Goldschmidt / Wolf | Gekippt | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Goldschmidt / Wolf Gekippt

Was wir tun können, wenn Systeme außer Kontrolle geraten

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

ISBN: 978-3-451-82129-5
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Wir leben in einer Zeit, in der Vieles bedroht ist, was lange als selbstverständlich galt: öffentliche Gesundheit, Demokratie und Friede, soziale Sicherheit, wirtschaftlicher Wohlstand und eine intakte Umwelt. Sogenannte Kippmomente bezeichnen solcherlei Situationen, in denen sich ein System (ökologisch, politisch oder sozial) plötzlich und unumkehrbar ändert. Das Wissen um sie ist für das Verständnis unserer komplexen Gegenwart essenziell.

Nils Goldschmidt und Stephan Wolf machen deutlich, dass Kippmomente keine unabänderbaren Schicksale sind, sondern beeinflusst und abgewendet werden können. Ein Buch, das zeigt, wie wir unsere Zukunft in einer sich immer schneller wandelnden Welt gestalten können, anstatt uns vor der nächsten Krise zu fürchten.
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Kapitel 1

Kippmomente und Weichenstellungen
Was sind Kippmomente? Was bewirken sie?
»Herzinfarkt fürs Ökosystem.«1 Mit diesen drastischen Worten umschrieb die Neue Westfälische vom 11. August 2018 die Katastrophe, die sich in der Nacht zuvor im Münsteraner Stadtsee, dem Aasee, abspielte. Verursacht durch die Hitzewelle in jenen Tagen und einen warmen Regenschauer war die Temperatur im See auf rund 26 Grad Celsius gestiegen und die Sauerstoffkonzentration auf unter drei Milligramm pro Liter gesunken: zu wenig für die meisten Fische. Innerhalb kürzester Zeit verendeten 80 Prozent des Fischbestandes. In einer wenig appetitlichen Aktion wurden 20 Tonnen toter Fisch aus dem Wasser gezogen. Kippmomente – Tipping Points – bezeichnen Situationen, in denen sich der Zustand eines Systems, wie zum Beispiel das Ökosystem eines Sees, innerhalb kurzer Zeit radikal und oft auf Dauer ändert. Besonders augenscheinlich ist dies beim Klimawandel. Die Erderwärmung bedeutet nicht nur einen allmählichen Anstieg von Durchschnittstemperaturen, sondern man muss damit rechnen, dass es an bestimmten Punkten – Kippmomenten – zu abrupten Änderungen kommen kann. So könnte beispielsweise das derzeit beobachtbare Schmelzen des Gro¨nla¨ndischen Eisschildes einen schnellen und massiven Anstieg des Meeresspiegels auslösen oder die Versteppung des Amazonas-Regenwaldes die weltweite CO2-Konzentration hochschnellen lassen. Der genaue Zeitpunkt eines Kippmoments ist natürlich schwer zu bestimmen, aber zumeist lassen sich tiefgreifende Umbrüche bereits im Vorfeld erahnen, wenn die Änderungen in einem ökologischen System sich selbst verstärken und immer rascher vonstattengehen. Aber auch in der Gesellschaft erleben wir solche Kippmomente: Am 9. November 1989 öffnete Harald Jäger, diensthabender Leiter des Grenzübergangs Bornholmer Straße in Berlin, den Übergang für reisewillige DDR-Bürger. Rund 20 000 Menschen gelangten so binnen einer Stunde in den Westen. Jägers Handeln und seine Auslegung der neuen Reiseregeln, die kurz zuvor der damalige Sekretär für Informationswesen, Günter Schabowski, mit einem »sofort, unverzüglich« unterlegt hatte, veränderten die Welt. Der Niedergang der DDR hatte sich lange angekündigt, aber Jägers Entscheidung schrieb mit der Öffnung der Mauer ein neues Kapitel in der Geschichte: ein äußerst erfreulicher