E-Book, Deutsch, 217 Seiten
Geißler Jockele und die Mädchen
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-7431-1748-8
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Roman aus dem heutigen Weimar
E-Book, Deutsch, 217 Seiten
ISBN: 978-3-7431-1748-8
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Max Geißler (1868-1945) war ein deutscher Schriftsteller, der auch als Literaturwissenschaftler Bedeutung erlangte. Bekannt wurde er vor allem durch seinen Roman "Der Heidekönig" aus dem Jahr 1919. Geißlers Roman "Jockele und die Mädchen" wurde 1916 veröffentlicht.
Max Geißler (1868-1945) war ein deutscher Schriftsteller, der auch als Literaturwissenschaftler Bedeutung erlangte. Bekannt wurde er vor allem durch seinen Roman "Der Heidekönig" aus dem Jahr 1919.
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Teil I
Als wäre diese Geschichte nicht wahr – so wunderlich angetan mit allem Zierrate der Romantik schreitet sie heraus aus dem grünen thüringischen Waldleben! Mit Zigeunern, die sich die Häuser aus bunten Lappen und Fichtenreisern erbauen und durch den Bergwald fliegen wie die Distelfinken, denen der Herrgott am letzten Schöpfungstage die Reste seiner Farbeschalen aufgetupft hat. Und mit einem alten Mädchen, das in besinnlicher Güte und Einsamkeit dem Herzschlag des Thüringer Waldes lauschte – auf einmal fiel der Veronika Sinsheimer ein Kind in die Hände, als sie schon daran dachte, wem sie das kleine Haus vermachen solle, wenn eines Tages der Mann im weißen Mantel über das Gebirge schritt, der die blauen Mohnkörner des ewigen Schlafes auswirft. Das mit dem Kinde geschah ganz früh am Jakobustage – zu Sommeranfang, wenn die Drosseln das Silber ihrer Lieder über den Wald werfen wie die jungen Mütter des Christkindleins Haar um die Weihnachtstanne. Die Häuslein sind um den Fuß der Vorberge gesäet wie die Weizenkörner; ein paar sind emporgeweht an die Hänge, und der Bergwald legt seine grünen Arme darum. Zuhöchst steht das des Fräuleins Veronika Sinsheimer – von weitem anzuschauen als ein Wildrosenbusch im Mai; denn es hatte frühlingsgrüne Mauern und ein hellrotes Ziegeldach, darin zwei blanke Augen, just wie das alte Fräulein selber. An den Fenstern waren weiße Vorhänge, feuerrote Geranien und Glockenstöcke; die standen auch während des Bergwinters in lachendem Blühen. Kein Wunder, denn das Fräulein in dem Frühlingshause wandelte in einem freundlichen Spätlichte des Lebens, so warm und hell, dass die grämlichen Nebel der Altjüngferlichkeit sich darin niederschlugen als ein Tau in den Sommermorgen. Die Leute von Ibenheim gingen gern bei ihr ein und aus; denn sie sprach eine feine thüringfremde Sprache. Die hatte sie mit aus der norddeutschen Heimat gebracht und schoss das »s« von dem feinen Bogen ihres Mundes wie einen Pfeil. Die zu ihr kamen, banden sich daheim eine saubere Schürze vor und strichen sich die Schuhe vor der Schwelle des Hauses ab, oder sie ließen die Pantoffel draußen stehen; denn um das Fräulein Veronika war alles blank. Die lebte das Leben des späten Mädchens in Freude und erzählte keinem Menschen, dass sie hundertmal Gelegenheit gehabt hätte, einen Mann zu nehmen, oder dass gar einer wegen seiner Liebe zu ihr ins Wasser gegangen sei, sondern sie sagte: es wäre halt keiner gekommen, sie lieb zu haben, darüber wäre sie stehengeblieben. Und ihre Augen lachten das leise Lachen der Freude über diese Rede, weil sie dennoch mit dem Leben fertig geworden war. Dies stille Leben lag vor den