E-Book, Deutsch, 392 Seiten
Görlitz Erinnerungen an Erinnerungen
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-99131-479-0
Verlag: novum pro Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 392 Seiten
ISBN: 978-3-99131-479-0
Verlag: novum pro Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
'Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält.' (Max Frisch) Eine Lebensgeschichte ist keine Summe bruchlos aneinandergereihter Erinnerungen, sondern ein Sammelsurium fortwährend überarbeiteter und umgedeuteter Rückblicke. Dementsprechend geht es hier um eine heikle Zeitreise zu dem, für den man sich hält. Den anekdotischen Reisebericht flankieren zur Reflexion einladende wissenschaftliche Miniaturen. Stationen sind beispielsweise ein naiver Knirps vor und ein ernster Junge im und nach dem Krieg, ein aufbegehrender Heranwachsender im Jahrzehnt des Wirtschaftswunders oder ein herumprobierender Adoleszent in den Geburtsjahren der Bundesrepublik - eine Lebensgeschichte wie jede und doch wie keine. Durch die Lektüre könnte man etwas über sich selbst erfahren - oder über die Geschichte, die man für sein Leben hält.
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2 Nichts war mehr, wie es bisher war. Alles wurde anders. Als mir meine Mutter nach einer weiteren Woche ihren Entschluss mitteilte, in die Großstadt zurückzukehren, legte sie mir die Hände auf die Schultern, sah mir bewegt in die Augen und eröffnete mir, dass ich von nun an der Vati sei. Ihr Großer müsse nunmehr der Mann in der Familie sein, ihr beherzt zur Seite stehen und auf den Kleinen achthaben. Obwohl ich letztlich nur mitbekam, dass ich ab sofort mehr als bisher auf meinen Bruder aufpassen müsse, war ich von meiner Beförderung zum Vati höchst ergriffen und nickte bedeutungsschwer. Meine Hoffnung, dass von da an jeder nur noch den Vati im Kind sehen und respektieren werde, wurde flugs enttäuscht. Meine Freunde, die ich umgehend von meiner Rangerhöhung unterrichtete, konterten kühl, in jeder Familie könne es nur einen Vati geben, und meiner sei nun mal in Gefangenschaft. Und die Erwachsenen merkten gar nichts, sondern behandelten mich wie eh und je als Schlingel, Früchtchen oder Grünschnabel. Mit Ausnahme meiner Mutter; von ihr wurde ich in Dienst, in die Pflicht, in Verantwortung genommen. Ich war in zwei Parts aufgespalten, zum einen in den entwicklungsgemäßen Jungenpart und zum anderen in einen frühreifen Erwachsenenpart, und ich fand mich immer schwerer in mir zurecht. Persönlichkeitsaufspaltung ist der Anfang vom Ende einer behüteten Kindheit. Solange einem die Familie einen Platz im gemeinschaftlichen Lebensraum zuweist, ist man mit sich und der Welt in eins gesetzt. Elterliche Autorität, geschwisterliche Rivalität oder großelterliche Duldsamkeit vergewissern das Kind über seine Kindhaftigkeit. Beginnt man sich zu fragen, wo es zukünftig langgehen soll, welcher respektable Rang einem zustehen wird oder wie beständige Gunst erreichbar ist, zerbricht die Einheit der kindlichen Welt. Vom außengeleiteten Selbst sondert sich ein egozentriertes Ich ab, das ein höchstpersönliches Universum mit aneinander anschließenden Deutungshorizonten zu entwerfen beginnt. Gelingt das und geht die kindliche Sphäre darin auf, wird man wieder eins mit sich selbst. Gewöhnlich dienen aber Altersgruppen oder Massemedien alternativ fashionable Deutungsmuster an, und solche, letztendlich nur schwer ignorierbare Weltentwürfe vertiefen allmählich die Spaltung in zwei, drei oder gar multiple Wesenheiten. Verschwimmende, einander überlagernde oder gar auseinanderstrebende Deutungshorizonte öffnen das gespaltene Ich