E-Book, Deutsch, Band 5, 381 Seiten
Reihe: Sizilienkrimi
Giordano Tante Poldi und der Gesang der Sirenen
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-7325-8638-7
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Kriminalroman
E-Book, Deutsch, Band 5, 381 Seiten
Reihe: Sizilienkrimi
ISBN: 978-3-7325-8638-7
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Jaleckmiamarsch: Die Poldi heiratet Montana. So jedenfalls der Plan. Die Hochzeitsvorbereitungen laufen auf vollen Touren, die Nerven liegen blank. Und natürlich kommt auch wieder was dazwischen. Ein unbeliebter Unternehmer verschwindet, und auf der Isola Bella vor Taormina wird die Leiche einer jungen Norwegerin angespült. Für die Poldi steht fest: Es war Mord, und beide Fälle hängen zusammen. Und bei einer Leiche bleibt es diesmal nicht ...
Mario Giordano, geboren 1963 in München, schreibt Romane (u. a. Apocalypsis-Trilogie), Jugendbücher und Drehbücher (u. a. Tatort, Schimanski, Polizeiruf 110, Das Experiment). Seine humorvollen Sizilien-Krimis über die charismatische und eigenwillige Tante Poldi schafften es jedes Mal auf die Bestseller-Liste. Giordano lebt in Berlin.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1. Kapitel
Erzählt von Gerüchten, Abstellgleisen und Kotzbrocken, vom Verschwinden und kosmischer Ordnung. Die Poldi bereitet ihre Hochzeit vor und hat vorläufig dem Suff und sämtlichen Mordermittlungen abgeschworen. Wer’s glaubt. Der Neffe jedenfalls nicht. Der verzweifelt an der Quadratur des Kreises und kriegt eine Abfuhr. Vito Montana sagt erst lange nichts, aber dann lässt er die Bombe platzen. Als Anfang September die ersten Gerüchte durchsickerten, dass Aldo Favarotta – ja genau, der Aldo Favarotta, der Inbegriff von Verdorbenheit und Korruption – spurlos verschwunden war, gab es kaum jemanden zwischen Catania und Messina, der ihn sich wieder heil und an einem Stück zurückwünschte. Als es schließlich in der La Sicilia stand, heuchelte man natürlich öffentlich Entsetzen und Mitgefühl, war man »in Gedanken bei der Familie«, zumal mit dem Mikrofon eines Lokalsenders vor der Nase. Aber hinter vorgehaltener Hand wurden unfreundliche Dinge geraunt, die wenig mit Nächstenliebe und Herzensgüte zu tun hatten, sondern eher mit dem inbrünstigen Wunsch, Favarotta möge bereits in Säure aufgelöst oder irgendwo verscharrt sein, der Herr möge die Welt von diesem Blutsauger erlösen, diesem miesen Schwein, Rassisten und Kotzbrocken. Aber wie einen krachenden Sommerhit braucht jeder Sommer auch seinen Sommeraufreger, das ist in Sizilien nicht anders als in der deutschen Provinz. Also irgendeinen Skandal, eine sportliche Niederlage, eine Peinlichkeit eines Politikers oder eines B-Promis, über die man endlos spekulieren, sich das Maul zerreißen und seinen Frust auf die eigene Misere ausschwitzen kann. Oder eben eine Hochzeit, auf die man freudig hinfiebern kann wie auf die ersten Kirschblüten an einem grauen Aprilmorgen. Die Familie ist immer noch das Fundament der italienischen Gesellschaft, und Hochzeiten sind der Mörtel, der Familien zusammenfügt. Jede Hochzeit webt weiter an jenem Geflecht aus unausgesprochenen Verbindlichkeiten, Gefälligkeiten und sorgfältigen Ausgrenzungen, das ganz Italien durch alle Krisen hindurch zusammenhält. Hochzeiten strukturieren die Jahre. Wenn meine Tanten in Erinnerungen schwelgen, dann sagen sie oft Dinge wie: »War das nicht das Jahr, in dem Valentina und Enzo geheiratet haben?