E-Book, Deutsch, Band 431, 360 Seiten
Reihe: Die Andere Bibliothek
Grade Von Frauen und Rabbinern
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-8412-3257-1
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Zwei Erzählungen
E-Book, Deutsch, Band 431, 360 Seiten
Reihe: Die Andere Bibliothek
ISBN: 978-3-8412-3257-1
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Er ist einer der großen Dichter des jüdischen Wilna, und seine Erzählungen bergen Romane: Mit Chaim Grade (1910-1982) erscheint in der Anderen Bibliothek erstmals einer der bedeutendsten jiddischen Dichter und Erzähler des 20. Jahrhunderts.
In Wilna, heute Vilnius, im leuchtenden 'Jerusalem des Nordens', wurde Chaim Grade geboren, und von dort und der Enge der jüdischen Dörfer, den Schtetlech zwischen den Weltkriegen, erzählt er - ohne alle sentimentale Verklärung. Seine sinnlich-atmosphärischen Darstellungen der untergegangenen jüdischen Welt entfalten große persönliche und politische Dramen.
Die kultivierte Perele, Tochter des gelehrten Rabbis von Staripol, ist eine der eindrucksvollsten der vielen Frauengestalten in Grades Erzählungen: eine raffinierte Xanthippe. Als Erbin rabbinischen Adels will sie ihren gutmütigen Mann, Uri-Zwi Königsberg, vom schlichten Prediger zum angesehenen Rabbi befördern - mit Intrige, mit kaltem Kalkül und stummer Unerbittlichkeit. Hinter ihrem Ehrgeiz verbirgt sich ein peinigendes Lebensgeheimnis.
Ob hier, in der Erzählung Die Rebbezin, oder in Lejbe-Lejsers Hof: Der in Synagogen, Wohnungen oder Geschäften erbittert ausgetragene Streit um die religiösen Gebote, der 'Religionskrieg' zwischen Traditionalisten und Erneuerern, orthodoxen Eiferern und zionistischen Freidenkern bestimmt die Existenz aller und ist das große Thema von Chaim Grades Erzählkunst. Sein poetisches Gespür für die Träume und Sehnsüchte von Frauen in einer Welt voller Gebote und Verbote lassen ein lebendiges Bild des jüdischen Alltags entstehen.
Auf Lejbe-Lejsers Hof in Wilna sind sie alle vereint: Arbeiter und Handwerker, Fuhrleute, Metzger und Markthändler, Rabbiner und Asketen. Zu den Feiertagen wogt eine Menschenmenge in Festtagskleidung durch den Hof und im Bethaus treffen sich die ganz und die weniger Frommen. Gefangen in ihrer Welt der Vorschriften und Gesetze, an denen mitunter auch die eigenen Frauen irre werden, leben in Lejbe-Lejsers Hof der fanatisch gläubige Schlosser Hiskia mit seinen drei Töchtern, der Gärtner Schklar oder der Polsterer Moischele, dessen Frau Nechama den Scheidebrief nicht annehmen will. Familiendramen, Skandale, Schmerz und Scham - es braucht die Auslegung der Religionsgesetze. Es braucht den imposanten Rabbi Joel Weintraub und seine Frau, die Rebbezin Hindele. Sie werden gerufen, sich wieder einzumischen in die verworrene jüdische Welt.
Chaim Grade weiß viel: Zwischen 'es ist verboten' und 'es ist erlaubt' gibt es noch etwas anderes - schlichte Menschlichkeit. Von ihr erzählt er mit großer Einfühlung in seine Figuren.