Augen all der Leute von Ibenheim, und doch war die feine kleine Person des alten Fräuleins für sie voller Geheimnisse. Aus jedem Stücke des Hausrats schaute eine ferne liebe Zeit, wie sie in den Erkerstuben alter Burgen eingefangen ist, die vordem einmal Kemenaten junger Frauen gewesen sind. Ahnungsreich lag der Duft von Lavendel um alle Körbchen und Decken, um Kissen und Polster, und Fräulein Veronika Sinsheimers reinliches Wesen trippelte zwischen diesen Dingen umher, und das Leben hatte kein Stäubchen auf sie geworfen. Die Menschen sahen sich an ihr die Augen voll Sonntag. Und an dem Zinzilein, dem kleinen Mädel des Holzhauers, das an jedem Tag in das Frühlingshaus kam, war all der Sonntag hängengeblieben: es schoss das spitze »s« aus seinem Mündlein wie sie; seine kleine Zunge schwang in diesem Mündlein als gegen eine silberne Glocke, und wenn das Zinzilein aus der Hütte des Holzhauers über den Weg lief, ward der Waldsaum hell – in Kindern leuchtet das Scheinen der anderen Welt, aus der sie gekommen sind, rasch wieder auf. Das Zinzilein blühte seinen fünfjährigen Frühling so in das Leben der alten Dame hinein und schüttete seine klingenden Fragen über sie, als es anfing, an dem Dasein herumzuraten: »Warum kann ich nicht in Deinem Hause schlafen, liebe Tante Veronika? Und warum sage ich zu Dir Tante und nicht Mutter? Warum bist Du nicht meine Mutter? Und was ist für ein Unterschied zwischen einer Tante und einer Mutter? Wenn ich groß bin – kann ich dann immer bei Dir sein, liebe Tante Veronika? Und warum ist es bei Dir so schön, so schön?« Darüber kamen sie dann beide ins Raten; und wie eine Blume wandte sich diese junge Menschenblüte der Sonne zu, in der Fräulein Veronika stand. Den Namen Zinzilein hatte die Kleine für sich gemacht – er war aus der Zeit, da die Worte in dem jungen Munde noch manchmal durcheinanderpurzelten, aus Kreszenzia und Sinsheimer entstanden. Und weil es ein so wunderlicher Zusammenklang war, blieb er an dem Kinde hängen: als das ›Zinzilein‹ ist die Kreszenzia Laufer durch ihr Leben geschritten. Aus dem unbewussten Blumendasein des ganz kleinen Holzhauermädels wurde gemach ein Menschenleben; und in seligem Erschauern ließ Fräulein Veronika das Glück dieses sachten Blühens in die Waldstille ihrer Tage rieseln und fühlte, wie es an ihrem vereinsamten Herzen zum Wunder ward. Die Eltern des Zinzilein gingen zu Walde roden und aufforsten, und wenn der Schneewind über die Berge brauste, saßen sie bei der Heimarbeit, die in dieser Gegend Brauch ist: sie machten Puppen. Außer dem Zinzilein hatten sie kein Kind; und dies eine ward ihnen fremder mit jedem Tag. Es dachte anders und redete anders als Vater und Mutter. Und wenn das Zinzilein des Abends heimkam und aus seinem Frühlingsherzen heraus über sie schüttete, was das alte Fräulein am Tage hineingelegt hatte, merkten sie, dass das Kleine ein Gast in ihrer Waldhütte geworden war. Dann gaben sie sich Mühe, so fein mit ihm zu sprechen, wie es selber sprach, und standen vor ihm in feierlicher fremder Freude wie vor einer Tulpe, die ihnen auf den Geburtstagstisch gestellt worden. Wenn das Zinzilein nebenan in seinem Bette lag, holte die Mutter jedes Stück herzu, das es auf seinem Körperlein getragen, ließ ihre harte Hand darübergleiten und drückte es gegen die Wangen, zu fühlen, wie sanft es sei. Oder sie hielt das Kräuschen aus alten Spitzen gegen das Licht der Lampe, den feinen Lauf der Fäden zu sehen; denn Fräulein Veronika sorgte für alles – auch