Gibbs | Dark Heroine - Dinner mit einem Vampir | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 1, 608 Seiten

Reihe: Dark Heroine

Gibbs Dark Heroine - Dinner mit einem Vampir


1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-492-96485-2
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)

E-Book, Deutsch, Band 1, 608 Seiten

Reihe: Dark Heroine

ISBN: 978-3-492-96485-2
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Diese Nacht verändert Violets Leben für immer: Mitten auf dem Trafalgar Square in London geschieht ein furchtbarer Massenmord, und die 18-Jährige ist die einzige Augenzeugin. Erfolglos versucht sie, vor den Tätern zu fliehen - und wird in ein abgelegenes Herrenhaus verschleppt, das von nun an ihr Gefängnis ist. Doch Violets Kidnapper sind keine Menschen, sondern Vampire, faszinierend und todbringend zugleich. Der charismatische Blutsauger Kaspar hat besondere Pläne mit Violet, denn sie ist Teil einer gefährlichen Prophezeihung. Wird sie sich Kaspar hingeben, um zur sagenumwobenen dunklen Heldin zu werden - oder hat er Violets Mut unterschätzt, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen?

Abigail Gibbs hat im Alter von nur 18 Jahren einen Bestseller verfasst: Ihr Debüt »Dark Heroine. Dinner mit einem Vampir« erschien kapitelweise auf der englischen Social-Reading-Plattform Wattpad, wo das Manuskript über 17 Millionen Mal gelesen wurde. Kurz darauf erhielt Abigail Gibbs einen Verlagsvertrag; seitdem wurde »Dark Heroine« in 17 Sprachen übersetzt. Die Autorin lebt in England und studiert an der University of Oxford.

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Kapitel 1: Violet Der Trafalgar Square ist vielleicht kein besonders guter Ort für ein Mädchen. Jedenfalls nicht gegen ein Uhr morgens. Ganz allein. Die dunkle Silhouette der Nelsonsäule ragte über mir empor. Ich fröstelte in der kühlen Londoner Juliluft, die zwischen den Häusern hindurchstrich, und zog den Mantel enger um mich. Jetzt bedauerte ich, mich für dieses knappe schwarze Kleidchen entschieden zu haben. Was tut man nicht alles in der Hoffnung auf einen gelungenen Abend. Ich zuckte zusammen, als eine Taube neben mir landete. Dann ließ ich den Blick wieder über die leeren Straßen schweifen. Doch von meiner Freundin fehlte weiterhin jede Spur. Von wegen »nur schnell einen kleinen Mitternachtsimbiss besorgen«. Zur Sushibar brauchte man zu Fuß von hier aus höchstens zwei Minuten, aber inzwischen waren gut zwanzig Minuten vergangen. Ich verdrehte die Augen. Vermutlich hatte es inzwischen irgendein Typ geschafft, ihr an die Wäsche zu gehen. Schön für sie. Warum auch nur einen einzigen Gedanken an die arme kleine Violet Lee verschwenden? Ich steuerte eine Bank im Schutz des spärlichen Blätterdachs einiger Bäume an. Seufzend rieb ich mir über die Oberschenkel, um die Durchblutung anzuregen, und bereute es bitterlich, dass ich nicht mitgegangen war. Nach einem letzten Blick auf den menschenleeren Platz zog ich mein Handy aus der Tasche und wählte. Es klingelte ein paarmal, dann meldete sich die Mailbox. »Hi, hier ist Ruby. Ich kann gerade leider nicht drangehen, also hinterlasst mir einfach eine Nachricht nach dem Piepton. Haut rein!« Frustriert stieß ich die Luft aus, als das Piepsen erklang. »Ruby, wo zum Teufel steckst du? Wenn du dich mit irgendeinem Kerl rumtreibst, bringe ich dich um! Es ist eiskalt hier draußen! Ruf mich sofort an, wenn du das hörst.« Ich legte auf und steckte das Handy zurück in die Innentasche meines Mantels, wohlwissend, dass sie diese Nachricht wahrscheinlich erst in ein paar Tagen abhören würde. Ich rieb mir die Hände und zog die Knie an die Brust, in dem Versuch, warm zu bleiben. Vielleicht sollte ich einfach ein Taxi nach Hause nehmen. Aber wenn Ruby dann doch noch auftauchen sollte, würde ich echt in Schwierigkeiten stecken. Resigniert stellte ich mich auf eine längere Wartezeit ein und legte das Kinn auf die Knie. Es war still, und ich betrachtete den orangeroten Schleier, der über der Stadt hing. Auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes bogen ein paar übriggebliebene Betrunkene schwankend in eine Seitenstraße ein, ihr lautes Lachen verklang in der Dunkelheit. Ein roter Doppeldeckerbus, auf dem die Worte »Besuchen Sie die National Gallery« prangten, tauchte kurz darauf hinter eben jener Touristenattraktion auf, die er bewarb. Er umrundete den Platz und tauchte dann in das Labyrinth der viktorianischen Gebäude der Innenstadt ein. Mit dem Bus schien auch das dumpfe Dröhnen des weit entfernten Londoner Verkehrs zu verschwinden. Ich fragte mich, welcher der beiden Jungs, die wir heute Abend kennengelernt hatten, wohl Erfolg bei Ruby gehabt hatte. Ich fühlte einen Stich des Bedauerns und wünschte, ich könnte ebenso sorglos