E-Book, Deutsch, 994 Seiten
Gorki Meine schönsten Erzählungen
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-8496-1738-7
Verlag: Jazzybee Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 994 Seiten
ISBN: 978-3-8496-1738-7
Verlag: Jazzybee Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Gorki gehört ohne Zweifel zu den größten russischen Schriftstellern und hat auf ewig seinen Platz in der Literaturgeschichte des Landes. Dieser Band beinhaltet folgende Erzählungen: Ehemalige Leute In der Steppe Freunde Der Pilger Das Opfer der Langweile Die Sonne der Kerkerlinge Der rote Waska u.v.m.
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Wir verließen Perekop in der häßlichsten Seelenstimmung – hungrig wie Wölfe und böse auf die ganze Welt. Im Verlauf eines ganzen Tages hatten wir erfolglos alle unsere Talente und Anstrengungen in Anwendung gebracht, um etwas zu stehlen oder zu verdienen, und als wir uns endlich überzeugt hatten, daß uns weder das eine noch das andere gelang, entschlossen wir uns, weiterzugehen. Wohin? Überhaupt weiter.
Das war der einstimmige und von uns einander ausgesprochene Entschluß, aber wir waren auch bereit, in allen Beziehungen auf dem Lebenspfade weiterzugehen, auf dem wir schon lange gingen, – das war ebenfalls von jedem von uns schweigend beschlossen, und wurde es auch nicht laut ausgesprochen, so blitzte es doch aus dem finsteren Glanze unserer hungrigen Augen.
Wir waren unserer drei; erst unlängst waren wir bekannt geworden, als wir in Cherson, in einer Schenke am Ufer des Dnjepr, zusammentrafen.
Einer von uns war Soldat beim Eisenbahnbataillon gewesen, dann – Wegemeister an einer der Weichselbahnen, ein rothaariger, muskulöser Mensch mit kalten, grauen Augen; er konnte Deutsch sprechen und verfügte über eine sehr genaue Kenntnis des Gefängnislebens.
Unsereiner liebt es nicht, viel von seiner Vergangenheit zu sprechen, immer mehr oder minder triftige Gründe dafür habend, und deshalb glauben wir alle einander – wenigstens äußerlich; denn innerlich glaubt jeder von uns kaum sich selbst.
Als unser zweiter Gefährte, ein dürres, kleines Männchen mit dünnen, immer skeptisch vorgeschobenen Lippen, von sich sagte, daß er ein ehemaliger Student der Moskauer Universität sei – nahmen der Soldat und ich das für ein Faktum. In Wirklichkeit war es uns entschieden gleich, ob er irgendwann Student, Spitzel oder Dieb gewesen war. Wichtig war nur, daß er im Moment unserer Bekanntschaft uns gleich war. Er hungerte, genoß die besondere Aufmerksamkeit der Polizei in den Städten und ein mißtrauisches Verhalten der Bauern in den Dörfern, haßte jene und diese mit dem Haß des ohnmächtigen, verjagten, hungrigen Tieres, träumte von einer Universalrache an allen und allem, – mit einem Worte, er war sowohl durch seine Position unter den Herren der Natur und Beherrschern des Lebens wie durch seine Stimmung unseres Feldes Frucht.
Das Unglück – ist der dauerhafteste Zement für die Vereinigung der Naturen, selbst auch einander gerade entgegengesetzter; und von dem Rechte, uns für unglücklich zu halten, waren wir alle überzeugt.
Der Dritte war ich. Aus Bescheidenheit, die mir seit meiner Jugend eigen ist, sage ich kein Wort von meinem Wert und schweige auch von meinen Fehlern, da ich nicht naiv zu erscheinen wünsche. Aber meinetwegen, als Material zu meiner Charakteristik sage ich, daß ich mich stets für besser als andre hielt und erfolgreich bis heute damit fortfahre.
Und so hatten wir denn Perekop verlassen und gingen weiter, für diesen Tag die Schafhirten im Sinne habend, bei welchen man stets Brot erbitten kann, das sie wandernden Leuten sehr selten abschlagen.
Ich ging neben dem Soldaten, der »Student« schritt hinter uns. Auf seinen Schultern hing etwas, das an ein Jackett erinnerte; auf dem spitzen, eckigen, glattgeschorenen Kopfe ruhte der Überrest eines breitkrempigen Hutes; graue Hosen mit verschiedenfarbigen Flicken umspannten seine dünnen Beine, und zu Sohlen hatte er mit Bindfäden, die aus dem Unterfutter seines Kostüms gedreht waren, einen auf dem Wege gefundenen Stiefelschaft eingerichtet; er nannte dies Sandalen und ging schweigend, viel Staub aufwerfend, mit hin und wieder aufglänzenden, grünlichen, kleinen Augen. Der Soldat war mit einem roten Hemd aus Kumatsch bekleidet, das er, seinen Worten nach, »eigenhändig« in Cherson erworben hatte; über dem Hemd hatte er noch eine warme, wattierte Weste; auf dem Kopfe trug er nach Soldatenart eine Militärmütze von unbestimmbarer Farbe; um die Beine baumelten weite Pluderhosen, wie ein Tschumak sie trägt. Er war barfuß.
Ich war auch bekleidet und barfuß.
Wir gingen, und um uns breitete sich nach allen Seiten mit Riesenschwung die Steppe aus und lag da, bedeckt von der schwülen, blauen Kuppel des wolkenlosen Sommerhimmels, wie eine ungeheure, runde, schwarze Schüssel. In breitem Streifen durchschnitt sie der graue, staubige Weg und sengte unsere Füße. Stellenweise gerieten wir auf borstige Streifen gemähten Getreides, die eine merkwürdige Ähnlichkeit mit den lange nicht rasierten Wangen des Soldaten hatten.
