Gerrard Als er für immer ging
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-7325-0432-9
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 368 Seiten
ISBN: 978-3-7325-0432-9
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
'Es gibt eine andere.' Plötzlich ist Irene eine verlassene, alleinerziehende Ehefrau, die am Betrug ihres Mannes zu zerbrechen droht. Verstört taumelt sie durch ihren Alltag - bis sie sich an die strahlende Irene erinnert, die die Nächte durchtanzte und 'Ja' sagte zum Leben, und das Kribbeln im Bauch wiederentdeckt. 'Pures Leben. Sensibel: Nicci Gerrards Roman über Trennung und Neuanfang' Madame
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Zwei
»Ich glaube, es hat alles gut geklappt«, sagte Irene. »Hat es dir gefallen?« »Ja«, antwortete er. »Gut. Danke. Du hast dir meinetwegen viel Mühe gemacht.« »Ach.« Sie sah zu ihm hinunter. »Das war doch das Mindeste, was ich tun konnte.« »Danke«, sagte er noch einmal. Er blickte in ihre ehrlichen grauen Augen mit den winzigen Krähenfüßen und auf ihren großen, von feinen Falten umrahmten Mund. »Alles in Ordnung bei dir?«, fragte sie. »Ja. Ich bin nur etwas müde. Irene?« »Mmm.« »Wir sollten mal wieder zusammen wegfahren, so wie früher. Wie in alten Zeiten.« »Ab ins Bett!«, sagte sie und dachte an überzogene Konten, Termine, die Tagesmutter, Heimweh. »Es ist mein Ernst. Irgendwohin, wo im Februar die Sonne scheint, nur du und ich. Die Kinder kommen inzwischen auch ohne uns zurecht. Es ist lange her, dass wir so etwas gemacht haben. Wir könnten …« »Nun komm schon«, sagte sie und streckte ihm die Hand entgegen. Er nahm sie und bemerkte, dass ihre Nägel abgekaut waren und ihr Ehering locker saß. »Sollen wir nicht erst noch aufräumen?« »Lass nur. Das hat Zeit bis morgen.« Er beobachtete, wie sie den Morgenmantel auszog und an den Türhaken hängte. Sie war blass, hatte Sommersprossen auf den Schultern, einen Leberfleck an der Hüfte und vorstehende Rippenknochen. Früher war sie schlank und flink gewesen – wie eine Flamme, hatte er, von Liebe überwältigt, einmal zu ihr gesagt; wie eine Wildblume. Jetzt hingegen war sie mager. An ihren Armen sah man die Sehnen, und ihre Haut war schon ein wenig schlaff. Es fiel ihm schwer, keinen Vergleich mit dem anderen herrlichen Körper anzustellen, der in einem Tarnwerk aus Blättern wie eine reife Frucht geleuchtet hatte. Und als sich Irene neben ihm in das Bett legte, das sie seit zehn Jahren teilten, umarmte und küsste er sie und spürte dabei ihre hervorstehenden Rückenwirbel wie einen Reißverschluss an seiner Brust. »Ich rieche immer noch nach Erbrochenem.« »Das macht nichts.« Er legte eine Hand auf ihren flachen Bauch zwischen ihren spitzen Beckenknochen. Sie achtete sorgfältig darauf, ihn weder abzuweisen noch zu ermuntern. »Ich liebe dich«, sagte er in ihr Haar. Ihm war schwindlig, und wenn er tief einatmete, spürte er eine leichte Übelkeit. »Du weißt, dass ich dich liebe, oder?« »Mmm. Ich dich auch.« Er schob seine Hand weiter nach unten. »Irene?« »Mmm?« Sie verharrte völlig reglos und starrte mit weit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit. »Ach, nichts. Schlaf gut.