E-Book, Deutsch, 160 Seiten
Gräff Frau Zilius legte ihr erstes Ei an einem Donnerstag
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7317-0018-0
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 160 Seiten
ISBN: 978-3-7317-0018-0
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
In jedem Leben gibt es Momente, in denen etwas Unerwartetes geschieht. Momente wie Wunder. Oder Lebensphasen, in denen sich eine überraschende Abzweigung von eingetretenen Pfaden auftut und man sich selbst staunend zuschaut. Von diesen Momenten und Zuständen erzählt Friederike Gräff empathisch, lakonisch und mit nüchterner Komik.
Jede Erzählung ist ein eigener Kosmos, und in jedem herrschen eigene Regeln: Die stellvertretende Abteilungsleiterin Frau Zilius legt zu ihrem Befremden ein faustgroßes Ei, während sie eigentlich mit einer unschönen Personalangelegenheit beschäftigt ist. Inmitten eines Gottesdienstes fängt Sabine Kleinhans an, ihrer Kirchenbank zu entschweben – und damit einem Leben, eingeklemmt zwischen selbstherrlichen Arbeitskollegen und einem desinteressierten Ehemann. Bernward Kreutzträger beschließt an einem Mittwoch, sich einer Schafherde anzuschließen, weil ihn die Nähe anderer Menschen zunehmend zornig macht ...
Friederike Gräffs Erzählungen gehen an die Grenzen dessen, was wir für Alltag und Wirklichkeit halten, und öffnen so den Blick für die quälend-wunderbaren Rätsel unserer Existenz.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Meine Hoffnung und meine Freude
Sabine Kleinhans erhob sich zunächst in der Osterkirche in die Luft.
Es war das erste Mal, dass es geschah, und ihr Körper schwebte höchstens einen Zentimeter oberhalb der Kirchenbank. Außer ihr war nur der Küster da, der sich an den Blumen vor dem Altar zu schaffen machte.
Sabine Kleinhans hatte die Osterkirche in Eile betreten, weil sie auf dem Weg zur Arbeit gewesen war. Es sollte gelingen, wenigstens einmal am Tag zu beten, hatte sie im Vorübergehen gedacht, war umgekehrt und hatte sich in die letzte Kirchenbank gesetzt.
Sabine Kleinhans ging in ihren Gebeten nicht ins Detail. Sie legte Gott nicht die Abgründe dar, die sie ihm hätte darlegen können, solche des Zorns, der Gleichgültigkeit und anderer Art, denn es waren so viele, dass ihre Betrachtung sie müde machte. Sie erhoffte sich keine Lösung davon, und es war ihr unangenehm, sie noch einmal auszubreiten.
Sie dankte Gott dafür, dass sie mit Ausnahme eines kurzen Geschreis im Badezimmer nicht mit den Kindern gestritten hatte, und sie betete für ihre Großtante, die gerade einundneunzig geworden war und bei ihren Anrufen nicht mehr vorgab, einen Anlass zu haben.
»Ich wollte gern mit jemandem sprechen«, sagte die Großtante mit einer Stimme, die so zitterte wie die Schrift auf ihren Postkarten, und dann bedankte sie sich für eine Spieluhr, die ihr Sabine Kleinhans vor Jahren geschenkt hatte.
Sabine Kleinhans’ Körper erhob sich, als ihr Gebet sich ihrer Großtante zuwandte. Der Aufstieg war trotz der geringen Höhe, die sie erreichte, stockend, so, als zöge man sie mit einer Seilwinde allmählich hinauf.
Sabine Kleinhans hielt kurz inne, dann bat sie Gott um mehr Besucher für ihre Großtante, und nachdem sie dies getan hatte, sank ihr Körper zurück auf die Kirchenbank. Der Küster nahm welke Sonnenblumen aus der Vase vor dem Altar und verschwand in der Sakristei.
Sie kam etwas verspätet zur Arbeit, aber niemand nahm davon Notiz.
