeitgemäß. Es gibt Frauen, die resigniert haben, die es nicht geschafft haben, die sich die Familie, die Tradition, das Gesetz des Schweigens aufgeladen haben. Man muss da höllisch aufpassen. Ich glaube nicht an Gott, ich bin Agnostikerin oder, um es mal auf meine Art zu sagen: Ich gehe jeden Morgen die paar Schritte hoch zur Kirche. Seit der Kindheit ist das so. Mich am Morgen mit dem Rücken an die kühle Kirchwand lehnen, die erste Zigarette des Tages rauchen und eine Zeitlang in die dunkle Ebene unter mir schauen. Einfach so. Daran liegt mir noch. Da unten zum Beispiel, das ist das Arno-Tal. Und wenn ich lange genug in die Ferne blicke, kann ich hinten am Horizont schon das Meer blinzeln sehen. Der Ort schläft noch, die Tiere zögern, das Licht auch. Es ist unsagbar still, und plötzlich kommt der Moment, wo es kippt. Nicht nach und nach, nein, mit einem Schlag bricht es aus hier. Das Leben, das Licht. Als gäbe es ihn doch, den großen Schalter. Augenblicke, die frei sind und die wir nötig haben. In denen wir den Eindruck haben, dass nur wir entscheiden, wann was beginnt, was wir als Erstes tun oder was wir halt bleiben lassen. Wir starren ins Tal wie in die große Leere und hören ihr dabei zu, wie sie sich langsam füllt: mit klappenden Autotüren, mit Geschrei und Lachen, mit Ciao, Ciao und Mamma mia. Augenblicke, in denen wir das Gefühl haben, dass alles vorhanden ist. Man kann sich ruhig Zeit lassen dafür, so wie man Zeit braucht für einen Ort wie diesen hier. Die Kirche lohnt sich. Ab zehn kann man rein und ein bisschen mit der hölzernen Madonna plaudern oder später zusammen mit den Frauen in der Nachmittagssonne auf der Bank an der Kirchwand sitzen. Wie sie die Rosenkränze zischeln lassen, mit den Beinen baumeln und am Ende die Abendsonne verdösen. Diese Frauen gehören hierher. Es ist ihr Ort und die Madonna mit Kind ihr alleiniger Schutz. Santuario della Madre dei Bimbi. Man muss sich nichts vormachen. Klischees wie diese kriegt man nicht umsonst. Da ist so vieles. Die Geschichten wachsen sich aus wie die knorzigen...