E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Ghali Snooker in Kairo
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-406-71903-5
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-406-71903-5
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
In „Snooker in Kairo“ geht es um Ram, einen ägyptischen „Fänger im Roggen“ als Ich-Erzähler, und seinen Freund Font, ihre Familien und Freunde, und um seine Liebe zur Jüdin Edna. Ram und Font stammen aus der ägyptischen Oberschicht, es ist das Kairo der 1950er-Jahre, das heute sehnsüchtig verklärt wird. Sie sind eher europäisch, aber nicht arabisch geprägt und schon gar nicht religiös. Waguhi Ghalis glänzend geschriebener, einziger Roman wurde während des arabischen Frühlings zu einem Fanal für die Demonstrierenden, weil das von ihm beschriebene Ägypten unter Nasser mit seiner Repression so sehr an die Gegenwart erinnert. Die jungen Leute verachten die dekadente Schicht, aus der sie teilweise kommen, und bleiben doch gefangen in den Annehmlichkeiten, die sie gewohnt sind, sie wirken orientierungslos und verloren, zynisch, empfindsam, komisch, anarchisch und voll Lebenshunger. „Snooker in Kairo“ zeichnet ein faszinierendes Zeitbild, mit trockenem Humor und voller Melancholie, und erzählt die aufwühlende, gefährliche Liebesgeschichte zwischen Ram und Edna. Teilweise wie ein „Großer Gatsby“ in Kairo, ein erstaunlich aktuelles und doch zeitlos schönes Buch.
Weitere Infos & Material
Einführung von Diana Athill
An einem Sommerabend im Jahr 1963 lief ich mit besonderem Vergnügen ins Erdgeschoss, um die Haustür zu öffnen. Die Abendgesellschaft galt eigentlich einem amerikanischen Paar, das gerade in London Halt machte, aber insgeheim freute ich mich auf einen anderen Mann, den ich noch nie gesehen hatte. Er war unerwartet in London aufgetaucht, und als er anrief, dachte ich: «Ein Glück, dass ich eine Party gebe; da kann ich ihn gut einladen, ohne dass unser erstes Treffen einen seltsamen Anstrich bekommt.» Ich wollte ihn kennenlernen, weil ich sein Buch sehr gut fand. Mir war aufgefallen, dass er darin oft so komisch war, nicht weil er um jeden Preis unterhaltsam sein wollte, sondern weil er selbst von der Komik der beschriebenen Situationen bezaubert war. Einen bestimmten Vorfall, eine Gruppe oder eine Marotte festzuhalten, und zwar richtig festzuhalten – das hatte ihm Spaß gemacht und nicht, «sich künstlerisch Ausdruck zu verschaffen». Bücher, die so geschrieben werden, sind nicht unbedingt große Bücher, aber so wurden die großen Bücher geschrieben, die ich am liebsten lese. Sie sind echt. Wir hatten uns in Briefen angeregt über sein Schreiben ausgetauscht, und andere Menschen hatten mir von ihm erzählt. Er war ein Ägypter, dem man den Pass entzogen hatte, weil er Kommunist war, und er hatte jahrelang als Exilant in Deutschland gelebt. Er hasste das Land. Bettelarm schlug er sich als Fabrik- und Hafenarbeiter durch. Seinem Roman war zu entnehmen, wie seine Kindheit und Jugend ausgesehen hatten und dass die Entbehrungen des Exils eine dramatische Wende in seinem Leben bedeuteten. Ein deutscher Bekannter hatte ihm «ein bescheidenes, sanftes und gazellenartiges Wesen» attestiert, was zu der Persönlichkeit passte, die man beim Lesen seiner Schriften vor sich sah. Ich hatte eine Schwäche für unterdrückte Ausländer, und ein unterdrückter Ausländer, der ein gazellenartiges Wesen hatte, seine Misere abtat und die Dinge mit dem Humor und Durchblick betrachtete, wie sie sich in seinem Buch niederschlagen, musste mir einfach sympathisch sein. Er sollte mehr als nur ein interessanter neuer Bekannter sein. Er sollte ein Freund werden. Ich fühlte mich beschwingt, als ich an jenem Abend ins Bett ging. In den besten Jahren schließt man noch jede Menge Bekanntschaften, bekommt aber nur noch selten die Gelegenheit, einen neuen Menschen so ins eigene Leben einzubinden, wie man das in der Jugend tut. Genau das war an diesem Abend geschehen. Er hieß Waguih Ghali, aber ich nannte ihn Didi. Das war unpassend, aber das galt auch für den Spitznamen seiner Familie. Er hatte festgefügte Vorstellungen von etwas, das er «Aristokratie» nannte und womit er die wesentlichen Elemente von Kultiviertheit meinte, ob nun ererbt oder «natürlich», und allen Widrigkeiten zum Trotz verstand er sich auf die Kunst der Eleganz. Es fiel ihm leicht, gut gekleidet aufzutreten. Er besaß zwei Anzüge, einen dunkelblauen und einen dezent karierten grauen, beide mit konservativem Schnitt. Ob er nun einen seiner Anzüge trug oder nicht, er schaffte es immer, gut auszusehen. Seine Gestik und sein Auftreten waren von natürlicher Eleganz, und seine Umgangsformen entsprachen seinem Erscheinungsbild: eine ernsthafte, förmliche Liebenswürdigkeit, manchmal eine Spur outriert, aber ungemein einnehmend, oder eine spontane und offene Heiterkeit. Man kannte Didi erst richtig, wenn man verstand, wie tief und aufrichtig seine Liebesfähigkeit war, und niemand konnte eine Viertelstunde mit ihm im selben Raum verbringen, ohne zu spüren, wie hochsensibel sein Stolz war. Didi hatte wenige, aber tief greifende literarische Leidenschaften, weil er für Geringes keine Geduld aufbrachte. Seine Lieblingsschriftsteller waren Céline und die Russen, besonders Tschechow, den er immer wieder mit endlosem Vergnügen las. («Wenn ich mich manchmal frage: ‹Warum bin ich auf der Welt?