E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Gerlach Ich bin der andere
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-95824-094-0
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Roman
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-95824-094-0
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Gunter Gerlach, Jahrgang 1941, studierte an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg. Er schreibt Hörspiele, Rundfunkserien, Kurzprosa und außergewöhnliche Krimis, für die er u. a. 1995 mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet wurde. Gunter Gerlach zählt zu den am häufigsten mit dem renommierten Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichneten Autoren, lebt in Hamburg. Bei dotbooks erscheinen Gunter Gerlachs Romane »Herzensach«, »Das Jahr, in dem ich beschloss, meinen Großvater umzubringen«, »Ich bin der andere«, »Der Haifischmann« und die Allergie-Trilogie »Kortison«, »Katzenhaar und Blütenstaub« und »Neurodermitis«, sowie der Kurzgeschichtenband »Melodie der Bronchien« und die Literatur-Quickies »Gold im Gebirge« und »Vorlieben«.
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6
Wir schweigen uns an, trotten eine Straße entlang.
»Frauen«, sagt er. Und nach einer Weile: »Was ist mir dieser Messerheldin? Was ist mit ihrem Namen?«
»Weißt du, vielleicht kann ich ihren Namen nicht sagen, weil ich noch nicht weit genug gereist bin. Ich brauche Abstand zu ihr. Es muss räumliche Zeit vergehen …« Ich habe unsere Absprache vergessen. Robert spreizt seinen Bart. Ich rede schnell weiter, um meinen Fehler zu übertönen: »Vielleicht, weil ich noch nicht auf eine Kröte getreten bin und dabei dreimal in Richtung Westen gespuckt habe. Ich brauche Magie. Und weil ich mich eben noch nicht mit Ziegenfett eingerieben und nackt durch eine Bahnhofshalle gelaufen bin, kann ich bestimmte Dinge nicht tun. Verstehst du, ich muss weggehen, um anzukommen. Ich muss an einer Grenze anlangen und dann noch einen Schritt weiter gehen. Nur einen.«
Robert zischt und neigt den Kopf. Der Blick eines Hundes. »Immer auf der Flucht?«
Er rollt seine Schultern, schüttelt sein Fell. Er schnüffelt, als suche er etwas Essbares.
Er hat ja Recht. Die Geschichten von Männern, die von Frauen enttäuscht werden, lassen die Gelenke einschlafen. Es ist besser, die Sinne zu schärfen, nach einem Knochen zu schnuppern. Er streckt sich.
Ich brumme vor mich hin.
Robert winkt. Ich soll ihm folgen.
Ich schüttle den Kopf. Nein, nein, geh doch allein. Du weißt doch, ich löse meine Probleme, indem ich mich entferne.
»Warte.« Ich laufe hinterher. »Hör zu. Ein Mann geht in eine Bar, und dort sitzt eine Frau an der Theke. Er sieht sie an und merkt, dass er ihrem Blick nicht standhalten kann. Zugleich registriert er die Beschaffenheit ihrer Haut. Nicht besonders glatt, ein paar kleine Pickel sogar, aber gleichmäßig gebräunt, so als wäre Vanille mit Sahne gemischt worden. Die Hände des Mannes zucken, fast zwanghaft muss er sie berühren. Am Arm. Sie lässt es sich gefallen. Er sieht ihr Lächeln, aber nicht in ihre Augen. Denn sie stößt ihn ab und zieht ihn zugleich an. Wahrscheinlich ahnt er schon zu diesem Zeitpunkt, dass sie eine Form der Nähe sucht, die für ihn tödlich sein kann.«
Ich mache eine Pause. Robert reagiert nicht.