« Sie murmelte leise. Er rollte sich auf den Rücken, legte den Arm über die Augen und spürte, wie die Wände auf ihn zustürzten. Irene blickte in den Flur hinaus. Sie ließ die Tür immer einen Spalt offen, damit sie die Kinder nachts hören konnte. Ein fahlgelber Streifen Licht fiel vom Treppenabsatz auf den Teppich. Sie wartete, bis Adrian tief atmete, glitt aus dem Bett, streifte sich den Frotteemantel über und ging in das Zimmer, das sich Clemmie und Agnes teilten. Die beiden niedrigen Betten waren durch einen schmalen Gang getrennt, der in ihren Spielen ein Fluss, ein wütendes Feuer oder ein Abgrund war, den sie durch einen heldenhaften Sprung überwinden mussten. Agnes verfehlte allerdings oft das Ziel und landete mit einem Aufschrei der Enttäuschung und Verzweiflung auf dem Holzfußboden. Clemmie schlief, den Kopf auf ein Handtuch gebettet, neben sich einen Eimer. Sie hatte hektische rote Flecken auf den Wangen, und – wie Irene durch Auflegen der Hand prüfte – eine feuchte Stirn. Clemmies Rücken war glühend heiß. Ein schwerer, säuerlicher Geruch umgab sie. Irene wusste, dass sie jetzt keinen Schlaf finden würde, obwohl sie vor wenigen Stunden, während des Films, mehrmals so von Müdigkeit übermannt worden war, dass sie die Augen weit aufreißen und sich aufrecht in die Kissen setzen musste, um nicht einzuschlafen. An ihrem Wein, dem einzigen des ganzen Abends, hatte sie nur genippt. In letzter Zeit schenkte sie sich nie mehr als ein Glas zum Essen ein, und selbst das rührte sie oft kaum an. Sie warf noch einen Blick in Sashas Zimmer, bevor sie hinunter in die Küche tappte, wo sich die Teller im Spülbecken stapelten und der Tisch mit verschmierten Gläsern, leeren Bierflaschen, zusammengeknüllten Papierservietten und Brotresten übersät war. Irene steckte Clemmies Bettzeug in die Waschmaschine. Sie streifte sich Gummihandschuhe über, hob die Teller aus dem Spülbecken und füllte es mit heißem Wasser und Spülmittel. Sie ging systematisch vor, wusch erst das Besteck ab, dann die Gläser und am Schluss die Teller und Schüsseln. Sie leerte die Aschenbecher und schwenkte die Wein- und Bierflaschen aus, bevor sie sie in die Kiste für den Glascontainer stellte; sie legte die Kissen wieder auf die Stühle, fuhr mit dem Staubsauger über den Teppich und in staubige Ecken, und das alte Gerät verschlang rasselnd Krümel und Staub und bunte Perlen. Obwohl ihre Augen vor Müdigkeit brannten, war an Schlaf jetzt nicht zu denken. Es verschaffte ihr Befriedigung, das Zimmer wieder in seinen normalen Zustand zurückzuverwandeln, die Dinge an ihren Platz zu legen und zu wissen, dass es am Morgen so aussehen würde, als wäre am Vorabend nichts geschehen. Inzwischen war es drei Uhr. Irene stellte sich vor, wie viele Leute um diese Zeit ebenfalls noch wach waren, sich liebten, Tabletten schluckten, Gedichte schrieben, in ihre Kissen schluchzten, neugeborene Babys an ihren wunden Brustwarzen nuckeln ließen und darauf warteten, dass ein Streifen grauen Tageslichts durch die Vorhänge fiel. Im Schrank standen verschiedene Packungen Tee: Zitrone-Ingwer, Zitrone-Eisenkraut, schwarze Johannisbeere, Minze, Kamille, ein »Beruhigungstee«, der staubig roch wie Heu oder Geranien. Sie hängte einen Beutel Zitrone-Eisenkraut in einen Becher und goss kochendes Wasser darüber, breitete das gewaschene Bettzeug auf dem Heizkörper aus und setzte sich dann mit untergeschlagenen Beinen im dunklen Wohnzimmer aufs Sofa. Sie legte die aufgesprungenen Hände um den Teebecher und trank in langsamen Schlucken, während ihr der wohlriechende Dampf ins