E-Book, Deutsch, 320 Seiten, ePub
Gilmartin Service
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-0369-9642-4
Verlag: Kein & Aber
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Roman
E-Book, Deutsch, 320 Seiten, ePub
ISBN: 978-3-0369-9642-4
Verlag: Kein & Aber
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Als Hannah von ihrer früheren Kellnerkollegin Mel gebeten wird, als Zeugin in einem Gerichtsverfahren gegen ihren ehemaligen Chef Daniel Costello aufzutreten, lehnt sie zunächst ab. Dem renommierten Sternekoch werden sexuelle Übergriffe vorgeworfen. Trotz ihrer anfänglichen Weigerung, auszusagen, kann Hannah sich ihrer Vergangenheit nicht entziehen und entscheidet sich um.
Währenddessen ist Daniel fassungslos: Sein Restaurant wird geschlossen, die Anwälte sitzen ihm im Nacken, im Internet und vor der Haustür wird er attackiert. Jahrzehntelange harte Arbeit und all die Bemühungen, Anerkennung für sein Talent zu erlangen, sollen umsonst gewesen sein – wegen eines Vorfalls, an den er sich kaum erinnert.
Zugleich muss seine Frau Julie, bedrängt von Journalisten und Paparazzi, der Verunsicherung nachgeben und sieht sich gezwungen, ihre Ehe und ihr ganzes Leben infrage zu stellen. All die Jahre, in denen sie versuchte, eine unterstützende Ehefrau und eine gute Mutter zu sein, geraten plötzlich ins Wanken.
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DANIEL
Grob gesagt, lassen sich Köche in drei Kategorien einteilen – Arbeiter, Künstler und Junkie –, und die besten von uns sind die perfekte Kombination aller drei. Wir fürchten den Tag, an dem das Adrenalin versiegt. Wir machen weiter, bis wir ausbrennen. Wir bleiben in der Branche, bis wir so alt sind, dass unsere Körper den Kick nicht mehr brauchen. Bis wir alte Männer sind, und so weit bin ich noch nicht.
Was soll ich jetzt mit mir anfangen?
Wohin soll ich gehen?
Was wird aus mir werden?
Julie hat mich nicht rausgeschmissen – in Krisensituationen war sie schon immer gefasst und verständnisvoll –, aber sie geht aus dem Zimmer, wenn ich reinkomme, und sie nimmt die Jungs überallhin mit. Ich sitze in meinem Sessel im Wohnzimmer, die Jalousien zur Hälfte heruntergelassen, und lausche den Reifen ihres Jeeps auf dem Kies, wie er meine Familie aus dem Haus bringt, das sich für sie nicht mehr wie ein Zuhause anfühlt.
Vier Schlafzimmer in Dalkey mit Blick aufs Meer, vor ein paar Jahren grundsaniert, nachdem Julies Mutter einen beiläufigen Kommentar zur Sauberkeit unserer Teppichböden fallengelassen hatte. Ihre Mutter, die seit Jahrzehnten in einer Sozialwohnung in der Bishop Street wohnt und uns nur besucht, um das Leben ihrer Tochter zu bemängeln. Jetzt habe ich ihr endlich einen Grund geliefert.
Julie erwähnte ihre Mutter nicht, als sie meinte, wir sollten das Haus wieder renovieren. Sie sagte, ihr sei langweilig und sie brauche ein Projekt, die Jungs seien nicht mehr so sehr auf sie angewiesen wie früher. Und es stimmt, je älter sie werden, desto weniger scheinen sie uns zu vertrauen. Unserem Rat, unserer Hilfe, egal was, abgesehen von unserem Geld. Siebzehn und fünfzehn, obwohl der Unterschied kaum wahrnehmbar ist, und ich mache mir Sorgen, dass Oscar zu früh erwachsen wird. Ich selbst war genauso, behauptete, ich stünde auf bestimmte Mädchen, um meine Brüder zu beeindrucken.
