E-Book, Deutsch, 200 Seiten
Gemmel Fake it till you're famous
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-401-80972-4
Verlag: Arena Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman ab 12 über eine Influencerin, Mode und Fame
E-Book, Deutsch, 200 Seiten
ISBN: 978-3-401-80972-4
Verlag: Arena Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Stefan Gemmel, Jahrgang 1970, ist einer der erfolgreichsten Kinder- und Jugendbuchautoren im deutschsprachigen Raum. Der Leseweltrekordler 2012, 2015 und 2018 wurde für seine herausragenden Autorenlesungen und sein Engagement in Sachen Leseförderung als Lesekünstler des deutschen Buchhandels und mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Er ist Vater von zwei Töchtern und lebt im Hunsrück (Rheinland-Pfalz).
Autoren/Hrsg.
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1
Risse im Blick
Milla blickte auf die Uhr neben ihrer Tür. Die Uhr, die sich seit Stunden nicht mehr vorwärtsbewegte. So, wie sich nichts in ihrem Leben vorwärtsbewegte.
»Nichts!«
Milla schrie dieses Wort, als müsste sie es ausspucken. Dann schaute sie sich in ihrem Zimmer um. Ihr Blick schweifte von ihrem Klavier über die Gitarre und die Ballettschuhe bis zu dem Laptop auf dem Schreibtisch und dem Notizbuch daneben, das voller angefangener Kurzgeschichten war.
»Nichts!« Dieses Mal brummelte sie das Wort vor sich hin. »Das alles hat nichts gebracht. Gar nichts!« Sie griff sich ein Kissen und warf es mit voller Wucht auf die Wanduhr neben der Tür. Krachend zerschellte sie auf dem Boden. Doch das klirrende Geräusch wurde noch übertroffen, als Milla erneut schrie: »Nichts!«
Zum Glück war sie allein zu Hause. Sonst stünde ihre Mutter jetzt längst in der Tür und würde sich sorgen. So, wie sie sich immer sorgte.
Genau wie ihr Vater auch. Beide waren Vollzeit berufstätig und versuchten, das auszugleichen, indem sie pausenlos um Milla herumsprangen, wenn sie doch mal ausnahmsweise zu Hause waren.
Dabei verstanden sie nichts.
»Nichts!«, brummelte Milla erneut. »Gar nichts. Und sie haben noch nie etwas verstanden von dem, was in mir vorgeht.«
Sie steckte sich die Ohrstöpsel ein und suchte auf dem Smartphone ihren Lieblingssong. Sobald Janice Duvalls Stimme ertönte, drehte Milla die Lautstärke voll auf und sang mit. Ihren Blick richtete sie dabei auf das Poster von Janice Duvall an der Wand. Während die Musik Millas Hirn flutete, sah sie, wie sich Janice auf dem Poster veränderte. Die blonden Locken zogen sich in die Länge und fielen ihr schulterlang und braun auf die Schultern, so wie Milla ihre Haare trug. Janice’ grüne Augen wandelten sich in Millas braune und das Gesicht verzog sich so, dass Milla in sich selbst hineinblicken konnte.
Sie sah sich dort stehen, auf dem Poster. Auf dieser Bühne. Vor Tausenden von Menschen. Alle jubelten ihr zu, sangen mit, warfen ihr Plüschtiere zu und machten Fotos mit ihren Handys.
Aber mitten im Song, an der Stelle, an der Janice ihre durchdringende Stimme über die House-Bässe so einsetzte, wie es Milla niemals gelingen würde, verwandelte sich das Bild auf dem Poster wieder. Aus braunen Augen wurden grüne, aus glatten Haaren wurden Locken, aus Millas Gesicht wurde Janice’ und aus der Jubelstimmung wurden Wut und die Erkenntnis, dass sich keine Fans um Milla scharten, dass sie nicht auf der Bühne stand, dass sie nicht in Fangesänge gehüllt war.
Sie war hier. In ihrem Zimmer. Auf ihrem Bett. In ihrer Trostlosigkeit.
»Das ist so unfair!«, brach es aus ihr hervor und sie zog sich die Stöpsel wieder aus den Ohren. Janice Duvall sang unbeirrt weiter, doch so klang es aus den Stöpseln nicht mehr nach Bühnensound. Jetzt, wo sie auf der Bettdecke lagen, hörte sich alles wie aus einer Konserve an.
»Warum du?«, schrie Milla die Janice Duvall auf dem Poster an. »Was du kannst, kann ich auch. Warum bist du berühmt und ich bin … ich bin … hier?«
Am Alter konnte es nicht liegen. Auch Janice Duvall war gerade erst 14 Jahre alt, als sie berühmt wurde. Genauso alt also wie Milla.
Sie sprang von ihrem Bett und rannte zu dem Poster. Mit beiden Händen ergriff sie das Papier an der oberen Ecke und zerriss das Bild mit einem kräftigen Ruck, sodass nur noch zwei Seitenränder schlaff an der Wand hingen.
Milla ließ den Papierfetzen los und er fiel so, dass er die Gitarre bedeckte.
»Ja! Mach das!«, schnaubte Milla. »So muss ich die blöde Gitarre nicht mehr sehen!« Sie musste sich sehr zurückhalten, ihren Frust nicht an der Gitarre auszulassen. Ihre Wut war noch nie so groß gewesen wie heute. Wie viel Zeit und Kraft hatte sie in die Gitarrenstunden gesteckt und wie viel Zeit in den Klavierunterricht?