»Der Mann betrachtet ihren Mund, ihre Nase, ihre Ohren. Er ist fasziniert von ihrer Haut, aber er sieht ihr kaum in die Augen. Erst später wird ihm bewusst, dass es die Augen einer Verrückten sind, doch da ist es bereits zu spät. Sie liegen im Bett, haben miteinander geschlafen, und nun beginnt sie, das Betttuch in schmale Streifen zu schneiden, knüpft sie aneinander und wickelt sich wie eine Mumie darin ein.«
Robert kratzt sich an den Armen, am ganzen Körper. Er bleibt stehen, reibt seinen Rücken an einer Hausmauer. Dann geht er schneller voran. Ich bin noch nicht am Ende. »Die beiden bleiben zusammen, und mit der Zeit gelingt es dem Mann, ihrem Blick standzuhalten. Ihm schwindelt dabei, und nur die Berührung ihrer Haut beruhigt ihn. Ihre Haut lässt ihn alles ertragen. Sie mischt ihm heimlich Betäubungsmittel in Getränke. Er erwacht, und sie hat ihm zum Beispiel die Haare abrasiert und sich mit dem Blut der Schnittwunden bemalt. Er erwacht und fühlt eine Schlinge um seinen Hals, die sie am Bettpfosten verknotet hat. Manchmal entdeckt er Flecken auf seiner Haut, deren Herkunft er sich nicht erklären kann. Aber es ist ihm unmöglich, diese Haut zu verlassen.«
Immer bin ich ein Stück hinter Robert. Er hat die Richtung gewechselt. Er sieht sich nicht nach mir um. Er bleibt vor einem kleinen Haus im French Quarter stehen. Die blaue Farbe blättert an vielen Stellen ab. Er geht die drei Stufen zum Eingang hinauf.
Ich breite die Arme aus. »Warum soll ich noch weiter erzählen? Vielleicht ein anderes Mal.«
Er hält mir die Tür auf. Wir stehen in einem Flur, eine Treppe führt nach oben. Die Wände sind holzvertäfelt. Ein farbiger Junge kommt aus der Dunkelheit des ersten Stocks. Sein Hemd und seine Unterhose haben Löcher. Er rüttelt am Geländer der Treppe, lässt es quietschen. Robert streckt ihm zwei Geldscheine entgegen. Der Junge nickt, öffnet uns eine Tür und lässt uns allein.
Ein dunkles Wohnzimmer mit alten Möbeln. Holz, abgeschabt und eingekerbt von immer gleicher Benutzung. Es riecht nach Moos und Pilzen. Ich gehe in die Mitte des Raumes, streiche mir Spinnweben aus dem Gesicht. Durch die kleinen Fenster dringt gelbliches Licht.
»Wo sind wir? Was ist das hier?«
Ich ziehe mir einen Stuhl heran, streiche mit der flachen Hand den Staub von der Sitzfläche.
»Sieh dich um. Hier findest du zum Beispiel ein Ende für deine Geschichte.« Robert zeigt auf einen Ofen in der Zimmerecke. Ein großer runder Ofen. Wie ein rostiges Rohr, aus dem schwarze Beine ragen. Ein kurioses Stück, denn es hat, wie ich entdecke, auch menschlich geformte Arme an den Seiten. Ich weiche zurück. Die Arme haben sich bewegt. Der Ofen wird eine Maschine sein, ein Roboter. Robert reibt sich die Hände. Er lacht durch die Nase.
»Komm, wir sagen ihm guten Tag.« Er öffnete den Deckel des Rohres. »Hallo, wie geht’s?«
Es ist kein Ofen. In dem eisernen Rohr hockt ein Mann. Es umschließt ihn. Seine Arme und Beine hat er durch Löcher nach außen gestreckt. Er hebt den Kopf, erkennt Robert und grinst. Seine Zähne sind Kohlen. Dann sieht er mich an und runzelt die Stirn. »Nur einer?«, fragt er.
Robert nickt. »Fang an.«
Der Mann nennt seinen Namen, sein Alter, knapp fünfzig. Er beginnt, einen Vortrag über die Konstruktion des Rohres zu halten. Seit zweiundzwanzig Jahren haust er darin, ohne es jemals verlassen zu haben. Er berichtet von dem Toilettenrohr, das sich direkt unter ihm befindet und mit dem Abwasserkanal verbunden ist.
Robert wedelt mit der Hand. Der Mann blickt hoch.
»Die Kurzfassung«, sagt Robert.
»Gut. Ich lebte mit einer Frau zusammen. Sie war schön, sehr schön.« Er stockt, dreht sich in seinem eisernen Sitz, reibt seinen Körper an dem Eisen.
»Schneller, weiter«, verlangt Robert.