dann wieder für autoritative Weltanschauungen und begünstigen die Entstehung eines fremdgeleitetes Selbst. Wer sich weiter nach einem einzigen Horizont sehnt, überantwortet sich leichter Autoritäten; wen viele Horizonte beirren, ebenso. Am Tage unseres Rückmarschs in die Großstadt fand ich mich an der Spitze des Leiterwagens, und zwar auf der rechten Seite der Deichsel wieder. Meine Mutter ging langsam, damit ich Schritt halten und gleichverpflichtet ziehen konnte, und mein Bruder thronte wiederum oben auf der Ladung. Ich ermahnte ihn immer wieder, ruhig zu sitzen oder sich festzuhalten, und übte so meine neue Rolle. Ganz eins mit dieser Rolle fühlte ich mich dann, wenn ich uns an Kreuzungen unseren Weg mit einer Deichselbewegung wies. Je mehr wir uns der Großstadt näherten, umso öfter fanden wir uns inmitten kleinerer oder größerer Trecks wieder. Man trottete voreinander her, überholte einander oder fiel hintereinander zurück, redete aber nie miteinander. Selbst als ein Pritschenwagen hielt und wir unseren Leiterwagen aufladen und aufsitzen durften, halfen uns die anderen, die bereits die Ladefläche besetzten, nur stumm hoch. Ich plapperte unentwegt, aber niemand nahm davon Notiz. Die Menschen waren offensichtlich voll mit dem Versuch ausgelastet, ihre Lage zu erfassen. Man griff zwar zu, wenn sich Ladung verselbstständigte oder jemand auf eine Handreichung angewiesen war, aber blickte ansonsten teilnahmslos aneinander vorbei. Sogar dann, als ich entgeistert meine Mutter alarmierte, an ihren Beinen laufe etwas Rotes herunter, sah man nur kurz zu uns herüber. Jemand klopfte ans Führerhaus, der Wagen hielt vor dem nächsten Haus, damit meine Mutter einen Wattebausch erbitten und dort im Bad applizieren konnte, und die Reise wurde kommentarlos fortgesetzt. Meine besorgte Frage, ob sie denn an einer blutenden Wunde leide, beantwortete meine Mutter mit einem deutlichen „Nein“, das zugleich jede Nachfrage von vornherein unterband. Obwohl diese Heimreise mehrere Tage dauerte, erinnere ich mich letztlich nur an den Menschenstrom, der uns in die Großstadt schwemmte, und eben an das rätselhafte Malheur meiner Mutter. Wenn man tatsächlich, wie behauptet wird, selektiv wahrnimmt und einspeichert, sind die Selektionskriterien für dieses Detail unerfindlich. Ich höre mich zwar rufen, sie möge doch mal an sich herunterschauen, da rinne etwas Wässriges, aber ich sehe mich das Ereignis unaufgeregt und leidenschaftslos registrieren. Wie stets bekam meine Mutter auch hier alles in den Griff, und was immer das war, es wurde mit einigen Instruktionen und Verrichtungen zweifellos bereinigt. Kurz, was ich bemerkte, erschien mir offenbar nicht sonderlich bemerkenswert. Sucht man trotzdem weiter nach Selektionskriterien, wird man gern im Unterbewusstsein fündig. Aber Suchergebnisse der Art, man habe sein Erschrecken über die intuitive Entdeckung der Frau in der Mutter verdrängt, helfen nicht weiter, gibt es doch dafür keine nachprüfbaren Belege, und zwar umso weniger, als ich so gar keine Ahnung hatte, was es mit diesem Vorkommnis auf sich haben könnte. Dann reduziert sich die Behauptung von der selektiven Wahrnehmung aber auf den Gemeinplatz, dass man nicht alles wahrnehmen und behalten kann und deshalb eine Auswahl trifft – was sich bei der unendlichen Fülle erdenklicher Sinneseindrücke von selbst versteht. Ein Selektionskriterium ist deshalb womöglich nichts anderes als die nachträgliche Zuordnung zu einem plausiblen Sinnzusammenhang, in den wir unsere Wahrnehmungen und Erinnerungen nachvollziehbar einbetten können – oder von einem Psychotherapeuten griffig einbetten lassen. Tatsächlich