Genovesi | Meine zehn Großväter, das Meer und ich | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 416 Seiten

Genovesi Meine zehn Großväter, das Meer und ich

Roman
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-641-26944-9
Verlag: Penguin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 416 Seiten

ISBN: 978-3-641-26944-9
Verlag: Penguin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Eine Kindheit am Meer, eine skurrile italienische Großfamilie und eine Liebeserklärung an das Leben

Fabio ist der Mittelpunkt seiner verrückten Großfamilie in der Toskana. Als Liebling seiner zehn »Großväter« – den schrulligen, unverheirateten Brüdern seines Opas – wird er zu den seltsamsten Unternehmungen mitgenommen. Die sind zwar selten kindgerecht, aber dafür immer unvergesslich. Doch als sein Vater nach einem Unfall im Koma liegt, muss Fabio sich dem richtigen Leben stellen. Er beginnt, seinem Vater selbst verfasste Geschichten vorzulesen. Denn was kann jemanden besser ins Leben zurückholen, als all die Abenteuer mit seinen zehn Großvätern ...

Das Buch ist 2019 unter dem Titel »Wo man im Meer nicht mehr stehen kann« im Verlag C. Bertelsmann erschienen.

Fabio Genovesi, 1974 in der Toskana geboren und am berühmten Badeort Forte dei Marmi aufgewachsen, hat als Bademeister, Radsporttrainer, Kellner und Übersetzer gearbeitet, bevor er sich höchst erfolgreich dem Schreiben widmete. Seit vielen Jahren gehört er zu den wichtigsten und beliebtesten Autoren Italiens. Für sein neuestes Buch wurde er mit dem renommierten "Premio Viareggio" ausgezeichnet.

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Der Fluch

Wie es angefangen hat, weiß niemand. Vielleicht hat einer unserer Vorfahren das Grab eines Pharaos entweiht, vielleicht hat er eine Hexe geärgert oder das heilige Tier eines rachsüchtigen Gottes umgelegt, sicher ist nur, dass auf unserer Familie seitdem ein schrecklicher Fluch lastet.

Das ist schlimm, ist aber so, es war das Erste, was ich in der Schule gelernt habe.

Ach nein, als Erstes lernte ich gleich beim Betreten der Klasse, dass es auf der Welt noch andere Kinder in meinem Alter gab und dass die nur drei oder vier Großeltern pro Kopf hatten. Ich dagegen um die zehn.

Denn mein Opa mütterlicherseits hatte einen Haufen alleinstehender Brüder, die nie geheiratet, ja, nicht mal einer Frau die Hand geschüttelt hatten, sodass aus dieser riesigen Familie nur ich hervorgegangen war, und daher war ich der Enkel von allen.

Sie stritten sich immer darum, wer etwas mit mir unternehmen durfte, und als Opa starb, wurde es noch schlimmer, deshalb hängte Oma Giuseppina einen Zettel an die Platane oben an der Straße, auf dem der Schichtplan der Woche stand: Montag Fischen mit Opa Aldo, Dienstag Jagen mit Opa Athos, Mittwoch Eisessen mit Opa Adelmo, Donnerstag nach Vögeln Ausschauhalten mit Opa Aramis und so weiter, bis alle zufrieden waren. Das Einzige, was der Kalender nie vorsah, war ein freier Tag, den ich mit Kindern in meinem Alter hätte verbringen können. Die sich sehr wohl untereinander trafen und einen Haufen verrückter Spiele kannten, von denen ich an jenem Morgen in der Schule zum ersten Mal hörte: Verstecken, Himmel und Hölle, Blindekuh, sie brauchten nur eines zu nennen, und schon rannten oder hüpften alle los, nach Spielregeln, die mir absurd, ihnen aber völlig normal erschienen, dafür guckten sie komisch, wenn ich sie fragte, wie viele Karpfen sie diesen Sommer gefangen oder ob sie eine Fasanenfeder zum Tauschen hätten.

Einen Fasan hatten sie noch nie gesehen, und beim Karpfen wussten sie nicht einmal, was das überhaupt ist, deshalb beobachtete ich sie am ersten Tag nur von Weitem, diese geheimnisvollen Wesen, die so viele Spiele, aber so wenige Opas hatten, als wäre ich auf dem Mars gelandet, in einer Klasse Außerirdischer.