« In diesem paradoxen Kernland des Katholizismus, das den Sexappeal und die Virilität beider Geschlechter zum nationalen Mythos erklärt, in dem vorehelicher Sex jedoch noch vor wenigen Jahrzehnten nur in Kleinwagen, am Strand und überhaupt nur unter größter Heimlichkeit möglich war, wurde schon immer früh geheiratet. Aber auch späte Hochzeiten werden gern gefeiert. Auch ganz späte. Hauptsache, man ist eingeladen, es gibt tüchtig zu essen, man kann ein paar einflussreiche Leute treffen und eine weitere bomboniera zu der Sammlung im Schrank stellen wie den Pokal einer gewonnenen Meisterschaft. Hauptsache Hochzeit. Aldo Favarotta war also spurlos verschwunden, und das war ein ziemlicher Knaller, schon allein deswegen, weil ihn sich fast niemand zurückwünschte. Blöderweise konkurrierte sein Verschwinden aber auf lokaler Ebene mit der bevorstehenden Mega-Hochzeit des Jahres. Mitte September schließlich würden meine Tante Poldi und Vito Montana sich vor dem Bürgermeister von Acireale das Ja-Wort geben und sich danach von Padre Paolo in der kleinen Fischerkirche von Torre Archirafi ihren Segen dazu abholen. Da beide geschieden waren, kam eine richtige kirchliche Trauung nicht mehr infrage. Was jedoch niemanden störte. Montana war zwar Katholik, aber eben auch Kommunist, und die Poldi war ohnehin ein spiritueller Freigeist. Hauptsache, man konnte es anschließend tüchtig krachen lassen. Seit die Poldi und ihr Commissario des Herzens sich nackt, gefesselt und geknebelt, den Tod vor Augen in einem Lieferwagen per Morsezeichen verlobt hatten, liefen die Vorbereitungen auf Hochtouren. Ganz Torre Archirafi vibrierte und summte vor Aufregung. Aber auch in den umliegenden Kommunen – in Riposto, Giarre, Fiumefreddo, Mascali, Calatabiano, Santa Venerina, ja, bis hin nach Taormina und Catania – spekulierte man bereits darüber, was meine Tante Poldi tragen, wie viel Karat der Ring haben, was es zu essen geben würde (hoffentlich bloß nichts aus Poldis barbarischer Heimat), welche Promis eingeladen waren und vor allem, mit welchem Eklat wohl zu rechnen sei. Denn der Vergnügungswert jeder sizilianischen Hochzeit ruht auf drei Säulen: der Länge der Menüfolge, der Kitschigkeit der bomboniera und dem Ausmaß des Eklats. Und von Eklats und Kitsch verstand meine Tante Poldi schließlich was. Meine Tante Poldi. Bürgerlich Isolde Oberreiter, gebürtig aus Augsburg, langjährig ansässig in München, inzwischen wohnhaft in der Via Baronessa 29, Torre Archirafi, Frazione di Riposto, Sizilien. Verheiratet, verwitwet, geschieden, verlobt. Eine barocke Erscheinung in jeder Hinsicht, immer für einen Eklat, einen dramatischen Auftritt und eine knallharte Mordermittlung gut. Markige Flüche, große Gefühle, Vollräusche, goldene Riemchensandalen und Perücke inklusive. Außer meinem verstorbenen Onkel Peppe und Vita Montana hatte noch nie jemand die Poldi ohne dieses schwarze Trum von Perücke gesehen, und niemand wusste, was sich darunter verbarg. In einer meiner ältesten Erinnerungen sehe ich sie mit meinem Onkel Peppe im Garten meiner Eltern in Neufahrn. Die Poldi trägt ihre zur Bienenkorb-Frisur hochtoupierte Perücke und einen Jumpsuit mit Tigermuster. In meiner Erinnerung ist sie ein bisschen schlanker als heute, aber dennoch eine stattliche bajuwarische Erscheinung mit Kurven und Kanten und vor allem einer Stimme wie das Donnern eines Alpengewitters. Mein Onkel Peppe trägt einen selbst geschneiderten, lässigen weißen Leinenanzug mit sehr weit offenem Hemd und raucht eine Roth-Händle nach der anderen. Er raucht praktisch, wie er atmet. Die Poldi und der Peppe streiten sich wie die Kesselflicker, schreien sich auf Bairisch an, werfen sich die übelsten