Sie drehte sich um und blickte das weiße, schmale E-Piano an, an dem sie schon unzählige Stunden gesessen hatte.
»Völlig umsonst! Völlig!« Am liebsten hätte sie dem edlen Teil einen Tritt verpasst.
Ihre Eltern nörgelten ständig, dass sie viel zu früh aufgegeben hätte …
»… aber was wissen die schon!?«
Milla klaubte den Posterfetzen von der Gitarre und zerriss ihn. Janice Duvalls Gesicht starrte ihr aus zwei hässlich ausgefransten Teilen entgegen.
»Niemand weiß irgendwas von Milla«, zischte sie hervor. »Niemand! Keiner ahnt, wie es in mir aussieht! Alle interessieren sich nur für sich.«
Nun griff sie sich eines der Hefte mit den Kurzgeschichten. Beinahe hätte sie auch das zerrissen, doch im letzten Moment hielt sie inne. Frau Knopp mochte ihre Geschichten. Die Deutschlehrein hatte sie ja sogar extra darauf angesprochen.
»Bleib dran, Milla«, klangen Frau Knopps Worte in ihr nach. »Du bist auf einem guten Weg. Du musst nur an dir arbeiten.«
Endlich flossen Milla Tränen über das Gesicht. Endlich hatte die Wut sich den Weg aus ihrem Körper und aus ihrer Gefühlswelt gesucht.
»Aber ich arbeite doch an mir«, schluchzte Milla und ließ sich auf die Knie sinken. Sie schaute erneut auf Klavier, Ballettschuhe, Gitarre. »Ich hab doch an mir gearbeitet. Ich hab das doch alles gelernt. Und trotzdem …«
Sie drückte ein Knie auf Janice Duvalls Augen auf dem zerrissenen Poster.
»Trotzdem sind es die anderen, die weiterkommen.«
Es waren Sturzbäche, die ihr über das Gesicht liefen. Ihr Shirt war am Saum patschnass.
Milla wischte sich über die Augen. »Ist doch scheiße alles. Ist doch …!«
Ein quietschender Ton unterbrach ihre Gedanken. Ihr Handy hatte geklingelt. Milla mochte den Klingelton, den sie eingestellt hatte, sehr. Angeblich sollte es ein bremsendes Auto sein, das man da hörte, doch es klang eher so, als würde jemand eine Ente kitzeln.
Sie erhob sich von den Posterfetzen und blickte zu ihrem Handy. Das Symbol für eine erhaltene Nachricht blinkte munter vor sich hin.
»Burgers Sargnägel«, las Milla und kicherte, während sie den Messenger öffnete. Wenn Herr Burger, ihr Klassenlehrer, den Gruppennamen kennen würde … »Hihi … egal!« Vorfreude kam in ihr auf. »’ne Meldung in der Klassengruppe? Haben wir morgen schulfrei, oder was?«
Mit einem Fingerwisch klickte sie den Messenger auf und las, was Kathy in die Gruppe geschrieben hatte:
Denkt daran: Gleich bei Pop-U-up! Johnny geht wieder online. Hab euch heute Morgen von ihm erzählt … Ihr könnt ihn live sehen.
Milla erinnerte sich. Ja, Kathy hatte am Morgen von einem Jungen gesprochen, der online steilging. Milla hatte es nicht interessiert. Kathy schwärmte ja immer von irgendwem oder irgendwas. Aber jetzt, wo sie die Meldung so las …
»Hmmm …« Millas Blick fiel auf den Begriff Pop-U-up. Diese Plattform kannte sie wirklich noch nicht. Wieder was Neues im Netz?
Nun war ihr Interesse doch geweckt. Schnell drückte sie auf den Link. Der Browser ihres Handys öffnete sich, es erschienen erst das grau-schwarze Logo Pop-U-up und dann darunter der Slogan »Sei ein Star – du kannst mehr!«.
Milla horchte auf. Nun war ihr Interesse riesig groß. »Sei ein Star?« Ihr Blick ging noch einmal zu dem Logo. »Wieso hab ich noch nie was von dir gehört?«
Am unteren Bildschirmrand gab es die Möglichkeit, ein Konto zu erstellen.
»Warte doch erst einmal«, kicherte Milla, als ob das Programm sie hören könnte. »Lass mich mal schauen, was du so kannst!«
Sie wischte sich durch mehrere Accounts, wo Jugendliche zeigten, warum sie das Zeug zum Star hatten. Pop-U-up erinnerte sie in vielen Funktionen an bestehende Plattformen und dennoch war es anders. Man fühlte sich den Accounts mehr verbunden. Das lag daran, dass man leicht kommentieren konnte, aber auch daran, wie diese Videos eingebettet waren. Außerdem gab es einen Infokasten, der alles über die Person hinter dem Account verriet. Man musste nicht lange recherchieren und herumklicken, bis man diese Infos erhielt.
Das alles kam Milla neu und gleichzeitig bekannt vor.
»Hmmm, hat was«, kommentierte Milla. Oder: »Das würde ich lassen an deiner Stelle.«
Man konnte Kommentare oder auch einfach nur Likes hinterlassen. Am unteren Rand zeigte ein kleines Symbol, wie viele User gerade zusahen.
Schließlich gelangte sie zu einer Jugendlichen, die einen Song von Janice Duvall auf ihre ganz eigene Art interpretierte. Es war der erste Account, bei dem Milla hängen blieb. Sie hörte sich den gesamten Song an und fand die Idee des Mädchens, das eigentlich schnelle Stück sehr langsam zu singen, super.
Daher ärgerte sie...