Ghosh | Der rauchblaue Fluss | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 2, 720 Seiten

Reihe: Ibis-Trilogie

Ghosh Der rauchblaue Fluss


1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-641-09663-2
Verlag: Blessing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, Band 2, 720 Seiten

Reihe: Ibis-Trilogie

ISBN: 978-3-641-09663-2
Verlag: Blessing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein monumentaler Roman über Ruhm und Leid in einer frühen Ära der Globalisierung
Kanton 1838. Über den sagenumwobenen Perlfluss gelangen Glückssucher und Abenteurer aus aller Welt in die chinesische Hafenstadt: Für den jungen Maler Robin Chinnery ist die pulsierende Metropole der ideale Zufluchtsort, um den Heiratsplänen, die seine Mutter für ihn hat, zu entkommen. Der britische Botaniker Fitcher Penrose ist in Begleitung seiner jungen Assistentin Paulette unterwegs nach Kanton, um dort nach einer geheimnisvollen Kamelienart zu suchen, der wahre Zauberkräfte zugesprochen werden. Und der indische Kaufmann Bahram Modi erhofft sich mit der größten Ladung Opium, die er je von Kalkutta nach Kanton transportiert hat, das Geschäft seines Lebens. Es sieht so aus, als würden die Dinge gut für ihn anlaufen, denn man beruft ihn in die Kantoner Handelskammer. Doch dann beginnen die autoritätseinflößenden Mandarine den ausländischen Kaufleuten auf den Leib zu rücken, denn der chinesische Kaiser will den Handel mit Opium verbieten. Und plötzlich stehen alle Zeichen auf Krieg ...
Ein schillerndes Epos, ein entlarvender Blick auf die Ursprünge unseres Wirtschaftssystems und eine Verbeugung vor der chinesischen Kulturgeschichte, betörend und spannend zugleich.

Amitav Ghosh wurde 1956 in Kalkutta geboren und studierte Geschichte und Sozialanthropologie in Neu-Delhi. Nach seiner Promotion in Oxford unterrichtete er an verschiedenen Universitäten. Mit 'Der Glaspalast' gelang dem schon vielfach ausgezeichneten Autor weltweit der große Durchbruch. Zuletzt erschien seine Romantrilogie 'Das mohnrote Meer', 'Der rauchblaue Fluss' und 'Die Flut des Feuers' (2016) bei Heyne. Ghosh lebt in Indien und den USA.
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Erstes Kapitel

Ditis Schrein verbarg sich in einer Felswand, in einem entlegenen Zipfel von Mauritius, wo die West- und die Südküste der Insel aufeinanderstoßen und den windgepeitschten Bergstock Morne Brabant hervorbringen. Der Ort war eine geologische Besonderheit – eine Höhle, von Wind und Wasser in den Kalkstein gegraben; etwas Ähnliches gab es nirgendwo sonst auf dem Berg. Später sollte Diti behaupten, dass nicht der Zufall, sondern das Schicksal sie dorthin geführt habe –, denn man konnte sich nicht vorstellen, dass der Ort tatsächlich existierte, solange man ihn nicht betreten hatte.

Die Colver-Farm lag am anderen Ende der Bucht, und im hohen Alter, als ihre Knie schon steif von der Arthrose waren, konnte Diti die Höhle nur noch aufsuchen, wenn sie in ihrem pus-pus, einer Art Sänfte, hinaufgetragen wurde. Der Besuch des Schreins war deshalb stets eine regelrechte Expedition, an der etliche männliche Mitglieder der Familie Colver teilnehmen mussten, vor allem die jüngeren und kräftigeren.

Den ganzen Clan zu versammeln La Famie Colver, wie sie auf Kreolisch hieß war nicht leicht, da seine Angehörigen weit verstreut lebten, sowohl auf der Insel als auch im Ausland. Einmal im Jahr aber, im Hochsommer, während der großen Ferien, die dem Neujahrsfest vorausgingen, konnte man sich darauf verlassen, dass sich jeder bemühen würde zu kommen. Die Famie fing Mitte Dezember an zu mobilisieren, und zu Beginn der Feiertage war der ganze Clan auf den Beinen. Begleitet von ganzen Trupps aus Schwagern, Schwägerinnen, Schwiegervätern, Schwiegermüttern und anderen angeheirateten Verwandten, bewegten sich die Colver’schen Schlachtreihen in einer gigantischen Zangenbewegung konzentrisch auf die Farm zu: Einige kamen auf Ochsenkarren über das neblige Hochland, aus Curepipe und Quatre Bornes, andere reisten per Schiff an, aus Port Louis und Mahébourg, dicht an der Küste entlang, bis der nebelverhangene Nippel des Morne in Sicht kam.