und, na ja, locker sein wie sie. Aber ich konnte es nicht. Nicht nach Joel. Weitere Minuten verstrichen und allmählich wurde mir die Sache unbehaglich. Schon seit Längerem war kein Betrunkener mehr vorbeigetorkelt und die Nachtluft legte sich wie eine kalte Decke um meine nackten Beine. Ich sah mich nach einem Taxi um, aber die Straßen waren leer und der Platz verlassen. Das einzig Lebendige waren die tanzenden Lichter auf der Wasseroberfläche der Brunnen, die zu beiden Seiten der Nelsonsäule standen. Wieder zog ich mein Handy hervor. Vielleicht sollte ich einfach meinen Vater anrufen und ihn bitten, mich abzuholen. Da flackerte etwas am Rande meines Gesichtsfelds auf. Ich sprang hoch und hätte fast das Handy fallen lassen. Mit rasendem Puls suchte ich den Platz nach irgendeiner Bewegung ab. Nichts. Ich schüttelte den Kopf und allmählich ebbte die Panik wieder ab. Wahrscheinlich nur eine Taube, beruhigte ich mich selbst. Mit von der Kälte tauben Fingern tippte ich die Nummer meiner Eltern ein, sah jedoch alle paar Herzschläge wieder auf und versuchte dabei, meinen Atem zu beruhigen. Aber doch, da hatte sich wirklich etwas bewegt. Ein Schatten war über einen der riesigen Brunnen geglitten, zu schnell für mich, um eine Form ausmachen zu können. Es war jedoch niemand zu sehen, abgesehen von ein paar aufgeschreckten Tauben, die wild umherflatterten. Kopfschüttelnd hielt ich mir das Handy ans Ohr. Es knisterte in der Leitung und das schwache Tuten wurde immer wieder von Rauschen unterbrochen. Ungeduldig wippte ich mit dem Fuß. »Kommt schon ...«, murmelte ich und sah auf das Display. Voller Empfang. Während es weiter tutete, wanderte mein Blick umher, bis er schließlich an der Nelsonsäule hängen blieb, die Dutzende von Metern in die Höhe ragte. Die hellen Flutlichter, die Nelsons Statue auf der Spitze erleuchteten, begannen zu flackern wie Kerzen im Luftzug. Dann beruhigten sie sich wieder und leuchteten so hell wie zuvor. Ich zitterte, aber nicht vor Kälte. Ich betete, dass endlich jemand ans Telefon ginge, doch in der Leitung rauschte es wieder und mit einem letzten kläglichen Tuten brach die Verbindung ab. Mit aufgerissenen Augen starrte ich das Handy an. Dann flutete Adrenalin meine Blutbahn und instinktiv begann ich, die Riemchen meiner Pumps zu lösen, während mein Blick wie gebannt auf der Säule ruhte. Ungläubig beobachtete ich, wie der Schatten, den ich gerade gesehen hatte, über die Statue glitt und dann wieder verschwand. Hastig riss ich mir den zweiten Schuh vom Fuß und rannte los. Doch ich hatte kaum ein paar Schritte gemacht, als ich wie angewurzelt stehen blieb. Eine Gruppe Männer in braunen Mänteln mit langen, angespitzten Stangen in den Händen kam die Stufen zum Platz herab. Ihre grimmigen, wettergegerbten Gesichter waren dunkel und vernarbt. Ihre schweren Schritte auf den Pflastersteinen hallten in meinen Ohren wider wie ein unregelmäßiger Marsch. Benommen vor Schreck wich ich zurück und kauerte mich hinter einer Bank zusammen. Ich wagte kaum zu atmen und machte mich so klein wie nur möglich. Der Mann an der Spitze der Gruppe bellte einen Befehl und die anderen verteilten sich, bildeten eine Reihe, die den gesamten Platz von einem Brunnen zum anderen durchmaß. Es waren gut dreißig Mann. Sie blieben vollkommen synchron vor der Säule stehen, nur ihre Mäntel bewegten sich sacht im Wind. Sogar die Bäume schienen plötzlich verstummt zu sein. Die Männer richteten ihre volle Konzentration auf die Säule und warteten. Ich sah hinauf zur Statue auf der Spitze, doch sie war wie gewöhnlich in helles Licht getaucht. Dann geschah es. Aus dem Nichts sprang etwas aus den Bäumen hinter meinem Rücken, flog hoch über meinen Kopf und landete gut drei Meter vor mir mit einem kaum merklichen Straucheln auf den Pflastersteinen. Ich blinzelte. Ich konnte nicht glauben, dass ich da gerade wirklich einen Menschen gesehen hatte, doch bevor ich mich vergewissern konnte, war die Gestalt schon wieder verschwunden. Genauso überrumpelt und erschrocken wie ich stolperten die Männer ein paar Schritte vorwärts. Ihre Reihe wankte und die Männer am Rand des Platzes drängten nach innen, doch als derjenige, den ich für ihren Anführer hielt, die Hand hob, formierten sie sich wieder. Der Anführer griff in seinen Mantel und zog eine Art silbrig glänzenden Schlagstock hervor, der an einem Ende tödlich spitz zulief. Er machte eine rasche Bewegung aus dem Handgelenk und der merkwürdige Pflock wurde doppelt so lang. Er ließ ihn ein paarmal um die eigene Achse wirbeln und schien das Glitzern des Lichts auf dem Metall zu bewundern. Er lächelte zufrieden, dann stand er wieder still und wartete. Der Mann wirkte noch sehr jung - höchstens zwanzig, schätzte ich. Er war groß und schlank und sein Gesicht wies im