organisiert sich unser Wahrnehmungs- und Erinnerungsvermögen wohl doch nach eigenen, mehrdeutigen Kriterien. Die Unterkunft, eine gespenstische Zimmerflucht, in die wir nach unserer Rückkehr von Amts wegen eingewiesen wurden, hatte als Hauptmieter zwei Damen, und zwar eine alte, aus der Zeit gefallene Mutter, die man, wie wir sogleich belehrt wurden, mit „gnädige Frau“, und eine ältliche, distinguierte Tochter, die man mit „Fräulein“ anreden sollte. Die gnädige Frau, eine ehemalige Opernsängerin, war bettlägerig und krächzte mit brüchiger Stimme tags und häufig auch nachts Arien. Das graugesichtige, spindeldürre Fräulein, die das Regiment über die Wohnung, die alte Dame und bald nebst meiner Mutter auch über mich führte, qualmte, wann immer man sie sah, Zigaretten. Unsere Räumlichkeiten bestanden aus einem großen ehemaligen „Esszimmer“, das meine Mutter bezog, und einem verschlagartigen „Dienstmädchenzimmer“ hinter der Küche für meinen Bruder und mich. Aus dem schier unerschöpflichen Möbelbestand der zahlreichen Räume wurde das Esszimmer mit einem großen Bett in ein Wohnschlafzimmer und die neben der Küche gelegene Dienstmädchenkammer mit zwei kleineren Betten, die allerdings das ganze Kabuff beanspruchten und keinen Platz mehr für einen Tisch oder gar einen Schrank ließen, in ein Kinderzimmer umfunktioniert. Bad und Küche standen allen zur Verfügung, und nachdem wir den Badeofen mit Holz beheizt und nacheinander ein und dasselbe warme Wannenbad genommen sowie unsere erste Suppe auf dem Gasherd gekocht hatten, waren wir endlich wieder in der Großstadt angekommen. Mein erster Erkundungsgang galt der Wohnung. An einem Ende des langen Flures lag das Wohnzimmer. Dorther kamen die Arien, die mein Klopfen nicht unterbrechen konnte. Ich öffnete die Türe einen Spaltbreit und erblickte die gnädige Frau, die wohlfrisiert und unter Spitzendeckchen gebettet inmitten einer überbreiten Liege thronte. Als sie ihr runzeliges Gesicht zur Türe wandte und mich gleichsam ansang, machte ich rasch einen Diener und schloss die Türe wieder. Erst jetzt fiel mir auf, dass sich die Worte, die sie benutzte, nicht zu Sätzen zusammenfügten, sondern unverknüpft in meinen Ohren widerklangen, als sänge sie bloß „Lalala“. Ich musste stracks das Fräulein fragen, warum die gnädige Frau Lieder ohne Worte sang. Deshalb überging ich die nächste Türe, die ohnehin ins bereits vertraute Zimmer meiner Mutter führte, und pochte eine Türe weiter beim Fräulein. Sie hustete „Herein!“, und ich betrat ihr rauchgeschwängertes Boudoir. Zunächst sah ich nur eine schwarze Holzskulptur, aber dann tauchten aus den Rauchschwaden schwarze Sitzmöbel, Sideboards, Tischchen und Schränke auf. Ich fragte verblüfft, ob das ein Trauerzimmer sei, aber sie meinte, dass ich offenbar noch nie Edelholz gesehen hätte. Bei der Skulptur an der Türe handele es sich um eine sich wiegende Nubierin, und auch die anderen Sachen habe ihr Vater aus Afrika mitgebracht, wo solch kostbare und keinesfalls unheilschwangere Möbel gebräuchlich seien. So gern ich mehr über Afrika erfahren hätte, so dringend wollte ich auch meine Frage loswerden. Sie blickte mich tantenhaft an und meinte, man solle in jedem Alter nur so viel wissen, wie man gerade verstehen könne. Vielleicht verstünde ich bereits, dass sehr, sehr alte Menschen ihre Gedanken und folglich auch ihre Worte oft nicht mehr ganz in Ordnung halten könnten. Und nun wäre es wohl Zeit für mich, in die Heia zu gehen, und zwar ohne einen neugierigen Blick ins Nebenzimmer; das sei nämlich ihr Schlafzimmer und für mich tabu. Auch wenn ich nicht ganz begriff, was mit „tabu“ gemeint war, wusste ich mich...