Gerspach | Verstehen, was der Fall ist | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 217 Seiten

Gerspach Verstehen, was der Fall ist

Vom Nutzen der Psychoanalyse für die Pädagogik

E-Book, Deutsch, 217 Seiten

ISBN: 978-3-17-040778-7
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Pädagogik ist Fallarbeit - die Arbeit am Fall strukturiert ihre Praxis. Fallverstehen meint hier immer sinnverstehendes Erfassen eines sozialen Phänomens, die Rekonstruktion von Sinnzusammenhängen. Das Buch zeigt, dass die Psychoanalyse mit ihrer besonderen Methode des Verstehens, mit ihrem auf Sinnverstehen gerichteten Wissen und Können Pädagogen ein vertieftes Fallverstehen und darüber einen erheblichen Kompetenzzuwachs ermöglicht. Mehr noch: Die Psychoanalytische Pädagogik weist weit über jene Selbstbeschränkungen und normativen Setzungen der reinen Beobachtungs- und Erklärungswissenschaften hinaus, denen ein empathischer Zugang zu den lebensgeschichtlich eingeschriebenen affektiven Nöten der Klientel verborgen bleibt.

Professor Dr. Manfred Gerspach ist Seniorprofessor am Institut für Sonderpädagogik an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
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2          Psychoanalytisch orientierte Beobachtung
      2.1       Der kritische Moment
Was ist der »Fall«? Oder genauer: »Wann ist der Fall ein Fall« (vgl. Bimschas, Schröder 2003, S. 71)? In dieser Frage von Bimschas und Schröder klingt an, dass eine professionelle Situationsbeschreibung erst durch die Betrachtung des Kontextes, der sie rahmt und ihr Bedeutung verleiht, zu einem Fall wird. Es ist also nicht der Einzelne als Fall zu betrachten, Fälle können auch eine Gruppe oder eine Organisation behandeln, ja die Lebenswelt der Klient/innen selbst kann zum Fall werden. Auch »Erziehungsversuche und Projekte« fließen in Fallschilderungen ein (vgl. Braun u. a. 2011, S. 12 f.). Immer geht es hauptsächlich um »das Ereignis, das unter bestimmten Bedingungen zu einem ›Fall‹ wird« (vgl. ebd., S. 71). So sagt Eggert-Schmid Noerr: »Fallgeschichten sind Erzählungen aus professionellen Kontexten. Sie beschreiben besondere, signifikante Prozesse, die sich innerhalb einer fachlichen Rahmung abspielen und mit Hilfe entsprechender fachlich-allgemeiner Begrifflichkeiten expliziert werden«. Sie betont, dass sie keine objektive Abbildung der Wirklichkeit darstellen, »da Form und Inhalt schon auf einem mehr oder weniger expliziten Vorverständnis aufbauen« (vgl. Eggert-Schmid Noerr 2010, S. 27). Aktuell haben Hummrich u. a. die gleiche Frage »Was ist der Fall?« noch einmal gestellt (vgl. Hummrich u. a. 2016a). Sie thematisieren die »außerwissenschaftliche Realität, die einen »behandlungsbedürftigen oder behandlungswürdigen lebenspraktischen Sachverhalt« kreiert. Danach steht Fallarbeit zwischen »empirisch-deskriptivem Forschungswissen und praktisch-normativem Professionswissen« (vgl. Hummrich u. a. 2016b, S. 1 ff.). Die Übersetzung von Wissen in Können wird demgemäß in dem Spannungsfeld verortet, sich an »wissenschaftlich begründeter Rationalität« auszurichten und gleichzeitig Bezug zu nehmen auf die »gesellschaftliche Ordnung im Sinne von Gerechtigkeit und die Bearbeitung von Geltungsfragen von Weltbildern, Werten und Normalitätsentwürfen (…)« (vgl. ebd., S. 16 f.). Unter professionstheoretischen Gesichtspunkten wird allerdings dieser Transfer als nicht unmittelbar herstellbar erachtet, so dass ein »Differenzverhältnis« nachbleibt (vgl. Kunze 2016, S. 98). Und selbstredend ist zu klären, was zum »Fall« wird: »der Klient oder die Klientin, die Beziehung zwischen Klient_in und Professionellem oder Professioneller, das Fallverstehen des Professionellen oder der Professionellen usw.« (vgl. Graßhoff 2016, S. 277). Dann aber scheiden sich leider wieder die Geister. Da, wo es anfängt, spannend zu werden, bricht der Diskurs ab. Graßhoff betont, dass es hinsichtlich der Reflexion der Fallarbeit in der Gruppe unumgänglich ist, »die eigenen (biographischen) Anteile im professionellen Handeln sichtbar zu machen und eine Möglichkeit der Konfrontation und Auseinandersetzung mit sich selbst« zu finden. In diesem Sinne nimmt Fallarbeit supervisorische Züge an. Das eher pessimistische Ende ist aber in die nachfolgende Form gegossen: »Fraglich ist aber, ob die Lehrenden dieser Rolle von ihren Kompetenzen gerecht werden können, aber auch, ob ein Seminar an der Universität, das möglicherweise noch mit einer Prüfungsleistung versehen ist, ein struktureller Ort supervisorischer Praxis sein kann« (vgl. Graßhoff 2016, S. 285 f.). Im gesamten Buch spielen tiefenhermeneutische Zugänge oder solche aus der Psychoanalytischen Pädagogik keine Rolle, wenn man, wie bei Graßhoff, von der gelegentlichen Erwähnung Burkhard Müllers