Gegensatz zu denen der anderen keine Narben auf. Sein kurz geschnittenes Haar war so stark gebleicht, dass es beinahe weiß schimmerte, was einen auffälligen Kontrast zu seiner gebräunten Haut und dem Ledermantel bildete. Sein Lächeln wurde noch breiter, als er den Blick dorthin richtete, wo die Gestalt vorhin gelandet war - ganz dicht vor mir. Scharf sog ich die Luft ein und erwartete schon, jeden Augenblick entdeckt zu werden, doch seine Aufmerksamkeit wurde abgelenkt, als ein weiterer Mann hinter einem der Brunnen hervortrat. Nein, kein Mann, ein Junge, nicht viel älter als ich. Seine Augen lagen tief in den Höhlen, seine Haut war aschfahl, fast durchscheinend, und sie spannte sich straff über den Wangenknochen. Auch er war groß und unter dem engen Hemd zeichneten sich deutlich ausgeprägte Muskeln ab. Seine Lippen schienen blutrot zu leuchten, genau wie sein Haar, das ihm stachelig und zerzaust vom Kopf abstand. Ich blinzelte und er war verschwunden. Mein Blick huschte über den Platz und auf einmal tauchten noch andere auf. Sie alle wirkten auffallend blass und abgezehrt und in ihren Mienen spiegelte sich eine Mischung aus Belustigung und Abscheu. Sie erschienen aus dem Nichts, schossen mit übermenschlicher Geschwindigkeit umher, waren plötzlich da und im nächsten Augenblick wieder verschwunden. Ich rieb mir die Augen, überzeugt, ich sei schlicht zu erschöpft, um klar sehen zu können. Es war einfach unmöglich, dass sie sich wirklich so schnell bewegten. Der Junge mit dem flammend roten Haar tauchte wieder auf, er lehnte an einem der Brunnen wie an einer Theke. Neben ihm stand ein junger Mann mit strohblondem Schopf, den ich als denjenigen zu erkennen glaubte, der hinter mir aus den Bäumen gesprungen war. Insgesamt waren sie zu fünft und jetzt begannen sie, die Männer auf der Mitte des Platzes zusammenzutreiben, wie Raubtiere, die eine Viehherde einkreisten. Die gebräunten Gesichter der Männer waren zu Grimassen der Angst und des Hasses verzerrt, als sie ihre Reihe schließlich aufbrachen und mit gesenkten Stangen zurückwichen. Nur der Anführer rührte sich nicht. Sein Lächeln wurde zu einem höhnischen Grinsen. Er hielt noch immer den Pflock in der Hand. Plötzlich riss er den Kopf hoch. Eine weitere männliche Gestalt ließ sich von der Säule fallen. Sie wurde immer schneller, stürzte dreißig Meter hinab in den sicheren Tod. Vollkommen verblüfft sah ich dann jedoch, wie sie gewandt direkt vor dem Anführer auf dem steinernen Boden landete und in die Hocke ging, um den Aufprall abzufedern. Stille breitete sich auf dem Platz aus und zum ersten Mal meldete sich der Anführer zu Wort. »Kaspar Varn, es ist mir eine Freude, dich wiederzusehen«, sagte er mit einem Akzent, den ich nicht einordnen konnte. Der als Kaspar angesprochene Mann stand auf, sein Gesicht verriet keinerlei Regung. Er war ebenso groß wie der Anführer, doch seine Haltung und sein kräftiger, muskulöser Körperbau ließen ihn viel größer wirken. »Die Freude ist ganz meinerseits, Claude«, entgegnete er kühl, während sein Blick die Umgebung abtastete. Er nickte dem blonden Jungen kurz zu und ich erhaschte einen Blick auf sein Gesicht. Wie bei den anderen war seine Haut so weiß, dass sie durchsichtig zu sein schien, vollkommen farblos. Sein zerzaustes schwarzes Haar wurde von braunen Strähnen durchzogen und fiel ihm in die Stirn. Er wirkte noch ausgezehrter als die anderen, wenn das überhaupt möglich war. Dunkle Schatten lagen unter seinen Augen, als hätte er seit Tagen nicht geschlafen. Vielleicht schläft er ja überhaupt nicht, flüsterte mir eine unhörbare Stimme zu. Gerade als mir dieser Gedanke durch den Kopf schoss, schien dieser Kaspar an dem blonden Jungen vorbeizusehen und seine Brauen zogen sich kaum merklich zusammen. Ich hielt den Atem an. Sein Blick war genau auf mich gerichtet. Doch falls er mich wirklich gesehen hatte, beschloss er, sich nicht weiter um mich zu kümmern. Seine Miene wurde wieder vollkommen ausdruckslos und er wandte sich erneut an den Anführer der Männer. »Was wollt ihr, Claude? Ich habe keine Zeit, die ich mit dir und dem Pierre-Clan verschwenden könnte.« Claudes Lächeln wurde breiter und er strich mit dem Finger über den spitzen Pflock in seiner Hand. »Und trotzdem seid ihr gekommen.« Kaspar winkte ab. »Es war kein großer Umweg, wir waren ohnehin gerade auf der Jagd.« Ich erschauderte. Was jagt man in einer Großstadt? Claude stieß ein freudloses Lachen aus. »Genau wie wir.« Der Pflock blitzte auf, als Claude ihn hochriss und auf die Brust seines Gegenübers hinabstieß. Doch der Stoß traf nicht. Kaspar wischte den Angriff mit einer Handbewegung mühelos beiseite. Er blinzelte nicht einmal. Claude dagegen prallte zurück, als hätte ihn ein Lkw gerammt. Mit einem metallischen Klappern landete der Pflock auf dem Boden und das Geräusch zerriss die Stille. Claude taumelte, stolperte und fing sich dann wieder. Seine Augen hatten sich zu Schlitzen verengt und sein Blick flog erst zu dem Pflock, dann zu dem jungen Mann vor ihm. Sein Mund verzog sich wieder zu einem Grinsen. »Sag mal, Kaspar, wie geht es denn deiner Mutter?