Golowanow | Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 523 Seiten

Golowanow Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens


1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-88221-117-7
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 523 Seiten

ISBN: 978-3-88221-117-7
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Reise ins Herz Russlands Mit unerhörter Intensität beschreibt der Journalist und Schriftsteller Wassili Golowanow seine Reisen auf die Insel Kolgujew, in der östlichen Barentssee. Er entwirft eine von Mythen, Märchen und Legenden getränkte Sinfonie der Region, die sich aus geologischen, mythischen und historischen Elementen zusammensetzt. Seine Reisen führen ihn nicht nur auf eine karge Insel, deren Bewohner von Rentierzucht leben und auf der Erdöl gefördert wird, sondern auch in eine archaische Welt, in der er nach erschütternden Lebenskrisen zu sich selbst kommt. Bis hinein in die Beschreibungen der tief berührenden und die Menschenangelegenheiten in ihrer Schönheit übersteigenden Natur großartig übersetzt, entfaltet sich diese moderne Sage - die wie nebenbei auch ein Lob der Freundschaft ist - wie ein reicher tiefer Fluss, auf dem der Leser in die unerhörten Dimensionen Russlands und der Seele vordringt.

Wassili Golowanow, geboren 1960 in Moskau, ist Journalist, Schriftsteller und Fotograf. Er arbeitet für verschiedene Literaturzeitschriften und veröffentlichte zahlreiche Bände mit preisgekrönten geopoetischen Essays und Reportagen.