Schimpfworte an den Kopf, die ich mir alle für den nächsten Schultag zu merken versuche. Es geht um Freiheit und um einen Manfred, und dabei zischen sie die Biere nur so weg. Ich erinnere mich, dass ich mich ein bisschen fürchte, aber dann sehe ich, dass meine Eltern ganz entspannt und lächelnd danebensitzen. Und im nächsten Augenblick, wie die Poldi und mein Onkel Peppe sich schon wieder umarmen und leidenschaftlich küssen und sich kurz darauf dann hastig verabschieden. Das ist alles lange her. Als mein Onkel Peppe vor einigen Jahren starb, verlor die Poldi so ein bisschen die Bodenhaftung. Sie hat schon immer viel getrunken, aber damals, stelle ich mir vor, muss ihr Plan gereift sein, sich so richtig die Birne, die Trauer und die Schwermut con tutto wegzusaufen. Damals verloren wir sie dann auch aus den Augen. Die Poldi wanderte nach Tansania aus, zog wieder zurück nach München, erbte und verkaufte ihr Elternhaus. Und dann, vor etwas über einem Jahr, kaufte sie das kleine Haus in Torre Archirafi und zog an ihrem sechzigsten Geburtstag von München nach Sizilien, um sich gepflegt mit Meerblick totzusaufen. So weit der Plan. Trotz diverser Abstürze lag dieser Plan inzwischen jedoch zum Glück on the rocks, und das war vor allem Vito Montana, meinen Tanten und Sizilien zu verdanken. Statt sich totzusaufen, hatte die Poldi nämlich so ganz nebenbei ein paar Mordfälle aufgeklärt, diverse Kerle flachgelegt, zwei Autos zu Schrott gefahren, eine Ehe gestiftet, Freunde gefunden und auch die Liebe. Ganz gegen ihren ursprünglichen Plan war sie dem Tod etliche Male von der Schippe gesprungen, hatte sich sogar ein wenig mit ihm angefreundet, könnte man sagen. Irgendwie hing sie ja doch am Leben. Denn auch, wenn sie es oft und ziemlich schlimm mit der Schwermut hat, kenne ich keinen Menschen mit mehr überschäumender bajuwarischer Lebensfreude als meine Tante Poldi. Vor einem Jahr hatte ich sie in ihrem alten Alfa von München bis nach Sizilien gefahren, und da ich mit meinem Familienroman nicht wirklich vorankam und aus Sicht meiner Tanten Teresa, Caterina und Luisa ohnehin praktisch arbeitslos war, hatten sie mich regelmäßig aus Deutschland einfliegen lassen, um auf die Poldi aufzupassen. Was dazu führte, dass ich irgendwann bunte Hemden und schwarze Anzüge trug, mit dem Rauchen anfing, mich tätowieren und mir zwei Mal so richtig volle Kanne das Herz brechen ließ. So viel zum Thema Aufpassen. Dennoch waren wir im Lauf des vergangenen Jahres so ein bisschen zusammengewachsen, möchte ich sagen. Wir hatten eine Schießerei und zwei Anschläge von Maria überlebt. Wir waren jetzt ein Team. Sie hatte mich zu ihrem Trauzeugen bestimmt, was sagt man dazu? Wer etwas von ihr wollte, musste erst an mir vorbei, bitte Wartenummer ziehen. Ich war ihr Chronist, Manager, Hausmeister, Fahrer, linke Gehirnhälfte, Kummerkasten und Klotz am Bein. Kurz gesagt: voll auf Augenhöhe! Selbstredend war ich daher auch Dreh- und Angelpunkt der Hochzeitsvorbereitungen. Eine sizilianische Hochzeit ist nichts für Anfänger, da wird alles bis ins kleinste Detail durchgeplant. Ich mag mich in der Vergangenheit möglicherweise hie und da abfällig über italienische Hochzeiten geäußert haben, aber wenn man selbst zum Rädchen eines perfekt abgestimmten familiären Getriebes wird, dann sieht man die Dinge anders. Eine sizilianische Hochzeit ist, was Konzeption, Zusammenspiel der verschiedenen Kräfte und Gewerke, Vorbereitung, Durchführung und Harmonie des Ergebnisses betrifft, nichts weniger als ein Renaissance-Kunstwerk. Ich glaube, der griechische Ausdruck...