Als ich am Ende meines ersten Schultags hinter Mama nach Hause radelte, fühlte ich mich wirklich wie ein Raumfahrer, der von einer Weltraummission zurückkehrt, von einem so weit entfernten und unmöglichen Ort, dass ich trotz der altbekannten Straßen Angst hatte, den Weg in meine Welt nicht mehr zu finden. Die aus einer kurzen Sackgasse bestand, in der sich jeder Opa ein Häuschen gebaut hatte und wo nur wir wohnten; am Anfang der Gasse hing sogar ein Holzschild, auf dem von Hand geschrieben stand:

WILLKOMMEN IM DORF MANCINI
BETRETEN VERBOTEN

Und wie bei der Rückkehr eines Raumfahrers wartete auf der Gasse eine große Menschenmenge auf mich: nämlich meine Verwandten, die mich nicht einmal absteigen ließen, sondern gleich umringten und wissen wollten, wie es war, wie es mir ging, ob mir jemand etwas angetan hatte.

Ich sagte ihnen aber nicht, wie es mir ging, denn ich wusste es selbst nicht. Ich sah meine vielen Opas nur einen nach dem anderen an, und es kam mir vor, als sähe ich sie zum ersten Mal. Dann fragte ich, ob ich sie ab sofort Onkel nennen dürfe.

»Da hast du es!«, riefen sie Mama zu. »Siehst du? Wir hätten ihn nicht zur Schule schicken sollen!«

Und ich war ihrer Meinung, eigentlich wollte ich da nie wieder hin. Doch Mama sagte, dass dann die Carabinieri kämen und mich ins Gefängnis stecken würden. Ich ließ mir erklären, wie es im Gefängnis war, und im Grunde war das ziemlich ähnlich wie in der Schule, nur dass man bis nach Lucca fahren musste. Also ging ich doch weiter zur Schule, die kleinen Außerirdischen wurden meine Klassenkameraden, und meine vielen Opas wurden zu Onkel Aldo, Onkel Athos, Aramis, Adelmo, Arno und so weiter. Alle trugen Namen, die mit A anfingen, wie ihre Eltern, die Arturo und Archilda geheißen hatten, bis auf den Letztgeborenen, der mein echter Opa gewesen ist und der unbedingt Rolando heißen sollte. Sie hatten alles Mögliche erwogen, neun Monate lang deswegen gestritten und ihn schließlich Arolando genannt.

Ich schwör’s, Arolando. Und warum er unbedingt Rolando heißen sollte, weiß keiner. So ist das in meiner Familie, hinter jedem Unsinn gibt es eine unendliche Geschichte, Millionen Erzählungen, die bei jedem Millimeter unseres schiefen und krummen Wegs hervorschießen, mit tonnenweise genauestens ausgeführten Einzelheiten. Aber von den wirklich wichtigen Dingen war nie etwas bekannt. Niemand sprach davon, und weil niemand davon sprach, wusste man nichts mehr darüber, so wurden aus Geheimnissen Rätsel.

Wie eben der Grund für den Namen Rolando-Arolando, aber vor allem diese Geschichte mit dem Fluch, der auf uns lastet, von dem niemand weiß, wann das angefangen hat und warum. Ich wusste nicht einmal, dass es ihn überhaupt gab, bis zu jenem Nachmittag des Jahres 1980, als ich sechs Jahre alt war und in die erste Klasse ging.

Ich stand in Signora Teresas Laden und packte ein Wassereis mit Zitronengeschmack aus, während Mama sich mit ihr über die Theke hinweg unterhielt.

Der Laden lag ganz in der Nähe des Mancini-Dorfs, und ich war dort groß geworden. Im wahrsten Sinne des Wortes, als Neugeborener legte Teresa mich nämlich jede Woche auf ihre Waage für Schinken und Mortadella und sagte Mama, wie viel ich zugenommen hatte.

Offensichtlich war ich an dem Tag aber noch nicht groß genug geworden, denn Mama und sie sprachen in Andeutungen miteinander, damit ich nichts verstand, damit jenes Geheimnis mir nicht zu nahe kam, das mich sonst schlagartig hätte altern lassen.

Kurze und seltsame Sätze, Wispern und Blicke, Worte, die hier und da abprallten, wie bei einem Tennismatch, wo ich das Netz war und jede Information über mich hinwegzufliegen hatte, ohne mich je zu berühren. Aber wie im Tennis kam immer mal eine Aussage etwas zu kurz heraus und landete auf mir, also schnappte ich kleine Stücke Sinn auf wie etwa: Vor der ganzen Klasse, Teresa, oder: Was für eine Schande, die Lehrerin wird mindestens Anzeige erstatten, was für eine Schande!