Vieles hing vom Wetter ab, denn man konnte den windumtosten Berg nur an einem schönen Tag besteigen. Wenn die Bedingungen günstig schienen, begannen die Vorbereitungen dazu schon am Vorabend. Das Festmahl, das auf die puja folgte, war stets der am ungeduldigsten erwartete Teil der Pilgerfahrt, und schon die Vorbereitungen waren von großer Begeisterung und freudiger Erwartung begleitet: Der mit einem Blechdach gedeckte Bungalow hallte wider von Hackmessern, Mörsern und Nudelhölzern, während masalas gemahlen, Chutneys abgeschmeckt und Berge von Gemüse zu Füllungen für parathas und daalpuris verarbeitet wurden. Wenn die Speisen in Blechbehältern und Vorratsschränken verstaut waren, gingen alle frühzeitig ins Bett.

Bei Tagesanbruch sorgte Diti höchstpersönlich dafür, dass alle sich schrubbten und badeten und keinem auch nur der kleinste Bissen zwischen die Zähne kam, denn wie alle Pilgerfahrten musste auch diese mit einem äußerlich wie innerlich reinen Körper unternommen werden. Diti stand stets als Erste auf, tappte, den Stock in der Hand, über den Holzfußboden des Bungalows und posaunte einen Weckruf, in der eigenartigen Mischung aus Bhojpuri und Kreol, die zu ihrem persönlichen Idiom geworden war: »Revey-té! É Banwari; é Mukhpyari! Revey-té na! Haglé ba?«

Bis die ganze Sippe aus dem Bett und auf den Beinen war, erhellte die Sonne bereits die Wolken, die den Gipfel des Morne verhüllten. Diti übernahm die Führung in einer Pferdekutsche, und die Prozession rumpelte aus der Farm hinaus, durch die Tore und den Hügel hinab zu der Landbrücke, die den Berg mit dem Rest der Insel verband. Weiter kamen die Fahrzeuge nicht, deshalb stiegen hier alle aus. Diti nahm in ihrem pus-pus Platz, und die jüngeren Männer wechselten sich an den Stangen ab und trugen so den Sessel durch das dichte Grün der unteren Hänge bergan.

Unmittelbar vor dem letzten, steilsten Teil des Anstiegs tat sich eine willkommene Lichtung auf, und hier blieben alle stehen, nicht nur, um Atem zu schöpfen, sondern auch, um lautstark die großartige Aussicht auf den Dschungel und den Berg zu bewundern, der zwischen zwei sandgesäumten, fein geschwungenen Küstenlinien aufragte.

Diti war als Einzige nicht von der Aussicht beeindruckt. Nach wenigen Minuten schon fuhr sie einen nach dem anderen an: »Levé té! Wir sind nicht hier, um die soly vi zu bestaunen und den ganzen Tag patati-patata zu machen. Paditu! Chal!«

Sich zu beklagen, dass man gidigidi im Kopf sei oder die Füße fatigé seien, war zwecklos, damit erntete man höchstens ein erbostes: »Bus to fana! Auf die Füße!«

Es war nicht schwer, die Schar der Pilger zum Weitergehen zu bewegen, denn inzwischen konnten sie das Mahl nach der puja kaum noch erwarten, am wenigsten die Kinder. Erneut übernahm Ditis pus-pus die Führung, an den Stangen die kräftigsten Männer: Auf knirschenden Kieselsteinen stapften sie einen steilen Weg bergan und umrundeten einen Felsvorsprung. Und dann, ganz plötzlich, kam die andere Flanke des Berges in Sicht, die lotrecht ins Meer abfiel. Jäh drang das Donnern der Brandung über die Kante des Felsens an ihre Ohren, und der Wind fuhr ihnen ins Gesicht. Dies war die gefährlichste Etappe des Aufstiegs, denn hier waren die Böen und Aufwinde am stärksten. Niemand durfte hier verweilen, niemand innehalten beim Anblick des sie umgebenden Horizonts, der wie ein Reif zwischen Meer und Himmel kreiselte. Trödler bekamen den Dorn von Ditis Stock zu spüren: »Garatwa weitergehen «

Noch ein paar Schritte, und sie erreichten die geschützte Felsplatte, die die Schwelle zu Ditis Schrein bildete. Diese eigentümliche natürliche Formation, von der Familie chowkey genannt, hätte auch von einem Architekten nicht sinnreicher erdacht werden können: Das Plateau war breit und beinahe eben und lag im Schutz eines Felsüberhangs, der eine Art Decke oder Dach bildete. Man kam sich vor wie auf einer schattigen Veranda, und wie um dieses Bild zu vervollständigen, gab es sogar eine Art Balustrade aus den knorrigen Büschen und Bäumen, die sich an den Rand der Felsplatte klammerten. Doch um über die Kante zu schauen, hinab auf die am Fuß der Felswand schäumende Brandung, brauchte man einen stabilen Magen und starke Nerven: Die Brecher dort unten waren bis von der Antarktis herangerollt, und selbst an einem ruhigen, klaren Tag schien das Wasser gegen den Berg anzurennen, als wollte es diesen Flecken Land wegspülen, der sich seinem Strom nach Norden dreist in den Weg stellte.