dafür, dass sich das Kinderherz den Eltern nicht völlig abwende. Und das war sehr schwer. Sie badete es an jedem Tage des Sommern in einem klaren Bergquell, der aus dem schwarzen Wurzelgrunde heraus sich in ein Sonnenbett legte und das Glück des Himmels und Lichts in sich trank, ehe er als fußbreites Wasser in die Welt lief. Sie lehrte das Kind, diese Welt durch ihre klugen, reinen Augen zu sehen, und schloss ihm auf jedem Gang in den Frühling ein Wunder der Erde auf. Es schien, als wäre die unerforschliche Macht, die die Menschen Schicksal nennen, zu der späten Erkenntnis gelangt, dass diesem Fräulein Veronika das herrlichste Mutterherz geschenkt worden, das sich denken ließe – da legte es ihr das kleine fremde Mädel in die Arme; denn das Kleinod dieses Frauenherzens, das kein Mann gefunden hatte, durfte nicht in Vereinsamung verloren gehen. Und dies Schicksal erkannte auch, dass dies Frauenherz unerschöpflich sei an hingebender Liebe und Klugheit … am frühen Morgen des Jakobustages, als das Fräulein Veronika sein Spitzenhäubchen auf die ergrauenden Haare gesetzt hatte und gleich einmal nach dem Zinzilein ausschauen wollte, ob es schon am Waldrand herüberschreite … »Na,« sagte Fräulein Sinsheimer, »wer hat mir denn da etwas auf die Haustürschwelle gelegt?« Sie beugte sich ein wenig nieder und machte die Augen weit. Es war ein Bündel aus grauem Wolltuch. Sie rührte ein wenig mit ihrem weichen Morgenschuh daran. Da wackelte etwas unter dem Tuche. Und sie tastete mit ihren Fingern darüber. Da kneckerte ein Lebendiges in dem Bündel – »Na!« Es war aber weder ein junger Hund noch eine junge Katze darin, sondern ein leibhaftiges Menschlein, in Dinge gewickelt, die große Armut als Windeln ansehen konnte. Und daneben kniete das gütige alte Mädchen und wusste nicht, was es mit sich selber anfangen sollte. Da kam ein wunderliches verzweifelte Lachen über sie. Sie trippelte durch die Stuben und durch die Küche, und ihre besonnenen Hände begannen umherzugreifen, als könnten sie einen der vielen flatternden Gedanken erhaschen. Sie legte die Hände vor den Mund, als müsse sie dies hilflose Lachen ersticken, das gar keinen Platz hatte in diesem seltsamsten Augenblick ihres Lebens … »Na, na, und gar ein Bübchen!« schrie sie aus ihrem gepressten Herzen heraus. Aber dieser Ruf war schon Glück; denn er brach aus ihr hervor wie die Sonne aus dem verstürmten Märzhimmel. Dann lief sie und nahm das große Bündel auf ihre Arme und trug es in die Küche und aus der Küche in das Zimmer und aus dem Zimmer zu ihrem Bette und legte es darauf. Und alle Türen standen offen, da lief ein goldener Morgenwind ins Haus und lief um sie her, und sie legte in ihrer freudigen Not eine Serviette dreieckig zusammen und das braune Bübchen darauf und deckte es mit ihrem weichen Deckbett zu bis an die Nase. Zu all dem sagte der Junge gar nichts; als Zeichen seines lebendigen Unverständnisse wackelte er einmal mit den Lippen eine saugende Bewegung, beschied sich aber, ballte die Fäustlein, legte sie an seine Wangen und schlief sich tief in die wohlige Wärme dieses Bettes und neuen Lebens hinein wie ein Maulwurf. Als das kleine braune schlafende Ding mit dem glänzenden Fellchen auf dem Kopfe nicht mehr in den Lumpen war, fasste Fräulein Veronika die Hülle mit sehr spitzen Fingern an und legte sie auf ein Zeitungspapier … da klapperte etwas auf den Fußboden. Es war ein silberner Ohrreif, der der Mutter über der Hast und dem Schmerze des Scheidens entfallen sein...