Kippmoment. Dieses Buch ist ein Buch über Kippmomente. Wir leben in einer Zeit, in der vieles »auf der Kippe« steht. Werden wir den Klimawandel meistern, oder zerbricht die schon jetzt fragile ökologische Balance vollständig – mit katastrophalen Folgen für die Natur und für die Menschheit? Verändert die Digitalisierung unsere Arbeits- und Lebenswelt derartig, dass jahrhundertealte Gewohnheiten und kulturelle Errungenschaften plötzlich verschwinden? Wird es in 50 Jahren noch Erwerbsarbeit, wie wir sie heute kennen, geben? Wird der demografische Wandel über kurz oder lang die sozialen Sicherungssysteme, wie sie über Jahrzehnte auf- und ausgebaut wurden, wegfegen? Werden das Zeitalter des Westens und die lange Zeit für unerschütterlich gehaltene Pax Americana durch den Aufstieg Chinas und durch einen überlegenen, nun staatlich gesteuerten Kapitalismus abgelöst? Und werden Populismus und Radikalismus unsere robust geglaubten Demokratien, aber auch unseren sozialen Zusammenhalt vor Ort sprengen? Das Buch wird keine abschließenden Antworten auf diese Fragen geben. Hier bewahrheiten sich die Worte von Karl Valentin, dem einzigartigen Münchner Komiker: »Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen.« Wir wissen nicht, was genau in der Zukunft passieren wird. Aber wir erahnen die Herausforderungen, vor denen wir stehen. Das Buch will dazu ermuntern, Kippmomente als das zu erkennen, was sie sind. Kippmomente sind keine unabwendbaren Schicksale, die eintreffen müssen, sondern Teil möglicher Szenarien, die uns herausfordern, uns aber nicht lähmen sollten. Kippmomente sind Weggabelungen, und wir müssen jetzt die richtige Abzweigung finden. Die Grundbotschaft dieses Buchs ist eine optimistische: Wir können und sollten den Wandel, den wir derzeit auf so vielen Ebenen erleben, sorgfältig analysieren und mit Augenmaß, aber auch mit Leidenschaft gestalten. Es ist so ein wenig wie bei Independance Day, diesem Science-Fiction-Blockbuster aus der Mitte der 1990er-Jahre mit Jeff Goldblum und Will Smith. Sie können aber auch die Story jedweden anderen handelsüblichen Science-Fiction-Films nehmen. Überraschend kommen Außerirdische mit dem Ziel, die Erde zu zerstören (ein recht überschaubarer Plot übrigens). Am Ende überlebt die Menschheit – und warum? Weil sich die Protagonisten vornehmen, es nicht zum Äußersten kommen zu lassen, und weil man einfach überleben will. Hierfür braucht es oft Umwege und Irrwege und vor allem viel Kreativität bei der Lösungssuche. So wie in Independance Day: Nach zahlreichen Verwicklungen – so taucht unerwartet ein abgestürztes Jagdschiff der Aliens auf – obsiegt die Menschheit dank einer recht martialischen Zerstörung des fremden Mutterschiffs und einer flammenden, aufrüttelnden Rede des amerikanischen Präsidenten, mit der er seine Nation, nein sogar die ganze Menschheit, erfolgreich eint. So wenig wie man sich Ersteres als reales Szenario wünscht, so dankbar wäre man unter der Präsidentschaft von Donald Trump für Letzteres gewesen. Aber zurück aus der Zukunft in die Gegenwart. Bevor wir uns einzelnen Kippmomenten widmen, müssen wir zunächst ihre generelle Natur näher ergründen, um besser zu verstehen, wie wir mit ihnen umgehen können. Von der Schwierigkeit, Kippmomente richtig zu erfassen