Doch so wunderbar war diese Laune der Natur, dass die Besucher sich nur niederzusetzen brauchten, um die Wellen aus ihrem Blickfeld zu verbannen denn dieselben knorrigen Pflanzen, die den Rand der Felsplatte schützten, verbargen auch den Ozean vor denen, die dort saßen. Die Felsveranda war also der perfekte Ort für eine Zusammenkunft, und aus dem Ausland angereiste Verwandte ließen sich oft zu der irrtümlichen Annahme verleiten, damit habe auch der Name chowkey zu tun denn ein chowk, also ein Basar, war schließlich auch ein Platz, auf dem Menschen zusammenkamen. Und hatte die Höhle mit ihren Begrenzungen ringsum nicht auch etwas von einem chowkey, also einem Gefängnis? Aber auf derlei Gedanken konnte nur ein Hindi sprechender etranzer kommen: Die Insulaner wussten alle, dass im Kreol das Wort »chowkey« auch die runde Scheibe bezeichnet, auf der rotis ausgerollt werden (das Ding, das in der Heimat als »chakki« bekannt ist). Und da war er, Ditis chowkey, genau in der Mitte der Felsplatte, geschaffen nicht von Menschenhand, sondern von Wind und Erde: nichts anderes als ein riesiger, von den Elementen zu einem oben abgeflachten Pilz geschliffener Felsblock. Wenige Augenblicke nach der Ankunft der Pilger arbeiteten die Frauen dort bereits emsig, rollten daalpuris und parathas hauchdünn aus und stopften sie mit den köstlichen Füllungen, die sie am Abend zuvor zubereitet hatten: fein geriebene Mischungen aus den schmackhaftesten Gemüsesorten der Insel violettem arwi und grünen Moringafrüchten, cambaré-beti und welkem songe.

Von diesem Abschnitt von Ditis Leben gibt es mehrere Fotos, darunter auch zwei wunderschöne Daguerreotypien. Auf einer davon, die am chowkey aufgenommen wurde, sieht man Diti im Vordergrund: Sie sitzt noch in ihrem pus-pus, der auf dem Boden steht. Sie trägt einen Sari, doch anders als die anderen Frauen auf dem Bild hat sie ihren ghungta vom Kopf gleiten lassen und ihr Haar freigelegt, das bestürzend weiß ist. Der Saum des Saris hängt über ihrer Schulter, beschwert von einem großen Schlüsselbund, dem Symbol ihrer fortbestehenden Autorität in Familienangelegenheiten. Ihr Gesicht ist dunkel und rund und von tiefen Furchen durchzogen: Die Daguerreotypie ist so detailgenau, dass der Betrachter förmlich meint, die Struktur ihrer Haut spüren zu können, ähnlich der von verknittertem, zähem, wettergegerbtem Leder. Sie hat die Hände friedlich im Schoß gefaltet, aber ihre Körperhaltung strahlt keineswegs Ruhe aus: Sie presst die Lippen fest aufeinander und blinzelt grimmig in die Kamera. Das eine Auge ist vom Star getrübt, doch das andere scharf und durchdringend, und die Pupille ist von charakteristischer dunkler Färbung.

Über ihrer Schulter sieht man den Eingang ins Innere des Schreins, lediglich ein schräger Spalt in der Felswand, so schmal, dass man dahinter unmöglich eine Höhle vermuten würde. Daneben ist ein dickbäuchiger Mann in einem dhoti zu erkennen, der versucht, eine Schar Kinder in einer Reihe aufzustellen, damit sie Diti nach drinnen folgen können.

Auch das war fester Bestandteil des Rituals: Diti hatte dafür zu sorgen, dass die Jüngsten als...


Hermstein, Rudolf
Rudolf Hermstein, geb. 1940, studierte Sprachen in Germersheim und ist der Übersetzer von u.a. William Faulkner, Allan Gurganus, Doris Lessing, Robert M. Pirsig und Gore Vidal. Er wurde mit dem Literaturstipendium der Stadt München sowie mehrfach mit Stipendien des Deutschen Übersetzerfonds ausgezeichnet.

Ghosh, Amitav
Amitav Ghosh wurde 1956 in Kalkutta geboren und studierte Geschichte und Sozialanthropologie in Neu-Delhi. Nach seiner Promotion in Oxford unterrichtete er an verschiedenen Universitäten. Mit »Der Glaspalast« gelang dem schon vielfach ausgezeichneten Autor weltweit der große Durchbruch. Zuletzt erschien seine Romantrilogie »Das mohnrote Meer«, »Der rauchblaue Fluss« und »Die Flut des Feuers« (2016) bei Heyne. Ghosh lebt in Indien und den USA.



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