Gesicht stieg. Regen peitschte gegen das Fenster. Sie fröstelte und zog den Gürtel ihres Morgenmantels enger. Wenn man nicht schlafen kann, erscheint alles in einem grelleren Licht. Als sie Adrian am Abend in dem Fernsehspiel gesehen hatte, hatte sie sich endlich eingestanden, dass sie nicht mehr an seinen Erfolg als Schauspieler glaubte und diesen Glauben wohl schon vor langer Zeit verloren hatte. Sein Gesicht, in Wirklichkeit lebendig und sinnlich, wirkte auf dem Bildschirm merkwürdig flach und ausdruckslos wie eine überbelichtete Fotografie. Überrascht hatte sie zur Kenntnis genommen, was ihr bis dahin entgangen war: dass sein Haaransatz zurückwich, dass er um die Taille Speck angesetzt und leichte Hängebacken bekommen hatte. Sie hatte sich umgedreht und ihn beobachtet, während er sich selbst auf dem Bildschirm betrachtete. Sein spöttisches Grinsen vom frühen Abend war einer feierlichen Aufmerksamkeit gewichen. Mitleid durchzuckte sie wie ein Stromschlag, als sie erkannte, dass er zufrieden war mit dem Ich, das ihm entgegentrat. Seine Lippen formten lautlos die Sätze, die sein Ebenbild auf dem Bildschirm sprach, und er zeigte die Andeutung eines verschmitzten Lächelns. Ihr Herz zog sich zusammen. Sie legte die Hand auf seinen Arm und drückte ihn fest, aber er reagierte nicht. Er hatte keine Ahnung. Nun fühlte sie sich ausgebrannt vor Erschöpfung, Beklemmung und Liebe. Unvorstellbar, dass sie ihn oder einen anderen Mann jemals wieder begehren würde. Aber zu dieser nächtlichen Stunde bestand der Trick darin, nicht weiter darüber nachzudenken. Irene war auf dem Sofa eingeschlafen und kurz vor sechs Uhr plötzlich aufgewacht, fröstelnd und ganz steif. Eine Weile wusste sie nicht, wo sie war. Ja, sie hatte das irritierende Gefühl, nicht einmal zu wissen, wer sie war. Durch ihren Kopf rauschte eine Flut von Empfindungen und Regungen, endlose Erinnerungen, die nicht unbedingt etwas mit ihr zu tun hatten. Sie blieb regungslos liegen, die Hände auf dem groben Stoff des Kissens, und wartete, dass sich die Dinge entwirrten und zu ihr zurückkehrten. Allmählich gewöhnten sich ihre Augen an das Dämmerlicht, und sie erkannte die Sessel, den Tisch, die vom oberen Absatz her schwach beleuchtete Treppe. Nun konnte sie sich auch vorstellen, was sie nicht sah: den Teppich mit der abgewetzten Stelle unter dem Tisch, das Zickzackmuster der Kissen. Sie setzte sich auf, rieb sich die Augen und stand auf. Sie war gerade in die vom Badeöl glitschige Wanne gestiegen, als Agnes erwachte und hereinmarschiert kam. Ihre Füße stampften schwer über die Fliesen, und sie blinzelte unter ihrem zotteligen hellblonden Schopf. »Ist jetzt Morgen?«, fragte sie. »Er fängt gerade an.« Ohne ein weiteres Wort zog Agnes das Nachthemd aus und stieg ins Wasser. Pummelig wie sie war, machte sie es sich zwischen den Beinen ihrer Mutter bequem wie ein selbstzufriedener kleiner Buddha, obwohl ihr das Wasser bis zum Hals reichte. Sie griff nach dem Stück Seife am Beckenrand, betrachtete es neugierig und biss hinein. Nach wenigen Sekunden rutschte ihr die Seife aus der kleinen Faust, aber sie verzog keine Miene. Doch dann öffnete sie den Mund und stieß einen heiseren Schrei aus, während weiche Seifenbrocken von ihrer schäumenden Zunge fielen und sie die Arme ins Wasser warf. »Ach, Aggie, nein! Nicht schon wieder«, sagte Irene. »Los, raus aus dem...