Bleiben wir bei Schiffen. Vor guten hundert Jahren, am 24. Juli 1915, sank das amerikanische Passagierschiff Eastland der Michigan Steamship Company.2 Es war eins von fünf Ausflugsbooten, die die Mitarbeiter und ihre Familien der Western Electric Company von Chicago aus über den Lake Michigan, einen der fünf Großen Seen Nordamerikas, nach Michigan City, Indiana, bringen sollten, um auf dem See einige vergnügliche Stunden zu verbringen und am Zielort das jährliche Firmenpicknick zu genießen. Doch es kam anders, und es ging alles sehr schnell. Um 6.30 Uhr in der Frühe begann das Einsteigen, das Boot war auf dem Chicago River, der die Stadt durchfließt, um von dort zum Lake Michigan aufzubrechen. Bereits gegen kurz nach 7 Uhr waren rund 2500 Passagiere auf dem Schiff. Ohne erkennbaren Grund begann das Schiff sich hin- und herzubewegen, um dann letztlich vollständig umzuschlagen. Der Kapitän versuchte noch Alarm zu geben, aber es war zu spät. Einer der Passagiere, George Goyette, war an Deck, als die Eastland sich zur Seite neigte, und beschrieb die Ereignisse später so: Was ich sah, war genau das, was man sieht, wenn man Kindern zusieht, die einen Hügel herunterrollen. Diese Traube von Männern, Frauen und Kindern rutschten und purzelten hinab, zusammen mit Unmengen von Lunchboxen, Milchflaschen, Stühlen – Müll jeder Art. Sie glitten als eine taumelnde, schreiende Masse hinab und als das Boot ganz kenterte und begann unterzugehen, stürzten sie gegen die Treppe und wurden weggetragen. Bei dieser Katastrophe kamen 844 Menschen ums Leben. Es konnte nie genau geklärt werden, wie es zu dieser Tragödie kommen konnte. Es gibt die unterschiedlichsten Theorien. Manche glauben, dass die Passagiere sich aus irgendeinem Grund plötzlich gemeinsam auf eine Seite des Schiffs bewegt haben, andere denken, dass der Schiffskiel im Schlamm stecken geblieben ist, wieder andere meinen, dass das Boot auf einen vorausfahrenden Schlepper aufgelaufen ist. Eine fast schon zynische Erklärung ist, dass zusätzliche Rettungsboote, die mitgeführt wurden, die Balance des Schiffes weiter verschlechtert haben. Diese waren übrigens an Bord, da nach der Katastrophe der Titanic drei Jahre zuvor ein entsprechendes neues Gesetz erlassen wurde. Die genaue Ursache wird im Verborgenen bleiben. Fakt ist aber, dass das Schiff schon seit längerem als instabil galt und schon bei früheren Gelegenheiten beinahe gekentert wäre. Die Eastland Disaster Historical Society, die sich der Erinnerung an dieses Unglück verschrieben hat, fasst die Katastrophe wie folgt zusammen: Wir glauben, dass es nicht eine einzelne Ursache gab. Vielmehr sind wir davon überzeugt, dass die Eastland aufgrund des kumulativen Zusammenwirkens vieler Ereignisse gekentert ist. Dazu gehören: Design und Konstruktion, Modifikationen am Schiff, die Überbelegung und das schlechte Ballastwassermanagement. Letztlich ging es also nicht darum, ob die Eastland kentern würde, sondern lediglich darum, wann. Im Grunde genommen war es eine Katastrophe, die irgendwann passieren musste. Dieses dramatische Ereignis lehrt uns viel über Kippmomente. So ist es sinnvoll, zwischen unmittelbaren (direkten) und mittelbaren (kontextualen) Kippmomenten zu unterscheiden.3 Der Moment, in dem die Eastland zur Seite kippte, ist ganz offensichtlich der unmittelbare Kippmoment, der die Katastrophe auslöste. Aber was war der Grund, warum das passierte? Wie oben gesehen, gibt es wohl nicht die eine Erklärung. Bereits im Vorfeld müssen sich Dinge im Umfeld, im Kontext des direkten Kippmomentes verändert haben. So gab es die Theorie4, dass neben der Eastland ein Kanurennen vorbeizog...