« Kaspars Hand schnellte vor und umklammerte Claudes Kehle. Entsetzt sah ich, wie Claudes Augen hervortraten, seine Füße vom Boden abhoben und ihm alle Farbe aus dem Gesicht wich. Er hustete und ächzte, seine Beine strampelten durch die Luft, während er versuchte, Kaspars Griff zu lösen. Er bemühte sich vergeblich, seine Bewegungen wurden schwächer und sein Gesicht nahm einen grässlichen Lilaton an. Dann ließ Kaspar los. Claude brach keuchend zusammen und rieb sich den Hals. Ich atmete auf. Nicht so der Mann auf dem Boden. Sein Ächzen wurde zu einem Flehen, und als er in Kaspars wutverzerrtes Gesicht sah, flackerte plötzliches Begreifen in seinen Augen auf. Er wand sich, wich zurück und packte einen seiner Männer am Mantelsaum. Schwer hob und senkte sich Kaspars Brust und ein abartiger Gesichtsausdruck verzerrte seine Züge. »Hast du noch ein paar letzte Worte zu sagen, Claude Pierre?«, knurrte er und eine offene Drohung lag in seiner Stimme. Der Anführer holte einige Male tief und zittrig Luft und schien sich zu wappnen. »Ihr und euer verfluchtes Königreich werdet in der Hölle brennen.« Kaspars Mund verzog sich zu einem höhnischen Grinsen. »Hättest du wohl gern.« Dann sprang er vor und beugte sich über Claudes Hals. Ein furchtbares Knacken erklang. Ich würgte. Instinktiv presste ich mir beide Hände auf den Mund. Dann kam die Angst. Ich wusste, dass ich die Nächste sein würde, wenn ich auch nur ein Wimmern von mir gab. Als Claudes lebloser Körper zu Boden fiel, übernahm mein Selbsterhaltungstrieb die Führung. Ich war soeben Zeugin eines Mordes geworden und ich hatte oft genug die Nachrichten gesehen, um zu wissen, was mit Zeugen geschah, die brav warteten, bis man sie entdeckte. Ich muss hier weg. Ich muss es irgendjemandem erzählen. Wenn du kannst, raunte die bohrende Stimme in meinem Kopf. Und sie hatte leider recht. Um mich herum war die Hölle ausgebrochen. Die blassen Jungen stürzten sich auf die Männer und ein blutiger Kampf entbrannte. Wenn man es denn einen Kampf nennen konnte, denn die Männer hatten kaum Zeit, ihre Waffen zu ziehen, um sich gegen diese Killer zu verteidigen. Sie fielen wie Lämmer beim Schlachter und ihr Blut spritzte in alle Richtungen. Unfähig, den Blick abzuwenden, sah ich, wie Kaspar einen weiteren Mann herumriss. Mein Verstand sagte mir, dass er eine Waffe haben musste, aber meine Augen konnten keine entdecken. Stattdessen grub er die Zähne in den Hals des Mannes und riss an seinem Fleisch. Ich sah eine Sehne weiß aufblitzen, bevor der Mann schreiend zusammenbrach. Sein Angreifer ließ jedoch nicht von ihm ab. Er ging in die Knie, hob den Mann hoch und legte den Mund auf die Wunde. Blut troff herab, sammelte sich unter ihnen zu einer Lache und floss in die Ritzen zwischen den Pflastersteinen. Mein Blick folgte dem Rinnsal. Es bildete ein blutiges Gitternetz und floss weiter, bis es sich mit dem Blut eines anderen Opfers vereinigte, dann mit dem eines weiteren, bis ich das volle Ausmaß des Grauens erkannte. Jeder einzelne der finsteren Männer war tot oder lag im Sterben. Ihre Hälse waren verdreht, gebrochen oder bluteten stark. Einige der Leichen waren auf den Grund der Brunnen gesunken und ihr Blut hatte das Wasser leuchtend rot gefärbt. Sechs Jugendliche hatten hier gerade dreißig erwachsene Männer abgeschlachtet. Ich unterdrückte ein Wimmern, zog mich hinter der Bank so tief in die Schatten zurück wie nur möglich und betete zu jeder verfügbaren Gottheit, dass mich diese Gestalten nicht entdecken würden. »Kaspar, sollen wir hier aufräumen oder einfach alle so liegen lassen?«, fragte der Junge mit dem roten Haar. »Wir lassen es so, wie es ist, als kleinen Denkzettel für andere Hunter, die glauben, sie könnten sich uns in den Weg stellen«, antwortete Kaspar. »Abschaum«, knurrte er dann und spuckte auf einen der leblosen Körper. Die kalte Gelassenheit war aus seiner Stimme verschwunden, jetzt klang nichts als tief empfundener Hohn daraus. Ich sah, wie er den Arm eines Sterbenden aus dem Weg trat, der ein letztes schwaches Stöhnen ausstieß, und heißer Zorn überlagerte meine Angst. »Arschloch«, zischte ich. Er erstarrte. Ich ebenso. Mir stockte der Atem und mein Magen krampfte sich zusammen. Er kann mich unmöglich von der anderen Seite des Platzes gehört haben. Trotzdem drehte er sich jetzt langsam, fast beiläufig zu mir um. »Na, was haben wir denn da?