E-Book, Deutsch, 310 Seiten
Gottschalk Hartbitter
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-7526-0052-0
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Geschichten von Phantasten, Vorkämpfern und Glückssuchern
E-Book, Deutsch, 310 Seiten
ISBN: 978-3-7526-0052-0
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der Geschichtenband »Hartbitter« umfasst 13 Erzählungen, die vor Spannung triefen. Jede führt in eine andere Welt, wobei einige die Grenzen menschlicher Vorstellungskraft sprengen: Ein Zeitreisender aus dem Silicon Valley landet, ausgehend vom Jahr 2030, im Kaiserreich Österreich-Ungarn, eine Managerin aus den 50er Jahren schlägt dem Tod ein Schnäppchen und bleibt ewig jung. Ein Schriftsteller verschwindet als Winzling im Cyber-Space, ein alter Mann flieht vor einer totalitären Regierung, die das Lebensalter aufgrund der Energieknappheit im 22. Jahrhundert auf 50 Jahre begrenzt. Sogar ein in der Gegenwart angesiedelter Krimi mit einem Serienkiller ist unter den Stories. Die Hauptfiguren stehen vor den härtesten Prüfungen ihres Lebens und geben alles, um ihre Ziele zu erreichen. Manche scheitern, andere steigen wie Phönix aus der Asche empor. Einige Passagen regen zum Nachdenken an, andere zaubern ein Lächeln in das Gesicht des Lesers. Alle Geschichten nehmen eine Wendung und enden mit einer Überraschung.
Engelbert Gottschalk,1963 in Moers geboren, ist Stadtplaner und lebt mit seiner Frau in Düsseldorf. Seit 2017 widmet er sich der Schriftstellerei. Seine Erzählungen sind in der realen Welt angesiedelt, in die unerwartet das Fantastische einbricht. Szenen aus dem Alltag oder dem privaten Umfeld der Protagonisten wechseln ab mit surrealen Episoden. Die Erzählung »Die Friedhofswärterin« ist im November 2018 in der Anthologie »Versteckt liegende Friedhöfe und ihre Geheimnisse« bei Shadodex, Verlag der Schatten, erschienen. Ein Monat später kam die Geschichte »Liebe 2.0« in der Anthologie »Vollkommenheit« beim Hybrid Verlag auf den Markt. Weitere Veröffentlichungen u. a. in der Holland-Anthologie des Tausendundeins-Verlags (Op de Dam) sowie die Kurzgeschichte Angst² im Selbstverlag bei Amazon, das Drama über Jugendliche, die durch waghalsige Mutproben ihre inneren Dämonen zum Leben erwecken. Im November 2019 erblickte u. a. die Anthologie »Zartbitter - Geschichten von Nachtschwärmern, Traumtänzern und Pechvögeln« bei Books on Demand (BoD) das Licht der Öffentlichkeit.
Autoren/Hrsg.
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Das Refugium
Xellox kletterte den mit Kakteen überwucherten Wall herunter, der die Hüttensiedlung vor der Wildnis schützte. Er hatte Angst, sich zu verletzen, denn im stattlichen Alter von 50 Jahren hielten weder die Muskeln noch die Gelenke hohen Belastungen stand. Hinter dem Wall, in der Ebene, zerrieb der Greis zwei beim Abstieg abgestreifte Blütenknospen mit den Fingern bis zur Unkenntlichkeit. Er verharrte auf der Stelle und beobachtete das Gelände. Der abnehmende Mond tauchte die Landschaft in fahles Licht. Aus Furcht vor Verfolgern spurtete er los, nur weg von der Welt, in der es für ihn keinen Platz gab. Es dauerte nicht lange, bis ihn die Kräfte verließen. Er taumelte wie ein Betrunkener. Eine verrostete Eisenbahnschiene brachte ihn zu Fall. Ihm überkam das Verlangen, liegen zu bleiben und sich dem Schlaf, dem kleinen Bruder des Todes, hinzugeben. Die Verschnaufpause hauchte ihm neue Kräfte ein, seine Willensstärke besiegte den Feind im Innern. Mit blutverschmierten Handflächen richtete er sich auf, klopfte den Staub von der Kleidung ab und wankte durch die Steppenlandschaft. Der Mond verschwand hinter einer Wolkenfront. Bis auf das kniehohe Gras, das sich sanft im Wind wog, herrschte