Chaim Grade wurde am 4. April 1910 in Wilna geboren und gehört als einer der wichtigsten Autoren der jiddischen Literatur zu jener Generation, die im Bewusstsein aufwuchs, dass es große Lyrik und europäische Romane in jiddischer Sprache geben könne. In großer Armut
aufgewachsen, kam er mit dreizehn Jahren in litauische Lehrhäuser, erhielt eine orthodoxe jüdische Erziehung, las gleichwohl intensiv säkulare jiddische Literatur und veröffentlichte Lyrik und erzählende Epik. Im Juni 1941, mit der deutschen Besetzung von Wilna, floh er in
die Sowjetunion, Grades junge Frau und seine Mutter wurden umgebracht. 1946 kam er nach Paris und veröffentlichte mehrere Gedichtbände in jiddischer Sprache. 1948 ging er in die USA und begann in New York Romane, Novellen und Erzählungen zu verfassen, die vielfach
mit literarischen Auszeichnungen bedacht wurden und in denen er die traditionelle jüdische Welt Litauens verdichtet. Er starb 1982.
Weitere Infos & Material
1
Der Rabbiner von Graipewo und seine Frau waren in die Jahre gekommen. Ihre Kinder hatten sich gut verheiratet und wohnten in Horodno. R.Uri-Zwi Hakohen Königsberg war noch immer ein imposanter Mann, groß und breitschultrig, mit gekräuselten Schläfenlocken, die sich in seinen schneeigen Bart verirrten, und blauen naiven Augen. Obgleich er einen guten Ruf als Gelehrter und Prediger genoss, hatte er sich nie um ein bedeutenderes Rabbinat bemüht. Er verbrachte all seine Tage in Graipewo, haderte nicht mit der Gemeinde, herrschte über sie ohne Strenge, verzichtete darauf, den Mächtigen zu schmeicheln, und war stets bestrebt, Streit zu vermeiden. Wenn Kontrahenten zu ihm kamen, damit er Recht spräche, bestand er so lange darauf, dass sie die Sache unter sich abmachten, bis die Parteien sich einigten. Nur selten musste er ein Urteil fällen. Verlangten die Stadtväter von ihm, die Jugendlichen abzumahnen, die nicht mehr auf dem Pfad der Aufrechten wandelten, tadelte er die jungen Flegel nicht öffentlich in seinen Predigten vor der Gemeinde, sondern stieg vom Pult des Vorbeters herab und ging in ihre Ecke, um mit ihnen zu reden, oder er fand sie auf dem Marktplatz. An Beschwerden über die heutige Jugend fehlte es nicht: Sie entweihten den Schabbat, vergnügten sich am Flussufer mit den Mädchen und seien überhaupt ungezügelte Kerle. Der Rav sagte zu ihnen nur: »Wie lange ist man jung? Ihr werdet auch einmal älter und müsst euch dann das ganze Leben lang für diese Geschichten schämen. Was ihr treibt, passt nicht zu Kindern guter Eltern.« Er sprach so aufrichtig und mit so viel innerem Schmerz, dass sogar die Dreistesten es nicht über sich brachten, sich mit ihm anzulegen.
Sorgfältig sprach R.Uri-Zwi jedes Wort der Gebete, und Wort für Wort lehrte er nach dem Morgengebet die Mischna, so klar und gelassen, dass selbst ein Kind seinen Erklärungen hätte folgen können. In sich ruhend aß er, studierte, notierte seine neuen Einsichten in den Talmud und entwarf seine Predigten. Wenn er müde wurde, ging er auf dem Weg hinter dem Haus spazieren. Er legte die Hände auf den Rücken, pries halblaut den Schöpfer für den schönen Tag und ging in Gedanken vertieft seinen Weg. Kam ihm jemand entgegen, nickte er freundlich, ohne zu warten, dass der andere ihn zuerst grüßte, und spazierte summend und frohen Herzens weiter.
