E-Book, Deutsch, Band 219, 320 Seiten
Gorki Meine Kindheit
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-641-28759-7
Verlag: Anaconda Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 219, 320 Seiten
Reihe: Große Klassiker zum kleinen Preis
ISBN: 978-3-641-28759-7
Verlag: Anaconda Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Das Leben meint es nicht gut mit dem kleinen Alexej: Seine Mutter lässt ihn zurück, sein Großvater setzt ihm übel zu. Nur bei der Großmutter findet er Güte und Geborgenheit und durch sie einen Weg hinaus aus Elend und Bigotterie. Maxim Gorkis ungeschönter Rückblick auf seine ersten zehn Lebensjahre ist das berührende Porträt einer Zeit, eines Milieus, einer Familie und eines Kindes und darin ein einprägsames, bildhaft erzähltes Werk voller Strahlkraft.
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1
In dem halbdunklen, engen Zimmer liegt auf dem Fußboden dicht am Fenster mein Vater, in ein weißes Gewand gehüllt und ungewöhnlich lang; die Zehen an den nackten Füßen spreizen sich seltsam, auch die Finger an den gütigen, friedlich auf der Brust ruhenden Händen sind gekrümmt; seine sonst so fröhlichen Augen sind von den schwarzen runden Scheiben der Kupfermünzen bedeckt, das freundliche Gesicht ist dunkel und ängstigt mich durch die drohend grinsenden Zähne. Die Mutter, nur halb bekleidet, im roten Unterrock kniet auf der Erde und kämmt das lange, weiche Haar des Vaters mit einem schwarzen Kamme, der mir sonst zum Zersägen der Melonenschalen diente, von der Stirn nach dem Nacken zurück; die Mutter spricht ununterbrochen irgendetwas mit tiefer, heiserer Stimme, ihre grauen Augen sind verschwollen, und wie die Tränen so in großen Tropfen niederrinnen, scheint es fast, als ob die Augen zerschmölzen. Mich hält die Großmutter an der Hand, eine rundliche Frau mit einem mächtigen Kopfe, in dem die großen Augen und die komisch geformte Nase auffallen; sie ist ganz schwarz und hat so etwas Weiches, und sie interessiert mich ungemein. Auch die Großmutter weint, auf eine ganz eigne, gutherzige Art, wie um der Mutter Gesellschaft zu leisten; sie zittert dabei am ganzen Leibe und zieht und stupft mich zum Vater hin; ich stemme mich dagegen und verstecke mich hinter ihr, denn mir ist so bange, so unheimlich zumute. Ich hatte noch niemals erwachsene Leute weinen sehen und verstand nicht, was die Großmutter mehrmals wiederholte: »Nimm Abschied von deinem Vater, du wirst ihn nie wiedersehen! Er ist gestorben, mein Junge, ganz plötzlich, und viel zu früh.« Ich war schwerkrank gewesen und eben erst wieder auf die Beine gekommen. Während meiner Krankheit hatte sich mein Vater, wie ich mich wohl erinnere, viel um mich zu schaffen gemacht; er war dabei stets heiter gewesen – dann war er plötzlich verschwunden, und statt seiner war die Großmutter, diese merkwürdige Frau, gekommen. »Woher bist du denn gekommen?«, fragte ich sie. »Von oben herunter, von Nishnij.« »Bist du gegangen?« »Auf dem Wasser kann man doch nicht gehen! Gefahren bin ich natürlich. Sei jetzt still.« Ich wusste nicht, wie ich ihre Rede verstehen sollte. In unserem Hause wohnte oben ein langbärtiger Perser und unten, im Keller, ein alter, gelber Kalmücke, der mit Schaffellen handelte – da konnte man wohl, um von einem zum andern zu kommen, »von oben« auf dem Geländer herunterfahren oder auch, wenn man abstürzte, herunterkugeln; aber was hatte das Wasser damit zu tun? Nein, es war entschieden etwas unrichtig in dem, was die Großmutter sagte. »Warum soll ich still sein?