knisternde Stille. Die Schatten der Nacht sind meine Verbündete, dachte Xellox und setzte die Flucht fort. Trommeln dröhnten, ein Holzfeuer im Freien illuminierte den Horizont. Aus der Ferne erklang Wolfsgeheul. Haben die Biester meinen Körpergeruch gewittert? Der alte Mann hatte keine Wahl - die Wildnis mit den Raubtieren bot größeren Schutz als die Gruppensiedlung auf der anderen Seite des Walls. Er war nicht zum ersten Mal in dem Gebiet, hatte im Kindesalter hier gespielt – damals, als es Wälder gab und die Luft nach Blüten und Abenteuer duftete. Im Kopfkino poppten Bilder des ehemaligen Stahlwerks hoch, das einst hier gestanden hatte. Es war in den 90er Jahren des vorvergangenen Jahrhunderts zum Landschaftspark umfunktioniert worden – seinerzeit ein Diamant auf dem Dekolleté der Zeit. Xellox balancierte über einen Teersee, die Altlast einer Kokerei, die vor 250 Jahren für die Produktion von Rohgas genutzt worden war. Der See war an den Rändern mit dem Schutt jener Häuser aufgefüllt, die früher das Gelände begrenzt hatten. Der alte Mann setzte einen Schritt vor dem anderen, um nicht Gefahr zu laufen, in der breiigen Masse stecken zu bleiben. Es roch nach Benzin und Zweifel. Etwas blubberte, ein Reptil kraulte an ihm vorbei, wobei es sein linkes Hosenbein streifte. »Igitt!« Xellox vermied abrupte Bewegungen und kaute an den Fingernägeln. Mit verschlissenem Parka, an der Seite aufgerissenen Turnschuhen und blassblauer Jeans glich er einem Alt-Hippie, der seit ewigen Zeiten keine Dusche gesehen hatte. Die verfetteten, an den Schläfen herunterhängenden grauen Haare flatterten im Wind, der über die ausgedörrte Steppenlandschaft fegte. Am Hinterkopf schimmerte eine drei Zentimeter runde, kahle Stelle, eine Beule, die ihm Schmerzen bereitete. Hinter dem Teersee nahm die Festigkeit des Bodens zu. Der alte Mann stiefelte weiter, denn seine Flucht hatte eine Großfahndung ausgelöst. Ich darf nicht aufgeben. Ich bin es meiner verstorbenen Frau schuldig. Er gedachte ihrer, die vor zwanzig Jahren an COVID 23 gestorben war. Die Erinnerung an die Jahre der Partnerschaft malte Sonne in sein Gesicht, in dessen Falten sich alle Sorgen der Zeit spiegelten. 500 Taler für einen erlegten Greis – ein Vermögen in einer Epoche, in der bis auf die Clanchefs und den Parteigranden niemand etwas besaß. Die Bürger betrieben Tauschwirtschaft und litten Not. Die Nationalfront hatte die demokratisch gewählte Regierung durch einen Putsch vom Sessel der Macht vertrieben und eine Diktatur errichtet. Bürger, die das 50. Lebensjahr vollendet hatten, waren gesetzlich dazu gezwungen, sich in Internierungslagern einzufinden. Es gäbe nicht genug Nahrung für alle, hieß es. Niemand wusste, was mit den Alten geschah. Offiziell behauptete man, sie würden nach Grönland deportiert, der grünen Trauminsel im Nordatlantik, um beim Anbau von Gemüse zu helfen. Xellox hielt dies für eine Lüge, denn es gab Gerüchte, dass die Insel durch das Abschmelzen des Polareises auseinandergebrochen war. Der Wind wirbelte Staub auf, der aufgrund der Kontaminierung in den Augen ein Brennen verursachte. Der Flüchtling kramte einen zerknitterten Lageplan aus der Innentasche des Parkas hervor. Es bereitete ihm Mühe, die topografischen Symbole im Schummerlicht des Nachthimmels zu interpretieren. Er strich sich mit der Hand durch die Haare und schlug die Richtung ein, aus der das Wolfsgeheul ertönte. Das war besser, als sich der Gefahr auszusetzen, der Staatspolizei in die Hände zu laufen. Oder den Kopfgeldjägern, die ihren Lebensunterhalt mit der Ergreifung von Personen bestritten, die sich der Registrierung in den Lagern entzogen. Trotz der Brutalität der Jäger gab es keinen Widerstand gegen die willkürliche