Kam jedoch sichtlich besorgt ein Familienvater auf ihn zu und rief: »Rabbi, ich brauche Euren Rat«, wurde auch R.Uri-Zwi sorgenvoll und hörte dem Mann auf der Stelle zu, mitten auf dem Weg hinter dem Städtchen. Er nahm den Geängstigten mit nach Hause, zog sich mit ihm in ein Zimmer zurück und hörte ihm zu, bis jener sein Herz ganz ausgeschüttet hatte und getröstet wegging. Sogar den Streithälsen im Städtchen nötigte es Achtung ab, dass der Rav nicht größerem Ruhm nachjagte. Der Gemeindevorsteher sprach ihn einmal direkt darauf an: »Der Rav, er soll leben, ist uns lieb und teuer. Graipewo will ihn auf keinen Fall verlieren. Aber wie kommt es, dass der Rav selbst sich nie um eine größere Gemeinde bemühte, wie andere Rabbiner es tun?«
»Ich habe nichts gegen Graipewo«, erwiderte der Rav. »Als unsere Kinder klein waren, machten wir uns Sorgen um ihre Ausbildung. Aber sie wurden mit Gottes Hilfe erwachsen und haben sich gut verheiratet. Jetzt sind wir nur noch zwei Leutchen, ich und meine Frau. Wozu brauchen wir da ein größeres Haus und eine Stadt mit einem halben Dutzend Synagogen? Kann man in mehr als einem Zimmer schlafen und in mehr als einer Synagoge beten?«
Diese Antwort machte den Rav im Städtchen noch beliebter. Denn in Graipewo wusste man, R.Uri-Zwi verschwieg, dass seine Frau ihn ständig triezte, er möge die Stelle wechseln.
Die Rebbezin Perele war in Aussehen und Charakter das genaue Gegenteil ihres Mannes. Sie war klein mit schmalen Schultern und dünnen Armen, hatte kalte, kluge, forschende Augen und die hohe Stirn eines Rabbiners, ein Erbe ihres Vaters, R.Ascherl Broido, der Gaon von Staripol. Perele litt an Kopfschmerzen, nervöser Anspannung, Sodbrennen und schlechter Laune. Sie besaß einen ganzen Schrank voll Arzneifläschchen und lag manchmal tagelang auf dem Sofa, den Kopf in ein nasses Handtuch gewickelt. Sie sog an Zuckerwürfeln, die mit Valerian beträufelt waren, und schlürfte Medizin von kleinen Löffeln. Die Frauen in der Stadt meinten, sie habe gar nichts und sei gesund wie ein harter, bitterer Rettich. Die Krankheiten, die sie sich ausdachte und einredete, rührten von ihrem sauertöpfischen Wesen. Graipewo war der Ansicht: So nett der Rav war, so garstig war seine Frau.
Nicht dass Perele sich darum scherte, was die Dörfler über sie sagten oder dachten. Sie hatte sich nie mit ihnen angefreundet. Wenn man ungebildete Leute zu nah an sich heranließ, setzten sie sich einem in den Pelz. Zu ihrem Mann sagte sie: Solange er jemandem stundenlang zuhörte, hielt dieser ihn für einen Heiligen. Aber sobald jener am nächsten Tag sah, dass der Rav auch einem anderen endlos zuhörte, hielt der erste Schwafler ihn für ein Weichei. Früher bei ihrem Vater, dem Staripoler Rav, und später bei ihrem Mann hörte Perele viele Lehrsätze aus der Gemara, die sie glatt und gezielt anzuwenden wusste. Aber zum Beten in die Synagoge ging sie nur an Feiertagen und an jenen Schabbaten, an denen man den Monatsbeginn segnete. Niemand hätte sagen können, die Rebbezin gehöre zu den religiösen Fanatikern. Das hielt sie allerdings nicht davon ab, sich bei ihrem Mann darüber zu beklagen, dass die Leute nicht vor ihm zitterten wie vor einem Kosakenführer mit Stock. Keine Frau der Stadt hatte so viele Kleider, Mäntel und Kopfbedeckungen wie Perele. Doch ihre Kleider waren alle im alten Stil geschneidert. Auch neue Kleider bestellte sie nach der alten Mode. Dafür hielt sie den Satz bereit: Der Unterschied zwischen einem alten hebräischen Buch und einem jiddischen Büchlein ist, dass man das Büchlein nach dem Lesen wegwirft, das alte Buch aber küsst und ins Regal stellt, um es ein Leben lang zu benutzen. Genauso sei es, verzeiht den Vergleich, mit Kleidern. Jene im alten Stil kann man immer tragen, aber Kleider nach der neuesten Mode trägt man heute, morgen wirft man sie weg.