« Er lachte leise und seine Lippen verzogen sich wieder zu diesem höhnischen Grinsen. Ich reagierte instinktiv. Bevor ich einen klaren Gedanken fassen konnte, war ich schon aufgesprungen und rannte über den Platz. Meine Pumps lagen noch hinter der Bank und meine nackten Füße trommelten auf das Pflaster, während ich buchstäblich um mein Leben rannte. Das nächste Polizeirevier war nicht weit weg und ich würde alles darauf wetten, dass ich die Stadt besser kannte als diese Typen. »Wo willst du denn hin, Kleine?« Ich keuchte und prallte gegen etwas Hartes und Kaltes. Gegen etwas so Kaltes, dass ich erschrocken zurücksprang. Direkt vor mir stand der dunkelhaarige junge Mann. Mein Blick flog zwischen ihm und der Stelle, an der er eben noch gestanden hatte, hin und her. Das ist unmöglich. Ich ging rückwärts und tastete mit den Händen in der Luft hinter mir umher, als könnte dort wie durch Zauberei mein Retter erscheinen. Er hatte nicht einmal gezuckt, als wäre er es gewöhnt, dass Mädchen in vollem Lauf gegen ihn krachten. »N-nirgendwo, ich wollte nur ... ähm ...«, stotterte ich und sah hastig von ihm zu den Leichen und dann zur Straße hinter ihm. Mein einziger Ausweg. »Du wolltest uns verraten?«, fragte er. Natürlich wusste er die Antwort schon, und als sich meine Augen schuldbewusst weiteten, beugte er sich ganz nah zu mir. Seine Augen leuchteten smaragdgrün und seine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. »Ich fürchte, das wird dir nicht gelingen.« Von so nah konnte ich unmöglich ignorieren, wie umwerfend er aussah. Etwas regte sich tief in meiner Magengrube. Angewidert wich ich noch weiter zurück. »Werden wir ja sehen!«, rief ich, duckte mich an ihm vorbei und rannte wieder los wie der Teufel. Im Laufen warf ich einen Blick zurück. Zu meiner Überraschung verfolgte mich niemand. Angespornt rannte ich weiter und ein winziger Hoffnungsschimmer erwachte in meinem Herzen. Als ich nur noch wenige Meter von der Straße entfernt war, sah ich mich erneut um. Dieses Mal schien er entnervt aufzuseufzen, doch ich zwang mich dazu, den Blick wieder nach vorn zu richten. Ich durfte nicht langsamer werden. Als ich gerade auf die offene Straße rennen wollte, wurde ich am Mantelkragen zurückgerissen. Ich wankte, rang um mein Gleichgewicht und versuchte, mich gleichzeitig aus dem Griff zu winden. Ich kämpfte, trat und schrie, aber es hatte keinen Sinn - er hielt mich mühelos fest. Ich wandte mich um und schleuderte ihm eine Drohung ins Gesicht. Meine Augen sprühten Funken und ich klang viel mutiger, als ich mich fühlte: »Du hast genau zehn Sekunden, um mich loszulassen, du Freak, oder ich trete dir so dermaßen in die Eier, dass du dir wünschen wirst, nie geboren worden zu sein!« Wieder lachte er. »Ganz schön streitlustig, was?« Während er sprach, erhaschte ich einen Blick auf seine oberen Eckzähne. Sie waren strahlend weiß. Strahlend weiß und unnatürlich spitz. Jagen. Jäger. Ein Teil meines Gehirns begriff, dass dies nicht normal war. Ganz und gar nicht normal. Mein gesunder Menschenverstand verwarf diesen Gedanken jedoch sofort. »Du hast alles mit angesehen«, sagte er kalt. Es war eine Feststellung, keine Frage. »Was glaubst du denn?«, fauchte ich und legte so viel Sarkasmus wie möglich in meine Stimme. »Ich glaube, dass du wohl mit uns kommen musst«, knurrte er, griff nach meinem Ellbogen und zog mich hinter sich her. Ich öffnete den Mund, aber er war schneller und presste mir eine Hand auf die Lippen. »Wenn du schreist, bringe ich dich um.« Beißend und tretend wurde ich davongeschleift. Fort von dem grauenvollen Blutbad, das diese blassen Monster angerichtet hatten.     Kapitel 2: Violet Wir rannten durch die Straßen und wurden immer schneller. Kaspar hielt mein Handgelenk umklammert und zog mich hinter sich her. Seine Fingernägel schnitten mir in die Haut und hinterließen Wunden - es war, als würde man sich in Zeitlupe den Arm aufschürfen -, doch ich sagte keinen Ton. Diese Genugtuung wollte ich ihm nicht geben. Er führte uns Straßen entlang, von deren Existenz ich bisher nicht einmal etwas geahnt hatte. Schon jetzt konnte ich von Weitem Polizeisirenen heulen hören und die Seitenstraßen wurden von flackernden blauen Lichtern erhellt. »Scheiß Polizisten«, fluchte Kaspar. »Wartet hier«, befahl er und stieß mich nach vorn, direkt gegen die Brust eines der anderen. »Fabian, pass auf die Kleine auf.