»Es fing genauso an wie bei jedem anderen Paar: Wir hatten etwas gemeinsam, das jeder für sich nicht besaß. Meine Frau war sehr schön, aber sie war voller Ängste …« Der Mann stockt. Robert nickt ihm zu.
»Verstehen Sie, weil sie mich liebte, wurde ich ihr immer ähnlicher. Mir wuchsen Brüste. Ich bekam langes Haar. Mein Bartwuchs versiegte. Meine Haut wurde glatt. Am Ende hatte ich eine helle Stimme und eine Scheide wie sie. Bei einem Wettbewerb kam ich unter die zehn schönsten Frauen der Stadt.«
Der Mann im Rohr sieht mich ernst an. Ich forsche in Roberts Gesicht, aber er lacht nicht.
»Bitte verzeihen Sie, aber es ist die Wahrheit. Ich habe nur ein paar falsche Worte benutzt. Meine Frau, ich liebte sie, und ich wurde ihr deshalb immer ähnlicher … Sie machte mich …« Er zögert. Er reckt sich. Ich sehe, dass er wirklich Brüste besitzt. Sie hängen flach an seinem Körper. Es könnten Hautfalten sein.
»Begreifen Sie die Gefahr? Als sie mich verließ, blieb mir nichts anderes übrig: Ich baute das Rohr und kroch hinein. Verstehen Sie, ich hatte kein Geld, ich konnte nichts anderes tun, als dieses Metall zwischen uns zu bringen. Aber es genügte.«
Er senkt den Kopf und scheint nicht weiter sprechen zu wollen.
»Sie haben nicht versucht, sie zurückzugewinnen?«, frage ich.
Robert verzieht das Gesicht und geht zum Fenster. Er hebt die Gardinen hoch. Eine Staubwolke löst sich. Er reibt an den matten Scheiben, um hinauszusehen.
»Womit hätte ich das tun können? Ich war wie sie. Sie verließ nicht mich, sondern sich selbst. Das Rohr war meine Chance. Wenn sie jetzt käme, ich glaube, sie würde bei mir bleiben. Wir könnten wie Schwestern miteinander leben.«
»Aber …«
Robert springt heran und setzt dem Rohr den Deckel auf. »Danke. Es ist genug.« Er schiebt mich hinaus, so dass ich draußen fast die Stufen zur Straße hinunterfalle.
»Was willst du?« Ich boxe ihn in die Seite und stoße ihn weg. »Ich hätte noch ein paar Fragen …«
»Damit alles ohne Geheimnis ist, alles sich zum Banalen wendet? Damit aus Helden Schwachköpfe werden?«
»Beruhige dich. Ich begreife ja, was du meinst, aber warum hat ihn seine Frau verlassen?«
Ein paar Passanten beobachten uns. Sie verstehen unsere Sprache nicht. Ihre Augen suchen uns nach Waffen ab. Ein Hund auf einer Fensterbank bellt, als würde er dabei die Luft einatmen. Für einen Moment läuft die Zeit rückwärts.
»Warum hat ihn seine Frau verlassen?«
Robert knurrt: »Ist das wirklich wichtig?«
Wir zücken keine Messer, und die Blicke der Zuschauer lösen sich von uns. Wir spazieren langsam in Richtung Hafen.
»Für mich fehlt etwas an der Geschichte.«
»An deiner auch.«
»Außerdem ist das alles ein sehr simples Gleichnis. Weißt du, was ich glaube? In dem Rohr sitzt nicht der Mann sondern die Frau.«
Robert schweigt.
»Oder es ist ein Transvestit. Das würde seine Geschichte erklären. Ein Mann, der sich zur Frau machte. Mit diesem dummen Ofenrohr verdient er sich ein paar Cents.«
Robert gibt keine Antwort.
Ich setze neu an: »Na gut, es ist ein Außerirdischer mit einem ausgebrannten Raketenleib, unfähig, seinen Heimatplaneten wieder zu erreichen.«
Roberts Mundwinkel zucken. Er lacht nach innen.
Wir kommen zum Hafen. Dicht am Wasser liegt der Gemüsemarkt. Robert geht hinüber, greift nach einer Melone, wiegt sie in der Hand.
»Seine Frau ist tot.« Die Melone fällt ihm aus der Hand, er gibt ihr einen Tritt. Sie rollt auf die Straße. »Seine...