«, fragte ich sie. »Weil man hier nicht herumlärmen darf«, antwortete sie gutmütig. Es war etwas Freundliches, Heiteres, Herzgewinnendes in ihrem Wesen. Gleich vom ersten Tage an hatte ich mich mit ihr befreundet, und nun möchte ich, dass sie mit mir so rasch wie möglich dieses Zimmer verließe. Das Verhalten der Mutter bedrückt mich: Ihr Weinen und Wehklagen hat in mir ein neues, beunruhigendes Gefühl ausgelöst. Ich sehe sie so zum ersten Male – sie war sonst immer so streng, sprach wenig und war so groß, so sauber und glatt wie ein Pferd; sie hatte einen festen Körper und schrecklich starke Arme. Und jetzt bot sie einen so unangenehmen Anblick: Ganz geschwollen und zerzaust war sie, und alles an ihr war Unordnung. Das Haar, das sonst glatt gekämmt war und wie ein großer, schimmernder Kranz ihren Kopf umgab, fiel ihr teils ins Gesicht, teils auf die bloßen Schultern, und die eine, noch in einen Zopf geflochtene Hälfte baumelte gar auf das schlummernde Gesicht des Vaters hinunter. Ich stehe schon eine ganze Weile im Zimmer, sie hat mich jedoch nicht ein einziges Mal angesehen – sie kämmt den Vater und weint und schluchzt dabei in einem fort. Schwarze Männer, die von einem Polizisten geführt werden, blicken zur Tür herein. »Macht ihn rasch fertig!«, ruft der Polizist barsch ins Zimmer. Das Fenster ist mit einem dunklen Tuch verhängt, das sich wie ein Segel bläht. Ich war einmal mit dem Vater auf einem Boote mit solch einem Segel gefahren. Plötzlich erdröhnte ein Donnerschlag; der Vater lachte, drückte mich fest mit den Knien zusammen und rief: »Hab’ keine Angst, es tut dir nichts!« Plötzlich warf sich die Mutter schwerfällig in die Höhe, sank jedoch sogleich wieder zusammen und fiel, mit dem Haar den Fußboden fegend, hintenüber, ihre Augen schlossen sich, das bleiche Gesicht wurde blau, die Zähne traten grinsend hervor, wie beim Vater, und mit schrecklicher Stimme rief sie: »Schließt die Tür! … Alexej – soll hinaus!« Die Großmutter schob mich zur Seite, stürzte nach der Tür und schrie den Männern zu: »Fürchtet euch nicht, meine Lieben! Rührt sie nicht an, um Gottes willen, geht fort! Es ist nicht die Cholera – die Wehen sind’s erbarmt euch, ihr guten Leute!« Ich versteckte mich in dem dunklen Winkel hinter dem Kasten und sah von da aus, wie die Mutter sich ächzend und mit den Zähnen knirschend am Boden wand, während die Großmutter, geschäftig um sie herumtrippelnd, voll Güte und Freude sprach: »Im Namen des Vaters und des Sohnes … Trag’s in Geduld, Warjuscha! … Heilige Mutter Gottes, Fürbitterin …« Ich war in heller Angst: Sie trieben da auf dem Fußboden ihr Wesen, ganz dicht neben dem Vater; sie stießen gegen ihn an, sie stöhnten und schrien, und er lag unbeweglich da und schien zu lachen. Es dauerte eine ganze Weile, dieses Hin und her auf dem Fußboden; immer wieder versuchte die Mutter sich zu erheben, und immer wieder sank sie zurück; die Großmutter schnellte aus dem Zimmer wie ein großer, weicher, schwarzer Ball, und dann ertönte plötzlich im Dunkeln der Schrei eines kleinen Kindes. »Ehre sei Dir, o Herr!«, sprach die Großmutter. »Ein Junge ist’s!