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Nacht
Im eisigen Hotelzimmer. Unter zwei Decken. In wollenen Trainingshosen. Vor den Fenstern eine Regennacht. Wozu? Wozu das Ganze? Ich will essen, spüre ich plötzlich, heiß duschen. Was suche ich? Die Insel? Aber sie wurde längst vor mir entdeckt. Die Insel ist mein absurder Einfall, man braucht keine große Phantasie, um sich auszumalen, was einen dort erwartet. Flache Weite. Tundra. Ein grauer niedriger Himmel mit dunklen Wolken, wie aufgepflügtes Ackerland. Eine trübe blecherne Sonne, die kein einziges Mal hinter den Wolken hervorkommen wird. Im Wind zitternde kümmerliche Grashalme und – Triumph sommerlicher Prachtentfaltung – Echte Kamille … Feuchtigkeitsgeruch, allenthalben Moore, und eine Küste, wo es nach nichts als Lehm riecht, weil das Wasser, gelb und eisig, aus irgendeinem Grund keinen Geruch hat. Ansonsten dürfte alles wie hier in Narjan-Mar sein, nur noch schlimmer. Dieselbe Kälte, dasselbe Elend. Den zweiten Tag schon gibt es im Hotel weder Heizung noch Wasser. Ich hole das Wasser draußen am Hydranten mit dem Kochkessel. Morgens reicht es, um sich zu waschen, die Toilettenschüssel nachzuspülen und Tee zu kochen, abends: um sich zu waschen, sich feucht mit dem Handtuch abzureiben, die Toilettenschüssel nachzuspülen, Tee zu kochen. Im ersten Stock gibt es eine Tür mit der Aufschrift »Buffet«. Geöffnet habe ich sie bisher noch nicht erlebt. Obwohl es ein neues und das teuerste Hotel der Stadt ist. Das beste … Ich murre schon wieder. Nachts ziehen einem kleinmütige Gedanken durch den Kopf, fischschwarmgleich. Manchmal ist der Schwarm größer, manchmal kleiner. Manchmal lässt sich gar nichts denken, so sehr wimmelt und flimmert alles von tausenderlei Befürchtungen, als schnellten kleine Heringe umher. Alles nur, weil ich gezwungen bin, in einer fremden Stadt auf den Hubschrauber zu warten. Außerdem können Moskauer nicht warten. Am wenigsten Journalisten. Ich weiß: Die richtigen Gedanken kommen einem erst im Nachhinein. Wenn alles abgeschlossen ist. Und es ist völlig sinnlos, diesen Fischschwärmen hinterherzudenken. Aber ich habe eine Kieferhöhlenentzündung. Und ich leide unter der Kälte. Dazu noch dieser Regen tagaus, tagein. Außerdem, was hat Korepanow gleich noch über diese angeblich auf der Insel existierenden parallelen Zeiten gesagt – die nüchterne und die betrunkene? Dass man in letztere besser nicht geraten solle … Und dass, je interessanter und einnehmender ein Mensch in nüchternem Zustand sei, desto entsetzlicher in betrunkenem … Entgegen dem ersten Anschein sind diese Dingen von fundmentaler Bedeutung. Korepanow weiß, wovon er spricht: er hat auf der Insel drei Jahre als Vorsitzender verbracht. Irgendwie ist mir seine Schilderung unvergesslich, wie die Insel im Frühling zu neuem Leben erwacht: Die Märzsonne übergießt die Eismassen mit einem reinen, rosigen Licht, und in der ohrenbetäubenden Stille schlägt plötzlich in einer dunklen Wasserrinne der Weißwal mit seiner Schwanzflosse. Auch von irgendwelchen unterirdischen Menschen hat er erzählt. Und vom Messer. Das Messer … Darauf war ich am wenigsten gefasst. Offen gestanden macht mir das Angst. Die romantische Idee meiner Reise hat sich als trügerisch erwiesen: Es gibt nichts, was weniger romantisch wäre als der Hohe Norden heute. Ich befürchte inzwischen, dass ich das, was ich zu finden hoffte, nicht finden werde. Omnia praeclara rara.2 Ich war vorgewarnt durch die antiken Autoren. Und in zweitausend Jahren abendländischer Geschichte hat sich wenig geändert – höchstens drücken wir heute die alten Wahrheiten in neuen Sprachen aus: »Beauty is a rare thing.«3 Sogar in der Musik, verdammt! Nach dem, was ich über den Hohen Norden gelesen habe, schien es möglich, hier Spuren einer gewissen uranfänglichen Schönheit zu entdecken. Aber aus dem, was ich inzwischen erfahren habe, ist klar, dass ich am ehesten auf etwas sehr Bedrückendes stoßen werde, wenn nicht gar Bedrohliches wie dieses Messer in der Hand eines Betrunkenen. Schon wieder. Wieder der Fischschwarm. Weg damit! Hau mit dem Ruder aufs Wasser, auf deinem Floß im Hotelzimmerbett! Weg mit dir, du Kroppzeug, weg jetzt! Ich springe vom Floß herunter und gehe, die nackten Füße vorsichtig auf dem eisigen Grund aufsetzend, zum Fenster. Im dichten nächtlichen Regenschleier zeichnen sich die grauen Baracken von Narjan-Mar ab. Eine fremde Stadt, in der ich, weiß der Henker warum, gestrandet bin … Nein. Ich bin aus eigenem Antrieb gekommen. Auf der Suche nach etwas. Ich muss ruhig zu verstehen versuchen, wonach. Nach