« Zum zweiten Mal in dieser Nacht krachte ich gegen etwas Hartes und Kaltes. Ich stolperte und wäre beinahe im Schmutz des Rinnsteins gelandet. Wider Erwarten schlug ich jedoch nicht auf dem Boden auf. Ich sah auf meinen Arm, den eine weiße Hand umklammert hielt. »Nicht hinfallen«, sagte eine sanfte Stimme. Mein Blick wanderte den Arm hinauf zum lächelnden Gesicht des Jungen, der auf dem Trafalgar Square über mich hinweggesprungen war. Himmelblaue Augen strahlten leicht amüsiert zu mir herunter. Einen kurzen, grotesken Augenblick lang bewunderte ich sein helles, wirres Haar und seine muskulöse Brust, die unter dem aufgeknöpften Kragen gerade noch sichtbar war. Dann kam ich wieder zu Verstand und riss meinen Arm zurück, entsetzt über meine eigenen Gedanken. Er blieb jedoch gelassen. »Ich bin Fabian«, sagte er und streckte mir erneut die Hand entgegen. Ich trat zurück und wischte mir die Hände und den Arm, den er mit seinen blutbefleckten Fingern berührt hatte, am Mantel ab. Stirnrunzelnd sah er mich an, die Hand noch immer ausgestreckt. »Wir werden dir nichts tun, ehrlich.« Vier weitere Augenpaare beobachteten mich gespannt, warteten auf den nächsten Fluchtversuch. Doch das hatte ich aufgegeben. Stattdessen hoffte ich, dass Kaspar lange genug wegbleiben würde, um einem Streifenwagen Gelegenheit zu geben, uns zu erwischen. »Das da hinten« - er machte eine Geste in Richtung des Platzes - »war notwendig. Ich weiß, dass es nicht so aussah, aber du musst mir einfach glauben, dass es nicht anders ging.« Ich hielt inne. »Notwendig? So etwas ist nicht notwendig, es ist falsch. Und rede nicht so mit mir, ich bin kein Kind.« Die Worte waren heraus, bevor ich an etwas anderes denken konnte als daran, irgendwie Zeit zu gewinnen. Ich hörte mit dem Reiben auf und umklammerte meine Handgelenke. Die Jungs schienen perplex zu sein, weil ich tatsächlich meine Stimme wiedergefunden hatte. Fabians Blick huschte immer wieder zu der Gasse hinter mir. »Und wie alt bist du, Mädchen, dass du so genau über Recht und Unrecht Bescheid weißt?« Er legte den Kopf schief. Das wollte ich ihm zwar nicht verraten, aber ich war doch erleichtert, dass sie sich nichts aus meinem kleinen Ausbruch zu machen schienen. Ich biss mir auf die Lippe. »Siebzehn«, murmelte ich. »Mir war gar nicht klar, dass siebzehnjährige Mädchen heutzutage so kurze Kleider tragen.« Beim Klang der selbstgefälligen Stimme hinter mir zuckte ich zusammen und wirbelte herum. Mein dunkles Haar schwang über meine Schulter und der Pony fiel mir in die Augen. Kaspar lehnte an einer Straßenlaterne, die Hände lässig in den Taschen. Wieder spielte dieses bizarre Grinsen um seinen Mund, während sein Blick über meinen Körper wanderte. Hastig schlang ich den Mantel enger um mich und versuchte, diesen Hauch von einem Kleid zu verbergen. Sein Grinsen wurde noch breiter. »Wenn du rot wirst, beißt sich das ganz schön mit deinen violetten Augen, Kleine.« Bei dieser Anspielung auf meine Augen zuckte ich zurück. Sie hatten wirklich einen merkwürdigen Blauton und waren der Grund für die Wahl meines Namens gewesen. Eigentlich hätte ich das kommen sehen müssen. Wenn man abnormale Augen und einen dazu passenden Namen hatte und außerdem strenge Vegetarierin war, gewöhnte man sich mit der Zeit an blöde Scherze. Als ich den Blick schließlich wortlos abwandte, verblasste sein Grinsen. »Weg hier!« Die anderen waren bereits verschwunden, verschluckt von den Schatten der Gasse. Ich wurde brutal zur Seite geschleudert und landete hinter einigen Kisten. Benommen sah ich mich um. Das einzige Licht kam von einer zwielichtigen Spelunke, die man ein Stück die Gasse hinunter zwischen einen Notausgang und einen überquellenden Müllcontainer gezwängt hatte. Nach Luft ringend kämpfte ich mich auf die Füße, da legte sich schon wieder eine Hand auf meinen Mund. Ich wurde hochgerissen und halb getragen, halb gezogen die Gasse entlanggeschleift. Als wir um eine Ecke bogen, schien blaues Licht auf die Backsteinwände. Ein Betrunkener, der gegen den Müllcontainer gekauert geschlafen hatte, wankte laut stöhnend davon und fluchte dabei ungehalten. Doch das konnte das Jaulen der Sirenen nicht übertönen, das nur wenige Straßen weiter zu einem wahren Crescendo anschwoll. »Du musst schneller laufen«, rief mir Kaspar zu. Seine Stimme klang ruhig, doch in seinem Gesicht zeigte sich wachsende Beunruhigung. Diese konnte auch er nicht verbergen. Ich wehrte mich gegen seinen Griff. »Bist du total durchgeknallt? Warum sollte ich für dich schneller laufen? Du Mörder!« Die Worte sprudelten unkontrolliert aus meinem Mund - das Adrenalin war zurück und vertrieb meine Angst. Seine Augen leuchteten bedrohlich auf und für einen Augenblick dachte ich schon, sie hätten ihren smaragdgrünen Schimmer verloren. »Wir sind keine Mörder.« Obwohl er nicht laut wurde, jagte mir sein veränderter Tonfall Schauer über den Rücken. »Was seid ihr dann und warum habt ihr diese Männer umgebracht?« Die Frage hing unbeantwortet in der Luft. Anstatt mit mir zu reden, trieb er mich wieder voran und zerrte mich von einer Gasse in die nächste. Mehrmals mussten wir Haken schlagen, und als wir die Innenstadt hinter uns ließen, war die Polizei uns bereits dicht auf den Fersen. London erwachte zum Leben. »Komm schon!