einmal absieht. Auf diesen meinen Feldern wird aber seit langem die Bedeutung eines außerklinischen und nicht-therapeutisierenden Herantastens an den Fall eingehend durchdekliniert. Der Kompetenztransfer von Wissensbeständen aus dem ursprünglich psychotherapeutischen Kontext in die Aus- und Fortbildungen von Pädagog/innen ist ohne weiteres zu bewerkstelligen, er muss allerdings tatsächlich supervisorisch begleitet werden. So sollte der Umgang mit mentalisierungsbasierten Konzepten z. B. »Teil der Lehramtsausbildung sein, um Lehrkräfte bestmöglich darauf vorzubereiten, eine mentalisierende Haltung gegenüber ihren Schülern einnehmen zu können und diese bewusst und gezielt zur Regulierung von Affekten nutzen zu können, sowie den Schülern die Möglichkeit zu geben, das eigene affektive Erleben differenzierter wahrzunehmen und zu erforschen« (vgl. Ramberg 2018, S. 115 f.). Ein, wie ich finde, gutes Beispiel für eine solche Herangehensweise ist unser Sammelband »Psychoanalyse lehren und lernen an der Hochschule. Theorie, Selbstreflexion, Praxis« (vgl. Gerspach u. a. 2014a). Thilo Naumann hat darin exemplarisch dargelegt, wie sich Seminararbeit, Praxisreflexion und Anteile von Selbsterfahrung so zusammenbinden lassen, dass im Sinne der Angstmilderung Selbsterfahrungswünsche wie Regressionsneigungen klar begrenzt werden und auch die Entkoppelung von Prüfungsleistung und Teilnahme am Seminar über eine wechselseitige Übernahme dieser Aufgabe durch Kolleg/innen möglich wird. Er folgert, dass »der Gruppenleiter gemeinsam mit der Gruppe das in Szene gesetzte Gruppengeschehen erforscht, und zwar im Hinblick auf die Interaktionen im Hier und Jetzt der Gruppe, auf wiederbelebte verinnerlichte Gruppenerfahrungen sowie auf den institutionellen Rahmen der Hochschule. Auf diese Weise können die Empfindungs- und Handlungsmöglichkeiten der Einzelnen und der Gruppe wachsen« (vgl. Naumann 2014b, S. 66 ff.). Fachintern werden also große Dissonanzen sichtbar. Im angesprochenen Text wird Fallarbeit als »Narrativ« erfahrener Pädagog/innen kenntlich gemacht (vgl. Hummrich 2016, S. 27). Es geht dabei um eine sinnhafte Erzählung, in der die kulturspezifische Wahrnehmung der Lebenswelt widerscheint und sich Identitätskonstrukte abbilden (vgl. Keupp u. a. 2008, S. 219). Was aber fange ich mit dem in den aktuellen Fachdiskursen immer wieder bemühten Begriff des Narrativs an, dem das Unbewusste bis auf wenige Ausnahmen nicht bekannt ist und der demgemäß eher eindimensional daherkommt? Allein in Frommers Geleitwort zu Brigitte Boothes Buch fand ich die nachfolgende, sich wohltuend abhebende Erläuterung: »Ansatz und Ausgangspunkt ist ein modernes hermeneutisch informiertes Verständnis von Psychoanalyse, welches Unbewusstes und Konflikt nicht außerhalb des Sprachlichen verortet, sondern im Interaktionsprozess und seinen verbalen Ausdrucksformen und Inhalten auch da aufspürt, wo es dem Sprecher selbst verborgen bleibt. Erzählungen dienen so gesehen nichts anderem als der Entfaltung psychodynamischen Wunsch- und Konfliktgeschehens im erzähldynamischen Erwartungs- und Erfüllungsraum« (vgl. Frommer 2011, S. V; Boothe 2011). Auf der Suche nach Argumentationshilfen für meine psychoanalytisch-pädagogische Auslegungsweise bin ich also wieder einmal nicht fündig geworden. Offenbar ist das Faszinosum der Selbsterfahrung aus den 1970er Jahren im Gleichschritt mit der rigiden Inobhutnahme des Subjekts durch neoliberale Vermarktungszwänge zur Angst davor mutiert. Viel näher sind mir da von Freyberg und Wolff. Sie grenzen das Fallverstehen so ein: »Die Geschichte schwieriger Kinder ist immer auch die Geschichte schwieriger, gestörter Institutionen« (vgl. von Freyberg, Wolff 2005, S. 28). In den Erziehungswissenschaften gab es immer schon zwei Gegenströmungen. Zum einen wurde das »Allgemeine im Sinne des Allgemeingültigen« angestrebt, zum andern geht man schon viel länger von »konkreten Fällen des Erziehungsgeschehens« aus, um über diese Geschichten zu »allgemeinen und allgemeingültigen Einsichten« zu gelangen (vgl. Fatke 1997, S. 56). Noch immer bildet die Betrachtung von »Einzelepisoden des pädagogischen Alltags« das Kernstück von Fallstudien innerhalb der Psychoanalytischen Pädagogik, und diese Tradition reicht zurück bis zu Aichhorn, Zulliger, Bernfeld oder Redl (vgl. Schmid 1997, S. 179 ff.). Diesbezüglich unterscheidet Schmid in vier historische Typen von Fallstudien (vgl. S. 186): •  Fallstudien, in denen das zugrundeliegende Material ohne psychoanalytische Orientierung erhoben wurde (vgl. Rose 1991), •  Fallstudien, deren Material bereits unter...


Dr. Manfred Gerspach ist Seniorprofessor am Institut für Sonderpädagogik an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.


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