Sinngebungen. Nach Sinngebungen im menschlichen Leben. Das mag albern, ja schwülstig klingen, aber was tun, wenn wir mit der Sinnlosigkeit unseres Daseins konfrontiert werden? Denn der Krieg ist schließlich etwas Ernstes, ist blutigernster Widersinn. Tausende wurden ermordet. Haben einander umgebracht. Sich des Sinns beraubt. In der Nacht, als ich meinen Absprung auf die Insel machen wollte, waren Sumgait, Karabach, Baku die Orte der Katastrophe. Seither ist die Liste gewachsen, wie eine Krebsgeschwulst. Die Familie, das Heim, die Welt eines einzelnen Menschen, sein Fleiß und seine Freude wurden des Sinns beraubt, der Tod hält seine Ernte. Man muss der Wahrheit ins Auge sehen: muss den Armen in die Augen sehen, muss den verzweifelten Flüchtlingen in die Augen sehen und in die erkalteten Augen der Ermordeten. Das menschliche Leben ist keinen Heller wert. Echten Wert besitzt nur Macht. Und Geld. Und Rohstoff. Und Rüstung. Echten Wert besitzt seltsamerweise alles, was das Leben verunstaltet, entstellt, durcheinanderbringt, zerstört, daran hindert, sich zu erheben, was die Steine daran hindert, sich zu einem soliden Mauerwerk zu verbinden, die Schößlinge, eine kraftvolle Pflanze zu werden. Hass hat seine eigenen Gesetze. Wir leben wieder an einem Zeitenende. Ich glaube nicht an die »Menschenrechte«, aber ich glaube daran, dass die Menschlichkeit den Menschen ausmacht. Ein Ermordeter oder Entrechteter, ein seines Geschicks, seiner Bestimmung beraubter Mensch ist der Triumph von Widersinn und Tod. In wessen Namen wurde nicht Blut vergossen! Selbst im Namen des Herrn. Um einander stärker zu hassen rufen die Entrechteten den an, der die Menschen zur Menschheit sammelt. Mit Erfolg. Sie träufeln Hass in die Seele, pechschwarzen Hass. In die Seele, die dazu verdammt ist, Gefäß zu sein – wenn nicht der Liebe, so des Hasses. Wenn nicht des Sinns, so des Widersinns. Was habe ich damit zu tun? Vor zwei Tagen sah ich einen Mann, der, eine kurze Regenpause nutzend, eine lange Stange mit einem neuen Starenkasten obenauf an der Wand eines Hofschuppens annagelte. Als er fertig war, schlug er mehrmals mit dem Hammer leicht auf die Köpfe der fest ins Holz gehauenen Nägel und strich befriedigt mit der flachen Hand über die Stange, sich gleichsam vergewissernd, etwas Gutes vollbracht zu haben. Ich war unterwegs zu einer Gaststätte am anderen Ende der Stadt und fror entsetzlich, bestimmt des Hungers wegen, weshalb ich sofort dachte, die Stare werden die Gastfreundschaft dieses Mannes wohl kaum annehmen, die Sommer hier sind doch gar zu kurz und nasskalt. Außerdem war ja schon August und der Nachwuchs längst großgezogen, Zeit für den Abflug, nicht für die Suche nach einem Nistplatz. Ich blieb stehen und fragte den Mann, ob Stare bis hierherauf kämen. »Nein, nie«, antwortete er ruhig, steckte seinen Hammer ein und ging, offenbar nicht geneigt, das unnütze Gespräch fortzusetzen, zum Haus hinüber. War sein Tun also absurd? Nein. Es war seine Erinnerung an die Freuden des auf rudernden Starenflügeln aus Indien und Persien herannahenden Frühlings, an die Stimmen des Lebens, die, rein wie ein Quell, heiter im elterlichen Garten schlugen oder im Gehölz am Rande des vorzeiten verlassenen Städtchens, wo das Vogelgezwitscher im jungen Grün der Bäume hin- und herbrandet wie ein Echo. Kein Star wird je seinen Brutkasten aufsuchen. Der Kasten aber ist sein Gebet. Mit dem er um Fülle bittet, um das Fluten des Lebens im Frühjahr. Worum bittet der Maschinengewehrschütze, der den Abzug durchzieht? Um den Tod. Darum, dass seinesgleichen, die Entrechteten, mehr werden – denn nur sie, die mit der Wurzel aus dem eigenen Boden Gerissenen, die ihre Bestimmung verloren haben, sind fähig, das Brot des Hasses miteinander zu teilen. Hier, in Narjan-Mar, habe ich aus dem Radio vom Beginn des Abchasien-Krieges erfahren. Von Freischärlern und irgendwelchen Regierungstruppen, von einem Luftangriff auf Suchumi aus getarnten Bombern, von mit Maschinengewehrsalven niedergemachten Affen aus dem dortigen Forschungsinstitut … Aus unerfindlichem Grund hat mich das besonders berührt … Ich weiß: Nach allem, was später in Zentralasien und Tschetschenien geschehen ist, sollte man sich verbieten, von den Affen zu reden. Und doch … Der gibraltarische Volksglaube,...


Wassili Golowanow, geboren 1960 in Moskau, ist Journalist, Schriftsteller und Fotograf. Er arbeitet für verschiedene Literaturzeitschriften und veröffentlichte zahlreiche Bände mit preisgekrönten geopoetischen Essays und Reportagen.



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