Begrenzung des Lebensalters. Xellox führte diesen Umstand darauf zurück, dass die meisten Menschen vor Erreichen der Altersgrenze verstarben. Hinter ihm brach das Totholz eines Baumes, der aufgrund der Trockenheit vor Jahren entwurzelt worden war. Er spürte den Atem eines Menschen, unfähig, sich einen Millimeter von der Stelle wegzubewegen. Jemand legte eine kalte Hand auf seine Schulter, eine Gestalt, die ihm in den Trümmern aufgelauert hatte. Das ist mein Ende! Mit dem Mut der Verzweiflung versuchte er, der Gestalt mit der Faust ins Gesicht zu schlagen. Sie duckte sich weg und wich dem Hieb aus. Wie in Trance schwankte sie auf Xellox zu, der sofort realisierte, wer ihn angriff: eine Greisin mit Armen, dünn wie die eines Kindes. Die verlumpten Kleider schlotterten um Beine und Hüften. Sie zitterte am ganzen Körper, an den nackten Unterarmen zeichneten sich Kratzspuren ab. Die rechte Wange und die Stirn waren verdreckt, nur das Weiße in den Augen leuchtete. Ihr Atem ging flach, stoßweise, als ob die Luft nicht bis in die Lungen gelangte. Xellox befürchtete, genauso verwahrlost wie sie auszusehen. Es gab nirgends Spiegel, die Fensterscheiben von Häusern oder Bürogebäuden waren dem Vandalismus zum Opfer gefallen. Vermutlich zählt sie genau wie ich 600 Monde. Schlachtvieh! Da von der Jammergestalt keine Gefahr ausging, beruhigte er sich. Sie zupfte an ihrer Felljacke und musterte ihn von unten bis oben. Blicke kreuzten sich, niemand sprach ein Wort, Misstrauen regierte. Xellox hätte gerne gewusst, was sie dachte, wie er auf die Fremde wirkte, aber sie stand nur da, wandte den Blick von ihm ab und fixierte einen Punkt am Horizont, als ob sich dort das Tor zu einer besseren Welt befände. Um den Anlass ihres nächtlichen Fußmarsches aufzudecken, brach er nach zwei Minuten das Schweigen mit sechs Wörtern: »Was treibt dich… in diese Einöde?» Anstatt zu antworten, versuchte die Greisin, ihre verfilzten Haare auseinanderzuziehen. Er sah ihren zuckenden, spröden Lippen an, dass sie seit ewigen Zeiten kein Wort gesprochen hatte. Nach einer nicht enden wollenden Gedankenpause flüsterte sie: »Dasselbe könnte ich dich fragen! Verschwinde aus dieser Hölle, solange du laufen kannst! Im hohen Gras und in den Schuttbergen lauern ausgehungerte Kreaturen, die uns nach dem Leben trachten.» »Hinter dem Schutzwall ist es für uns noch gefährlicher«, mahnte er und zog die Stirn in Falten. »Ich habe als Jugendliche davon geträumt, im Garten Gemüse anzubauen und im Herbst bei der Weinlese zu helfen. Ich ziehe das Vegetieren im Lager dem Existenzkampf in der Wildnis vor«, sagte sie, wobei ihr Blick an seiner Wasserflasche hängen blieb. »Ich bezweifle, ob du jemals die Chance erhältst, dort die Früchte deiner Arbeit zu ernten.« Xellox gab ihr seine Wasserflasche - das Einzige, was er besaß, und küsste sie auf die Wange. Sie zuckte zusammen, kicherte in sich hinein und sagte: »Oh! Was war das denn? Mich hat seit Jahren niemand berührt, geschweige denn geküsst.« Der alte Mann fasste Vertrauen und stellte eine Frage, die ihm gleich nach ihrem Erscheinen auf dem Herzen gelegen hatte: »Kommst du aus dem Refugium oder sagt dir der Begriff etwas?« »Nein, nie gehört! Merkwürdiger Name. Was verbirgt sich hinter dieser Bezeichnung?« »Ein unterirdisches Dorf, ein Labyrinth aus Gängen, Plätzen und Höhlenwohnungen, wo Menschen bis an ihr Ende in Frieden leben. Man sagt, dass immer dann, wenn ein Mensch das Refugium betritt, der Hass von ihm abfällt und die Liebe sein Herz erfüllt«. »Die Liebe? Dass ich nicht lache! Wer sich in dieser Dunkelwelt von Gefühlen leiten lässt, wird umgerissen wie ein Baum, der sich dem Sturm nicht beugt. Ich an deiner Stelle würde niemandem vertrauen...