Ich lutschte mein Zitroneneis, schaute in die Luft und versuchte die Teile zusammenzusetzen, und ein bisschen ärgerte ich mich darüber, dass Mama und Teresa mich ihre Gespräche nicht verstehen lassen wollten. Aber gleichzeitig musste ich lachen, denn die Geschichte, die die beiden Tennisspielerinnen vor mir geheim zu halten versuchten, kannte ich viel besser als sie beide und besser als die ganze Welt.

Denn ich war es ja leider gewesen, der morgens im Unterricht gesessen hatte.

Die Lehrerin hatte gerade die Urgeschichte erklärt und war bei den Höhlenmenschen angelangt, die gekrümmt herumliefen und so behaart waren wie Affen, aber ich zeichnete dabei einen riesigen Dinosaurier in mein Heft. Es tat mir einfach zu leid, dass die Dinosaurier irgendwann alle ausgestorben waren, deshalb machte ich den hier superstark, mit Kiemen, damit er unter Wasser atmen konnte, und mit Flügeln, damit er vor Gefahren davonfliegen konnte, so würde er sich retten, wenn die Sintflut oder ein anderes Unglück kam, und wenn das schrecklichste Unglück von allen auf Erden erschien, nämlich die Menschen, konnte er sie sofort von der Welt wegmampfen.

Aber ausgerechnet, als ich die vielen, vielen langen Zähne in seinem aufgerissenen Maul zeichnete, was besonders schwierig war und wobei man sehr genau sein musste, ging plötzlich die Tür auf, schlug wie eine Bombe gegen die Wand, und durch den Ruck rutschte mir die Hand weg, und so malte ich einen Strich über das Blatt, der die Arbeit eines ganzen Vormittags zunichtemachte.

Normalerweise ist es aber ja so, dass dir bei einem Ruck zwar kurz das Herz stehen bleibt, doch dann beruhigst du dich, und alles ist wieder in Ordnung. Aber diesmal schaute ich nach dem Ruck hoch, und da wurde die Angst hundertmal schlimmer. Denn dort, mitten in der halb aus den Angeln gerissenen Tür stand Onkel Aldo mit Zigarette im Mund und diesen zusammengekniffenen Augen, die er immer bekam, wenn ihn etwas ärgerte, zum Beispiel wenn der Wein zu Essig oder eine Ampel rot wurde.

Und vielleicht kannte auch die Lehrerin diesen Blick, denn erst war sie aufgesprungen und hatte gefragt: Darf ich fragen, wer Sie sind?, doch dann hat mein Onkel auf die Bänke gezeigt, und sie hat sich mit gesenktem Kopf zu uns in die erste Reihe gesetzt.

»Also Kinder, hört gut zu«, sagt mein Onkel mit einer Stimme, die klingt, als schlage jemand einen Aschenbecher aus Marmor gegen eine Wand aus Schmirgelpapier. »Heute Morgen vergesst ihr mal den ganzen Scheiß, den sie euch hier sonst beibringen. Heute reden wir mal über etwas Ernsthaftes. Seid still und nervt nicht rum, dann lernt ihr das sofort und richtig, verstanden?«

Wir nicken alle, sogar die Lehrerin.

»Gut. Dann fangen wir an. Gebt mir den Maschendraht.«

Aber Maschendraht ist keiner da.

»Ruhe, na gut, von mir aus auch normalen Draht.«

Doch auch davon haben wir keinen im Klassenzimmer.

»Was? In dieser Schule gibt es aber auch gar nichts! Also gut, hört zu, dann erkläre ich halt nur mit Worten, wie man das macht, aber seid still und rührt euch nicht, sonst werde ich wütend und alles geht drunter und drüber.«

Er presst die Zigarette zwischen zwei Fingern zusammen, nimmt einen so starken Zug, dass das Ende erst funkelt und dann aufflammt, anschließend reißt er sie sich aus dem Mund und schnippt sie Richtung Fenster. Nur dass das Fenster geschlossen ist, weshalb die Zigarette von der Scheibe abprallt und auf den Boden unter Mirko Turinis Bank rollt. Mirko will sie wegschubsen, aber mein Onkel brüllt:...


Genovesi, Fabio
Fabio Genovesi, 1974 in der Toskana geboren und am berühmten Badeort Forte dei Marmi aufgewachsen, hat als Bademeister, Radsporttrainer, Kellner und Übersetzer gearbeitet, bevor er sich höchst erfolgreich dem Schreiben widmete. Seit vielen Jahren gehört er zu den wichtigsten und beliebtesten Autoren Italiens. Für sein neuestes Buch wurde er mit dem renommierten "Premio Viareggio" ausgezeichnet.



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