«, befahl Kaspar und zerrte an meinem Ärmel. »Ich kann nicht«, japste ich. Und ich konnte wirklich nicht. Ich spürte ein schmerzhaftes Stechen in der Seite und mein Atem ging schwer und abgehackt. »Pech«, erwiderte er kalt. »Ich bekomme keine Lu-luft«, keuchte ich und versuchte, trotzdem einzuatmen. Tränen rannen mir aus den Augen, doch ich wischte sie hastig weg. »Gleich werde ich ohnmächtig oder sterbe oder so!« »Oh, was für ein tragischer Verlust«, murmelte er trocken und verdrehte die Augen. »Ich habe mir das hier ja nicht ausgesucht!« Ich fiel auf die Knie und fragte mich, warum er sich solche Mühe gab, mich am Leben zu halten, wenn es ihm doch anscheinend egal war, ob ich starb oder nicht. »Nein, hast du nicht. Aber jetzt gehörst du dazu, und so wie ich das sehe, Kleine, hast du keine Wahl.« Er zog mich am Kragen hoch. »Und jetzt los.« Ich rührte mich nicht, rieb mir nur die schmerzende Brust. »Mein Name ist nicht ?Kleine?! Ich heiße Violet!« Plötzlich war er direkt vor mir, schloss die Hand um meine Kehle und drückte mich gegen die Wand. Mit einem Finger strich er mir über die Halsschlagader. »Und ich bin der verdammte Prinz!«, knurrte er und sein Griff schloss sich noch enger um meinen Hals. Ich riss die Augen auf und kämpfte, um freizukommen, doch er drückte nur noch fester zu. Da schloss ich die Augen. Ich wollte ihn nicht sehen, so dicht vor mir und nach Blut stinkend. Vor meinem inneren Auge sah ich nur ein einziges Bild: den leblosen Körper von Claude Pierre, verkrümmt und blutend auf den Pflastersteinen. »Ich könnte dir deinen hübschen Hals umdrehen und es würde mich nicht mehr Mühe kosten als dich dein Geschrei«, flüsterte er mir zu. »Also schlage ich vor, dass du tust, was wir dir sagen, weil du uns nicht davonlaufen kannst und weil die Polizei uns nicht aufhalten wird.« Ich hatte keine Ahnung, was zum Teufel er mit »Prinz« meinte, aber beim Rest hatte ich keine Zweifel. In seiner Stimme lag ebenso viel Aufrichtigkeit wie Bosheit. Geschlagen senkte ich den Kopf. »Schon besser«, raunte er. Dann packte er meine Hand und zerrte mich weiter. Als ich herumwirbelte, um ihm zu folgen, sah ich, wie ein Mann rennend in die Straße einbog. Seine beige Montur wirkte seltsam unpassend in dieser schmalen Gasse voller heruntergekommener Kneipen. Er wurde langsamer und blieb schließlich stehen. Ohne den Blick abzuwenden, nahm er die Hand an den Kopf, fast so, als wollte er sich geschlagen geben. Ich keuchte auf. Ich kannte ihn. Er arbeitete mit meinem Vater. Oder besser gesagt, er arbeitete für meinen Vater. Der Mann machte noch ein paar zögerliche Schritte und sah mich dabei an. Für den Bruchteil einer Sekunde trafen sich unsere Blicke, dann wandte er sich ab und wich zurück. Er hob die Hand und gab den Polizisten, die hinter ihm in die Straße strömten, ein Zeichen. Sie wurden langsamer und blieben ebenfalls stehen. Furcht stand in ihren Augen, als sich Kaspar zu ihnen umdrehte und sie herausfordernd musterte. Er atmete aus und straffte die Schultern, dann zog er mich vor seine Brust. Ich wollte mich wehren, um Hilfe schreien, doch er drehte mir den Arm hinter den Rücken und ich stöhnte auf. Es fühlte sich an, als bohrten sich Dolche in meine Seite, genau dort, wo vorhin noch das Stechen gewesen war. Kaspar schlang mir einen Arm um die Taille. Dann beugte er sich zu meinem Ohr. »Zu langsam«, grollte er. Ohne ein weiteres Wort hob er mich hoch und warf mich über seine Schulter. Ich schrie ihn an, schlug auf seinen Rücken, doch er schien es nicht einmal zu merken. Die Gebäude rasten vorüber, und als ich aufsah, waren die Polizisten verschwunden. Tatsächlich befanden wir uns nicht einmal mehr in derselben Straße. Mir sank das Herz. Er hatte recht gehabt. Sie hatten uns nicht verfolgt. Warum haben sie nicht einmal versucht, uns aufzuhalten? Wir hatten das ganze Chaos hinter uns gelassen. Ich wollte gar nicht wissen, wie schnell wir uns bewegten - schnell genug jedenfalls, dass sich alles um mich herum zu drehen schien. Ich schloss die Augen und versuchte, die Kontrolle über mein Bewusstsein zu behalten. Dann hatte ich plötzlich wieder Boden unter den Füßen und landete als ein Häufchen Elend neben Kaspars Schuhen und zwei sehr teuer aussehenden Autos. Ich blinzelte, überzeugt davon, doppelt zu sehen. Die Autos waren vollkommen identisch, vom auf Hochglanz polierten schwarzen Lack bis zu den dunkel getönten Scheiben. Sogar die Nummernschilder unterschieden sich nur in einem einzigen Buchstaben. Wer zum Teufel sind diese Typen? Gut aussehend und unglaublich reich, aber leider allesamt Mörder. Ich schluckte diese Gedanken herunter. Ich lebte lange genug in London, um die Handschrift des organisierten Verbrechens zu erkennen. Trotzdem haben die Polizisten nicht