« Und sie zündete eine Kerze an. Ich muss wohl in meinem Winkel eingeschlafen sein – denn ich weiß nichts weiter von den Ereignissen jenes Tages. Ein zweites Erinnerungsbild, das sich meinem Gedächtnis eingeprägt hat: Ein regnerischer Tag und ein öder Winkel auf dem Friedhof; ich stehe auf einem schlüpfrigen Erdhügel und blicke in die Gruft, in die man den Sarg mit dem Vater hinabgelassen hat; auf dem Boden der Gruft ist viel Wasser. Am Grabe stehen außer mir noch die Großmutter, der Polizist, der ganz durchnässt ist, und zwei brummige Männer mit Schaufeln. Ein warmer Regen, so fein wie kleine Glasperlen, sickert auf uns nieder. »Schaufelt das Grab zu«, sagt der Polizist und entfernt sich. Die Großmutter weinte und barg das Gesicht in dem Zipfel ihres Kopftuches. Die beiden Männer beugten sich vor und begannen hastig die Erde in die Gruft zu werfen. Das Wasser gluckste auf. »Geh da fort«, sagte die Großmutter und fasste mich an der Schulter; ich entschlüpfte ihrer Hand – ich wollte noch bleiben. »Was bist du doch für ein Junge, ach du lieber Gott!«, klagte die Großmutter in einem Tone, der es unentschieden ließ, ob sie sich über mich oder über den lieben Gott beklagte. Lange stand sie da, schweigend, mit gesenktem Kopfe: Das Grab war bereits bis an den Rand zugeschüttet, und sie stand immer noch da. Die beiden Männer klatschten mit den flachen Schaufeln laut auf die Graberde; ein Wind erhob sich und vertrieb den Regen. Die Großmutter nahm mich bei der Hand und führte mich zu der ein ganzes Stück abliegenden Kirche, zwischen die dicht stehenden dunklen Grabkreuze. »Warum weinst du denn gar nicht?«, fragte sie mich, als wir bereits den Friedhof verlassen hatten. »Du solltest doch ein bisschen weinen!« »Ich hab’ keine Lust«, sagte ich. »Nun, wenn du keine Lust hast, dann lass es«, sagte sie leise. Ich weinte als Kind nur selten, und zwar immer nur, wenn ich mich gekränkt fühlte, nicht, wenn ich Schmerz empfand; der Vater lachte immer über meine Tränen, die Mutter aber schrie mich an: »Du, dass du mir nicht heulst!« Dann fuhren wir in einer Droschke zwischen dunkelroten Häusern über die breite, sehr schmutzige Straße. Einige Tage darauf fuhren wir – ich, die Großmutter und die Mutter – in der kleinen Kajüte eines Dampfers auf einem großen Wasser dahin; mein neugeborener Bruder Maxim war gestorben und lag, in weißes Linnenzeug gewickelt und mit einem roten Band umwunden, auf einem Tische in der Ecke. Ich war auf die Bündel und Koffer geklettert und sah durch das vorspringende runde Fenster, das ganz einem riesigen Pferdeauge glich. Hinter dem nassen Glase flutete ohne Aufhören das trübe, schäumende Wasser. Ab und zu schlug es, das Glas beleckend, gegen das Fenster. Ich springe unwillkürlich auf den Fußboden. »Hab’ keine Angst«, sagt die Großmutter, hebt mich mit ihren weichen Händen leicht empor und stellt mich wieder auf die Bündel. Über dem Wasser liegt ein grauer, feuchter Nebel; irgendwo in der Ferne erscheint das dunkle Ufer und verschwindet wieder in Nebel und Wasser. Alles ringsum zittert und bebt – nur die Mutter steht fest und unbeweglich an die Kajütenwand gelehnt, die Hände im Nacken. Ihr Gesicht ist dunkel, wie von Eisen, die Augen sind fest geschlossen; sie schweigt beharrlich und ist überhaupt eine andere, neue – selbst das Kleid, das sie trägt, ist mir unbekannt. Immer wieder sagt die Großmutter zu ihr: »So iss doch etwas, Warja, wenn’s auch nur ’ne Kleinigkeit ist!« Sie schweigt und rührt sich nicht. Mit mir spricht die Großmutter nur im Flüsterton; mit der Mutter spricht sie lauter, doch...