Kevin spricht nicht mehr mit mir. Er hörte von der Anklage, bevor wir es ihm selbst erzählen konnten. Ihm klarmachen konnten, dass dieser Hashtagblödsinn amerikanischer Scheißdreck ist, der sich nicht unter gewöhnlichen, anständigen Menschen ausbreiten wird. Er kam an einem Freitagnachmittag von der Schule nach Hause, ließ die Spurs-Tasche auf den Boden fallen und nannte mich einen Vergewaltiger. Das Gefühl werde ich nie erklären können. Als ich wieder atmen konnte, als der Schmerz in meiner Brust nachließ, setzte ich mich an den Küchentisch und versuchte, ihm alles zu erklären. Aber was soll man zu einem Teenager sagen? Irgendwann wird er die Wahrheit wahrscheinlich selbst herausfinden, wenn es nicht schon längst passiert ist – seit Menschengedenken fühlen sich Frauen zu einflussreichen Männern hingezogen.
Während ich ihm das auseinandersetzte, stand Julie an der Spüle; stocksteif und unbeirrt starrte sie aus dem Fenster aufs Meer.
Heute Morgen traf ich mich mit meinem beratenden Anwalt Roland in seiner Kanzlei am Fitzwilliam Square, und er stellte mir die Strafverteidigerin vor, die uns im Prozess vertreten wird, eine Ms Claire Crosby, ein bisschen zu jung für meinen Geschmack – kurzes Haar und schlanker, dürftiger Körper –, aber angeblich soll uns das vor Gericht nutzen. Bei Roland steht der äußere Anschein an erster Stelle. Er hatte vorgeschlagen, ich solle das Restaurant nicht schließen, das Geschäft weiterlaufen lassen und meiner Kundschaft weiter als Dublins bester Koch zur Verfügung stehen. Er erwartet, dass ich die Stellung halte, das süffisante Grinsen, die Blicke und Kommentare nicht beachte, denen ich jetzt schon ausgesetzt bin. Belassen wir es bei dem Befund, dass Roland Kinsella & Söhne nicht die geringste Ahnung haben, wie man ein Restaurant führt. Unser Reservierungsbuch sieht aus wie der Aufsatz eines Klassentrottels, seitenweise Streichungen und Absagen. Seit die Gerüchte in den sozialen Medien aufgekommen sind, bleiben achtzig Prozent der Gäste aus. Ein Herr von einem Hedgefonds, dessen Namen ich aus Rücksicht auf die mehreren tausend Euro verschweigen werde, die seine Firma im Laufe der Zeit in meinem Restaurant gelassen hat, wollte wissen, ob er seine Reservierung um vier Monate verschieben könne. Risikofreudig. Fast schon könnte man darin eine Unterstützungserklärung sehen.
Heute Morgen erklärte ich Roland, das Restaurant sei offiziell geschlossen. Der Anrufbeantworter, den niemand kontrollieren wird, ist eingeschaltet, die Kühlschränke geleert, die Geräte verstaut, die Messer ein letztes Mal gewetzt und die Fensterläden geschlossen.
Roland nahm die Neuigkeiten schweigend auf, faltete die Hände in seiner geistlichen Art und kippte mit dem Stuhl nach hinten, um den verschlossenen Park auf dem Platz zu mustern. Ein kalter Märztag, dichte Wolken jagten über den Himmel. Das Büro war zugig, die hohen Decken karg verziert.
»Dan, ich finde wirklich, du solltest den Laden offen lassen«, meinte er. »Ich kann dir am Wochenende einen Tisch bringen. Vier, vielleicht sechs Personen?«
Darauf folgten ein paar strenge Ratschläge, und die Falten seines alternden Gesichts troffen vor Ernsthaftigkeit. Ich schaltete auf Durchzug, während er eintönig vor sich hin näselte, und inspizierte das Mädchen, diese Claire, ihren beiseitegestrichenen Pony, das teure Kostüm, die aufrechte Haltung auf dem unbequemen Besucherstuhl. Eine solide sieben, unter entspannten Umständen womöglich eine acht. Mein Blick wanderte hinauf und traf ihren, und kurz blitzte ein verletzter Ausdruck in ihren Augen auf, bevor sie sich wieder fing. Ein knappes Lächeln auf den dünnen Lippen.