Der Soldat ging und sang in heiserem Baß:
... Und deine heilige Auferstehung singen und rüh–ühmen wir ...
In seiner Dienstzeit hatte er etwas wie das Amt eines Vorsängers in der Bataillonskirche gehabt und wußte eine zahllose Menge von Hymnen, Lobgesängen und Kirchenliedern, deren Kenntnis er jedesmal mißbrauchte, wenn unsere Unterhaltung aus irgendeinem Grunde nicht in Fluß kam.
Vor uns, am Horizont, erstanden Figuren von weichen Umrissen, in freundlichen Schattierungen von lila zu zartrosa.
»Augenscheinlich sind das die Krimschen Berge,« sagte der »Student« mit trockner Stimme.
»Berge?« rief der Soldat aus, »du siehst sie sehr früh, Freund. Wolken sind es ... einfach Wolken. Siehst du, was für welche ... wie Moosbeerenkissél mit Milch ...«
Ich bemerkte, daß es höchst angenehm wäre, beständen diese Wolken wirklich aus Kissél. Das erweckte plötzlich unsern Hunger – den Zorn unserer Tage.
»Ach, Teufel!« schimpfte der Soldat los, indem er ausspuckte, »wenn einem doch eine lebende Seele in den Wurf käme! Aber niemand ... Man wird, wie die Bären im Winter, an den eigenen Tatzen saugen müssen ...«
»Ich hab' gesagt, wir müßten nach bevölkerten Orten gehen,« sagte der »Student« belehrend.
»Du hast gesagt!« ereiferte sich der Soldat. »Dafür bist du auch gelehrt, um zu sagen. Was für bevölkerte Orte gibt's hier denn? Weiß der Teufel, wo sie sind!«
Der »Student« schwieg, die Lippen vorschiebend. Die Sonne ging unter, und die Wolken am Horizont spielten in verschiedenfarbigen, mit Worten nicht zu beschreibenden Farben. Es roch nach Erde und Salz.
Und dieser trockene, schmackhafte Geruch steigerte unsern Appetit noch mehr. Im Magen sog es. Das war eine sonderbare und unangenehme Empfindung: es war, als liefen aus allen Muskeln des Körpers langsam die Säfte aus und verdunsteten, und als verlören die Muskeln ihre natürliche Geschmeidigkeit. Eine Empfindung stechender Trockenheit erfüllte Mundhöhle und Schlund, im Kopf wurde es trübe, und vor den Augen tauchten beständig vorüberhuschende, schwarze Flecke auf. Manchmal nahmen sie das Aussehen dampfender Stücke Fleisch oder Brotlaibe an; die Erinnerung versah diese »Erscheinungen des Vergangenen, diese stummen Erscheinungen«, mit den ihnen eigentümlichen Gerüchen, und dann war es, als drehe sich ein Messer im Magen um.
Wir gingen dennoch, indem wir unsere Empfindungen einander beschrieben, scharf Umschau haltend, ob nicht irgendwo eine Schafherde zu erblicken war, und lauschend, ob sich nicht das Knarren einer Tatarenarbá hören ließ, die Früchte nach dem armenischen Markt brachte.
Aber die Steppe war leer und lautlos.
Am Vorabend dieses schweren Tages hatten wir zu dreien vier Pfund Roggenbrot und fünf Arbusen gegessen, aber wir waren an vierzig Werst gegangen – die Ausgabe stimmte nicht mit der Einnahme! – und, eingeschlafen auf dem Marktplatz von Perekop, wachten wir vor Hunger auf.
Mit Recht hatte uns der Student geraten, uns nicht schlafen zu legen, sondern uns im Lauf der Nacht zu beschäftigen ... doch in anständiger Gesellschaft ist es nicht angebracht, laut von den Projekten der Verletzung des Eigentumsrechtes zu sprechen, und ich schweige. Ich will nur wahr sein, und in meinem Interesse liegt es nicht, grob zu sein. Ich weiß, daß die Leute in unsern hochkultivierten Tagen seelisch immer weicher werden, und selbst wenn sie ihren Nächsten an der Gurgel nehmen, mit der offenbaren Absicht, ihn zu erwürgen – so suchen sie dies mit der möglichsten Liebenswürdigkeit und mit Beobachtung allen im gegebenen Falle angebrachten Anstandes zu tun. Die Erfahrung meiner eigenen Gurgel veranlaßt mich, diesen Fortschritt der Sitten anzumerken, und mit dem angenehmen Gefühl der Überzeugung bestätige ich, daß sich alles in dieser Welt entwickelt und vervollkommnet. Im besondern wird dieser merkwürdige Prozeß schwerwiegend bestätigt durch die alljährliche Zunahme der Gefängnisse, Schenken und Häuser der Toleranz ...
Und so gingen wir durch die öde, schweigende Steppe, hungrigen Speichel schluckend und uns bemühend, durch freundschaftliche Unterhaltung den Schmerz im Magen zu unterdrücken, gingen in den rötlichen Strahlen des Sonnenuntergangs, voll unbestimmter Hoffnung auf etwas; vor uns ging die Sonne unter, leise versinkend in weichen, freigebig von ihren Strahlen gefärbten Wolken, und hinter uns und an den Seiten verengerte bläulicher Nebel, der von der Steppe zum Himmel aufstieg, den uns umringenden, unfreundlichen Horizont.
»Sammelt Material zum Feuer, Brüder,« sagte der Soldat, indem er irgendein Holzbröckchen...