einmal den Versuch unternommen, uns zu stoppen. Fernes Sirenengeheul zerriss die Stille dieser Seitenstraße und irgendjemand hinter mir hob mich hoch und verfrachtete mich auf den Rücksitz des nächsten Autos. Er warf die Tür zu, kam um das Auto herum und stieg von der anderen Seite ein. Es war derjenige, der die gleiche Augenfarbe hatte wie Kaspar - smaragdgrün. Kaspar und Fabian stiegen vorn ein, Kaspar fuhr. »Schnall dich an«, wies mich der Junge neben mir an. Ich ignorierte ihn, saß nur starr wie ein Brett da und verschränkte die Arme fest vor der Brust. Entnervt seufzte er auf und langte über mich hinweg nach meinem Gurt. »Freak«, flüsterte ich. Der Junge lachte leise. »Eigentlich heiße ich ja Cain, nicht ?Freak?. Ich bin sein jüngerer Bruder«, erläuterte er und nickte zu Kaspar. Das erklärte die frappierende Ähnlichkeit. »Wie heißt du noch mal?« »Violet. Violet Lee«, murmelte ich und verstummte dann wieder. Ich sah aus dem Fenster, weitere Polizeiautos rasten vorüber. Mein Magen machte einen Hüpfer, als ich einen Polizisten entdeckte, der genau in unsere Richtung sah. Einen Augenblick lang trafen sich unsere Blicke, doch er wandte sich ab, als hätte er mich nicht gesehen. Wir ließen die Stadt schnell hinter uns, und als die freie Straße vor uns lag, beschleunigten wir. Ich sah auf die Geschwindigkeitsanzeige, der Zeiger näherte sich der Einhundertsechziger-Marke. Ich fühlte einen wohlvertrauten Kitzel in der Magengrube, der mir jetzt allerdings alles andere als willkommen war. Mein Kopf pochte und noch immer bohrte sich ein stechender Schmerz in meine Seite. Ich presste mir die Hände gegen die Rippen und das Stechen ließ ein wenig nach. Ich kauerte mich auf dem Sitz zusammen, zog die Knie an die Brust und legte den Kopf an das kühle Glas des Fensters. Meine Lider wurden schwer und mein Körper schrie nach einer Pause, doch ich wagte mir nicht einmal vorzustellen, was alles geschehen konnte, wenn ich jetzt einschlief. Ich drängte die Tränen zurück und begann, meine Situation so neutral wie nur möglich zu analysieren. Ich hatte soeben den Massenmord an dreißig Männern mitten in der Londoner Innenstadt mitangesehen. Ich war von sechs verdammt schnellen und starken Typen gekidnappt worden, die mich aber anscheinend nicht umbringen wollten - jedenfalls noch nicht. Ich hatte keine Ahnung, wo zum Teufel wir hinfuhren, wer diese Kerle waren, was sie vorhatten oder wie lange es dauern würde, bis mich jemand vermisste. Ich könnte einfach aus dem fahrenden Auto springen. In dem Moment, in dem sich ein Plan in meinem Kopf zu formen begann, erklang das Klicken der Zentralverriegelung. Ein trockenes Schluchzen drang aus meiner Kehle. Wir fuhren auf die M25 und ließen die Stadt, die ich so sehr liebte, damit endgültig hinter uns. Ich fragte mich, ob sie vielleicht zum Hafen in Dover wollten, um nach Frankreich überzusetzen. Ein Hoffnungsschimmer glomm in meinem Herzen auf. Durch den Hafen werden sie es niemals schaffen. Doch dann bogen wir nicht nach Süden, sondern nach Norden Richtung Rochester ab. Wieder schluchzte ich unwillkürlich auf und sah, dass mich Kaspar durch den Rückspiegel ungehalten musterte. Sein Bruder Cain legte mir eine Hand auf die Schulter. Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich ihn an. Er sah nicht aus wie ein Killer. Er sah aus wie ein halbes Kind. Er lächelte. In meinem Kopf hallte der Schrei eines sterbenden Mannes. Ich schüttelte seine Hand ab und drehte mich weg. Wie ein schützender Vorhang fiel mir das Haar vors Gesicht und ich legte die Stirn wieder gegen das Fenster. Jetzt flossen die Tränen unkontrolliert. Ich schlang die Arme um mich und zog mich tief in mich selbst zurück. Was ich zurückließ, wusste ich. Die Frage war, was vor mir lag.


Gibbs, Abigail
Abigail Gibbs hat im Alter von nur 18 Jahren einen Bestseller verfasst: Ihr Debüt »Dark Heroine. Dinner mit einem Vampir« erschien kapitelweise auf der englischen Social-Reading-Plattform Wattpad, wo das Manuskript über 17 Millionen Mal gelesen wurde. Kurz darauf erhielt Abigail Gibbs einen Verlagsvertrag; seitdem wurde »Dark Heroine« in 17 Sprachen übersetzt. Die Autorin lebt in England und studiert an der University of Oxford.

Abigail Gibbs hat im Alter von nur 18 Jahren einen Bestseller verfasst: Ihr Debüt »Dark Heroine. Dinner mit einem Vampir« erschien erstmals auf der englischen Schreibplattform Wattpad, wo das Manuskript über 17 Millionen Mal gelesen wurde. Kurz darauf erhielt Abigail Gibbs einen Verlagsvertrag; seitdem wurde »Dark Heroine« in 17 Sprachen übersetzt. Die Autorin lebt in England und studiert an der University of Oxford.
Mehr unter: www.facebook.com/AbigailGibbs.Canse12 und https://twitter.com/AuthorAbigailG



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