Gesandte aus fernen Talmudhochschulen und Wanderprediger, die einen Schabbat im Städtchen verbrachten und beim Rav zu Gast waren, konnten die Rebbezin nicht hoch genug loben. Obwohl es sich eigentlich nicht schickte, dass Talmudgelehrte über die Frau eines anderen Mannes sprachen, machten die Gäste in diesem Fall eine Ausnahme und erzählten den Juden von Graipewo, ihre Rebbezin sei klug wie Berurja, die Frau des antiken Gelehrten R.Meir. Die Männer gingen nach Hause und erzählten es ihren Frauen. Doch die verzogen ihre Gesichter und sagten: »Angeberin! Sie will nur beweisen, dass sie klüger ist als ihr Mann und daheim das Zepter schwingt.«
Schon in den ersten Ehejahren hatte die Rebbezin ihrem Mann gelegentlich zugesetzt, ein angeseheneres Rabbinat zu suchen. R.Uri-Zwis Entgegnung war immer: Erstens, woher willst du wissen, dass ein anderes Städtchen besser ist als Graipewo? Und zweitens kam es selten vor, dass ein Rav eine Stelle in einer neuen Gemeinde antrat, ohne dort großen Streit auszulösen. Warum sollten sie beide das auf sich nehmen? Zwar hatte Perele den Sumpf von Graipewo und seine Einwohner gründlich satt, sie hatte aber zugeben müssen, ihr Mann hatte nicht unrecht. Nun aber, da die Kinder verheiratet waren und in Horodno lebten, plagte sie ihn ununterbrochen, sie sollten dorthin ziehen.
R.Uri-Zwi zuckte die Achseln: »In Horodno gibt es schon einen Oberrabbiner und ein voll besetztes Rabbinisches Gericht.«
»Wer sagt denn, dass du ein Leben lang Rabbiner sein musst? Wir können einfach zu den Kindern ziehen.«
R.Uri-Zwi wollte nichts davon wissen und Perele verstand im Grunde noch besser als ihr Mann, dass Eltern, solange sie gesund waren und ihr Auskommen hatten, nicht bei den Kindern wohnen sollten. Sie ließ das Thema so plötzlich wieder fallen, wie sie davon begonnen hatte.
Die Graipewer Rebbezin wusste ganz gut, dass sie nicht nur wegen der Kinder nach Horodno ziehen wollte. Es gab noch einen anderen Grund. Er war ihr Geheimnis. Gott sei Dank kannte es niemand, nicht einmal ihr Mann. Auch vor sich selbst schämte sie sich, einzugestehen, dass ihre Gedanken immerfort um den Rabbiner von Horodno kreisten und sie ihren Mann ständig an ihm maß, an R.Mosche-Mordechai Eisenstadt, ihrem ersten Bräutigam.
Perele war das einzige Kind des Ravs von Staripol, R.Ascherl Broido, ein kleines Männchen mit fein gerunzeltem Gesicht, einer Haut wie Pergament und einem dünnen silbernen Bärtchen. Auch im Sommer trug er eine Winterjacke aus Pelz, denn ihm war immer kalt. Die Staripoler Juden wussten, dass man ihren Rav für einen Gaon hielt. Berühmte Rabbiner, große Juden mit weißen Bärten, Männer wie verschneite Eichen, kamen von weit her nach Staripol gefahren, um beim Rav einen Schabbat mit dem Studium des Talmuds zu verbringen. Mit den Leuten im Städtchen redete R.Ascherl fast nie. Er interessierte sich auch nicht für die Angelegenheiten der Gemeinde. Ein Rav, sagte er, sollte sitzen und lernen. An Leuten, die Gemeindekram kompetent erledigten, fehlte es nie, doch an Gelehrten schon. Die Leute hörten das mit Verdruss, trösteten sich aber mit dem Wissen, dass ihr Rav berühmt war und sich tatsächlich Tag und Nacht über die Gemara beugte.
Die Gemara und die...