Nachdem ich die Aquarelle hinter Roland betrachtet hatte, die befriedigende Ordnung auf seinem Schreibtisch und den leuchtend grünen Lampenschirm, wurde ich von seinen Schuhen abgelenkt. Sehr zu meiner Beunruhigung erinnerten sie mich an meinen Vater, an den ich schon seit Jahren nicht mehr gedacht hatte. Er besaß nur ein Paar gute Schuhe – schwarze Halbschuhe, die er zu Hochzeiten und Beerdigungen trug, auch zu seiner eigenen. Ich weiß noch, wie ich nach seinem Tod danach suchte und mir dumm vorkam, als mein Bruder Rory erklärte, sie seien mit ihm verschwunden, wohin auch immer. Der Rest seiner Kleidung hing noch im Schrank meiner Eltern in unserem engen Reihenhaus, und in den Monaten nach seinem Tod rochen sie irgendwann nicht mehr nach ihm, sondern merkwürdigerweise nach meinem Großvater – dem Vater meiner Mutter –, was überhaupt keinen Sinn ergab. Ich war zehn, als mein Vater starb, und niemand sprach mit mir darüber; es hieß bloß, er sei jetzt bei den Engeln, an einem besseren Ort. Irgendwie ahnte ich, dass er sich diesen besseren Ort selbst ausgesucht hatte, weil es die einzige Möglichkeit war, unseren schäbigen Verhältnissen zu entkommen, und von da an verachtete ich unser Zuhause. Ich erfuhr erst Jahre später, mit fast zwanzig, wie er es angestellt hatte, und die Fragen und Erklärungsversuche meines jüngeren Ichs kamen mir müßig vor. Manchmal sterben Männer, weil sie es so wollen.
»Wenn Sie mich fragen«, sagte die Frau, »ich bin Rolands Meinung.« Ihre Stimme holte mich zurück ins Büro. Sie hatte verführerische Augenbrauen, natürlich hell und geschwungen.
»Das verstehe ich«, erwiderte ich. »Aber das Geld rinnt uns durch die Finger. Letzten Freitag hatten wir zwei Tische. Davon kann man keine Lieferanten und kein Personal bezahlen.« Von halsabschneiderischen Anwaltskosten ganz zu schweigen.
»Was ist mit Touristen?«, fragte sie. »Sie wissen schon – Foodies?«
Ich verzog kopfschüttelnd das Gesicht. Mir war klar, wie widerspenstig ich wirkte, aber ich konnte nichts dagegen tun. Völlig egal, ob die Gäste aus Ranelagh oder Reykjavík kamen, sobald sie das Restaurant googelten – um einen Tisch zu reservieren, die Adresse rauszufinden, Bewertungen zu lesen, was auch immer –, sprang ihnen sofort irgendein Mist aus den sozialen Medien entgegen und bestrafte mich dafür, dass ich es umbenannt hatte. Restaurant Daniel Costello. Hätte ich damals lieber auf Julie gehört und es bei T belassen.
»Das klingt nicht gut«, meinte Claire.
»Wem sagen Sie das. Die ganze Sache ist die reinste Farce. Außerdem« – ich deutete mit dem Finger auf sie – »sollten Sie nicht eigentlich Unterlassungsklagen verteilen?«
»Machen wir ja«, warf Roland schnell ein. »Aber man kann nicht alle erwischen. Nicht heutzutage.«
»Wenn die Informationen erst einmal da draußen sind«, fügte Claire hinzu.
»Die Fehlinformationen«, berichtigte ich.
»Das spielt im Grunde keine Rolle. Die Anschuldigungen sind jedermann zugänglich, und wenn Ihnen die Gäste ausbleiben, deutet das auf eine bestimmte öffentliche Meinung hin.« Sie klickte gereizt mit ihrem Kugelschreiber.
»Moment mal«, sagte Roland. »Das deutet bloß darauf hin, dass die Iren Schafe sind. Ein paar Absagen, und alle springen vom Schiff.«
Was für eine Vorstellung, Hunderte Schafe, die von Bord sprangen.
»Da gibt es überhaupt nichts zu lachen, Mr Costello.« Claire schlug eine Mappe auf und fuhr mit dem Finger eine Liste mit garstigen Spiegelstrichen hinab. »Wir müssen das Blatt vor dem Prozess wenden«, erklärte sie. »Ich muss alles über Sie wissen. Ihre Lebensgeschichte. Ihren Hintergrund. Sie kommen aus den Fatima Mansions, das ist schon mal gut. Ich brauche alles. Ihre berufliche Laufbahn.«
»Aus den Mansions?«, sagte ich. »Meine Mutter würde sich im Grab umdrehen. Ich bin in der Donore Avenue aufgewachsen.«
»Hm.« Claire ließ den Blick über die Liste streifen. »Tut mir...