›, antworte ich mir: ‹Um Tschechow zu lesen›.») Er verlangte von Literatur Wahrheit. Er misstraute Wohlgeformtem, Poliertem, Geflunkertem, wobei sprachliche Virtuosität ihn begeisterte (er liebte Nabokov). Vielleicht konnte er literarische Qualitäten manchmal nicht sehen, weil sie mit Elementen einhergingen, denen er misstraute (wenn ich das sage, sind das aber vielleicht auch meine eigenen Ressentiments, denn meine Texte mochte er nicht), aber er fiel nie auf Talmi herein, und was sein eigenes Schreiben anging, wollte er immer über die Raffiniertheit hinaus zur Wahrheit vordringen. Ich erinnere mich an unseren brieflichen Austausch über sein Buch. Er wusste immer ganz genau, was er wollte, und konnte es begründen. Er akzeptierte bereitwillig Änderungsvorschläge, die sein Englisch betrafen, das nicht seine Muttersprache war, aber wenn sie auch nur ein Jota des von ihm Gemeinten veränderten, blieb er unnachgiebig. Jeder einzelne Satz seiner scheinbar so beiläufigen Prosa war abgewogen und durchdacht. Didi war ein Hamsterer. Er bewahrte zahllose Entwürfe von allem auf, was er schrieb, sämtliche Briefe, die er bekam, und manchmal – wenn er besonders zufrieden mit ihnen war – sogar Durchschläge seiner eigenen Briefe. Er wusste, dass er als Schriftsteller nur ein Thema hatte, sich selbst, und sein Leben war für ihn Rohmaterial für ein literarisches Werk, für das er mit seinem Roman nur erst einen Grundstein gelegt hatte. Beim Hamstern seines Materials schummelte er nicht: Schmerzhaftes bewahrte er genauso auf wie Angenehmes. Fünf Jahre nach unserer ersten Begegnung brachte sich Didi in meiner Wohnung um. Er schluckte sechsundzwanzig Schlaftabletten und rief dann einen Freund an. Die häufigsten Reaktionen darauf sind (seitens der Liebenden) das Entsetzen darüber, dass ihn im letzten Augenblick Panik überkam, und (seitens der Wissenden) die Schlussfolgerung, dass er eigentlich nicht sterben wollte. Ich halte beide Reaktionen für falsch. Nach dem Brief zu urteilen, den er mir hinterließ, und nach dem, was der Freund, den er anrief, über seine Ausdrucksweise sagte, brauchte er wohl einen Zeugen. Es ist schlimm genug, einfach vor Trauer zusammenzubrechen, wenn man allein ist; wenn andere Menschen nicht begreifen, was geschehen ist, macht das die eigenen Tränen schnell lächerlich. Wie viel schlimmer wäre es gewesen, wenn er «die einzige authentische Tat in meinem ganzen Leben», wie er sie nannte, in einem Vakuum vollzogen hätte. «Eine schreckliche Enttäuschung»: Das schrieb er in seinem Abschiedsbrief. Ja, es ist schrecklich, wenn man sich an etwas so Bedeutendes wie den Tod von eigener Hand macht, ohne dass jemand davon weiß. Er griff zum Telefon, damit die Tat wirklich wurde. Ich glaube, er hat sich gesagt, dass dieses Buch und seine Entscheidung für den Freitod das Einzige in seinem Leben waren, das ganz dem Mann gehörte, als der er erscheinen konnte und der er unter anderen Umständen vielleicht auch gewesen wäre. Ich kann nur selten richtig trauern. Meistens ist ein Zuschauer dabei, registriert Unpassendes, beobachtet Unerwartetes, wundert sich über Seltsames. Um Didi habe ich richtig getrauert, aber nicht, als es am meisten danach aussah, als sie ihn nämlich ins Grab hinabließen und ich weinte. Als ich außerstande war, ans offene Grab zu treten, die Tränen mir über das Gesicht liefen und ich so schluchzte, dass ich die Zähne zusammenbeißen musste, weil ich sonst aufgeheult hätte, da stieß mir das eher zu, als dass ich etwas getan hätte. Das Trauern fand vorher statt, nicht in Form emotionaler Krämpfe und Zuckungen, sondern als ein langer starrer Blick auf das Unerträgliche, nachdem ich das Tagebuch, das er mir hinterließ, von Anfang bis Ende durchgelesen hatte. Unerträglich war nicht, dass er sich umbrachte. Unerträglich war, dass es die richtige Entscheidung gewesen war – dass er keine Alternative gehabt hatte. Unerträglich war, dass man diesen Mann in seiner wehrlosen Kindheit so verkrüppelt hatte, dass er sich selbst in einem genauen und buchstäblichen Sinne nicht mehr hatte ertragen können. Er hatte versucht, sich zu ändern. Sein ganzes Erwachsenenleben lang hatte das, was er seine «geistige Gesundheit» nannte, aus den Kulissen das beobachtet, was er seine «emotionale Unzurechnungsfähigkeit» nannte – beobachtet und vergeblich beurteilt. Seine Intelligenz und seine Gaben – für ihn wertlos. Die Geduld anderer Menschen, ihre Güte und Zuneigung, ihr Verständnis – für ihn wertlos. Liebe? Zu spät und...