Goldschmidt, Nils
Nils Goldschmidt, Jg. 1970, hat seit 2013 eine Professur für Kontextuale Ökonomik und ökonomische Bildung an der Universität Siegen inne. Zuvor war er Professor für Sozialpolitik und Sozialverwaltung an der Hochschule für angewandte Wissenschaften München (2010 bis 2013) und Professor (Vertretung) für Sozialpolitik und Organisation Sozialer Dienstleistungen an der Universität der Bundeswehr München (2008 bis 2010). Nils Goldschmidt studierte Katholische Theologie und Wirtschaftswissenschaften an der Universität Freiburg. Die Promotion zum Dr. rer. pol. erfolgte 2001, die Habilitation im Fach Volkswirtschaftslehre 2008, beides ebenfalls an der Universität Freiburg.  Er ist Vorsitzender der Aktions­gemeinschaft Soziale Marktwirtschaft e.V., Tübingen, Mitglied im Vorstand des Wilhelm Röpke Instituts e.V., Erfurt, Mitglied im Vorstand der Görres Gesellschaft, Bonn, und Affiliated Fellow am Walter Eucken Institut e.V., Freiburg.

Wolf, Stephan
Stephan Wolf, Jg. 1980, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Kontextuale Ökonomik und ökonomische Bildung an der Universität Siegen. Zuvor forschte und lehre er an der Universität Freiburg, zunächst an der Abteilung für Wirtschaftspolitik und Ordnungstheorie und anschließend an der Professur für Umweltökonomik und Ressourcenmanagement. 2006 erwarb er seinen Bachelor-Abschluss im Fach Environmental and Resource Management an der BTU Cottbus. Seine akademische Ausbildung setze sich an der Universität Freiburg fort, zunächst durch ein Masterstudium in Volkswirtschaftslehre (2006 bis 2009) und die anschließende Promotion zum Dr. rer. pol. (2009 bis 2015). Seine Forschungsschwerpunkte umfassen intergenerationelle Gerechtigkeit, distributive Gerechtigkeit, Ökologische Ökonomik, Wirtschaftswachstum sowie Theorie und Empirie eines Wahlrechts für Minderjährige. Seit 2015 ist er Mitglied der European Association of Environmental and Resource Economists.

Nils Goldschmidt, Jg. 1970, hat seit 2013 eine Professur für Kontextuale Ökonomik und ökonomische Bildung an der Universität Siegen inne. Zuvor war er Professor für Sozialpolitik und Sozialverwaltung an der Hochschule für angewandte Wissenschaften München (2010 bis 2013) und Professor (Vertretung) für Sozialpolitik und Organisation Sozialer Dienstleistungen an der Universität der Bundeswehr München (2008 bis 2010). Nils Goldschmidt studierte Katholische Theologie und Wirtschaftswissenschaften an der Universität Freiburg. Die Promotion zum Dr. rer. pol. erfolgte 2001, die Habilitation im Fach Volkswirtschaftslehre 2008, beides ebenfalls an der Universität Freiburg.  Er ist Vorsitzender der Aktions­gemeinschaft Soziale Marktwirtschaft e.V., Tübingen, Mitglied im Vorstand des Wilhelm Röpke Instituts e.V., Erfurt, Mitglied im Vorstand der Görres Gesellschaft, Bonn, und Affiliated Fellow am Walter Eucken Institut e.V., Freiburg.
Stephan Wolf, Jg. 1980, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Kontextuale Ökonomik und ökonomische Bildung an der Universität Siegen. Zuvor forschte und lehre er an der Universität Freiburg, zunächst an der Abteilung für Wirtschaftspolitik und Ordnungstheorie und anschließend an der Professur für Umweltökonomik und Ressourcenmanagement. 2006 erwarb er seinen Bachelor-Abschluss im Fach Environmental and Resource Management an der BTU Cottbus. Seine akademische Ausbildung setze sich an der Universität Freiburg fort, zunächst durch ein Masterstudium in Volkswirtschaftslehre (2006 bis 2009) und die anschließende Promotion zum Dr. rer. pol. (2009 bis 2015). Seine Forschungsschwerpunkte umfassen intergenerationelle Gerechtigkeit, distributive Gerechtigkeit, Ökologische Ökonomik, Wirtschaftswachstum sowie Theorie und Empirie eines Wahlrechts für Minderjährige. Seit 2015 ist er Mitglied der European Association of Environmental and Resource Economists.


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