Sabine Kleinhans arbeitete in der Anzeigenabteilung einer Monatszeitung, die sich als radikal links verstand und deren Auflage über die Jahre immer weiter geschrumpft war. Inzwischen gab es neben ihr nur noch drei Redakteure statt wie früher sieben, und es schien nur eine Frage der Zeit, bis der Verlag das Blatt einstellen würde. Sabine Kleinhans teilte nicht immer die Meinungen, die darin verbreitet wurden, aber sie hatte Achtung davor, dass die Schreiber noch immer fragten, was Gerechtigkeit bedeute, obwohl sich die Antworten schlecht verkauften. Vor einem Jahr hatte die Redaktion in ein günstigeres Büro umziehen müssen und war nun Untermieter der Kommunikationsagentur fresh friends, die die Redakteure grämlich »foul friends« nannten.
»Fair is foul, and foul is fair«, summte der Chefredakteur, wenn er in die Teeküche kam, die sich alle Mieter teilten.
»Shakespeare«, sagte er, als Sabine Kleinhans ihn fragte, was das bedeute. »Das wusste man mal.«
Der Chefredakteur war ein kleiner fülliger Mann, der enge T-Shirts mit bunten Aufdrucken trug. Eines davon war flammend rot und zeigte ein durchgestrichenes Christuskreuz in einem Kreis, als wäre es ein Verkehrszeichen. Als Sabine Kleinhans es das erste Mal an ihm sah, hatte sie sich gefragt, ob das Design ihr galt, aber es erschien ihr unwahrscheinlich, da sie mit niemandem über ihre religiösen Angelegenheiten sprach.
Sabine Kleinhans war Mitglied der Osterkirchengemeinde, und etwa alle drei, vier Wochen besuchte sie dort die Gottesdienste. In der Regel war neben ihr nur eine Handvoll Besucher dort. Die Pastorin hieß Bogenschneider, sie war klein und drahtig und hatte einen praktischen Kurzhaarschnitt. Sie trug die Bibeltexte mit einer trockenen Sachlichkeit vor, die Sabine Kleinhans angenehm fand. Die Rachsucht Gottes, der erschlagene Kinder einforderte, und die Wundertaten Jesu wirkten dann auch für Frau Bogenschneider fremd, und das machte Sabine Kleinhans die eigene Befremdung leichter.
Frau Bogenschneider war nie mit einem Partner oder Partnerin in der Gemeinde gesehen worden, auch nicht mit Kindern. Manchmal erschien sie Sabine Kleinhans seltsam unwirklich, als existierte sie nur in der Osterkirche, wo sie sich sonntagmorgens am Altar einfand, im Talar und mit gestärktem Beffchen, um sich nach der Verabschiedung an der Kirchentür in Luft aufzulösen, den Talar ordentlich aufgehängt in der Sakristei zurücklassend. Dabei hatte Sabine Kleinhans Frau Bogenschneider einmal in einer Bäckerei getroffen, wo sie die Verkäuferin anherrschte, weil sie, so sagte Frau Bogenschneider, die Vorbestellung für zwei Hefezöpfe vergessen habe. Sabine Kleinhans war aus der Bäckerei gegangen und hatte so getan, als betrachtete sie die Auslage des benachbarten Telefonladens, bis Frau Bogenschneider die Bäckerei verließ.
An einem Mittwochabend erhob sich Sabine Kleinhans zu ihrer Überraschung und Freude während einer Andacht erneut in die Luft. Sie war zu spät gekommen und hatte sich in die letzte Bank geschlichen. Zwei Reihen vor ihr saß ein alter dürrer Mann in einem abgeschabten Anzug und in der Reihe neben ihr eine mollige Dame in einem gebatikten Kleid. Der alte Mann kam regelmäßig in den Gottesdienst und gab seine Kollekte in Papier verpackt in den Klingelbeutel. Einmal war eines der Papierstückchen neben den Beutel gefallen, und als sie es aufhob, faltete es sich auf und ein Knopf fiel heraus.
»Wie lieblich sind deine Wohnungen, Herr Zebaoth!«, las der Kirchenvorsteher, ein freundlicher Mann mit Schnurrbart vorne am Lektorenpult. »Meine Seele verlangt und sehnt sich nach den Vorhöfen des Herrn.«
Sabine Kleinhans fragte sich, ob dies auch für sie galt. Es war ihr ein Rätsel, wie sich die Menschen jahrhundertelang, und sei es nur aus Angst vor Strafe, mit Gott und dem, was er von ihnen wollte, auseinandergesetzt haben konnten, und nun, da sie es nicht mehr taten, keine Lücke in ihren Leben klaffte. Aber zugleich war sie ungewiss, wie groß ihr eigenes Verlangen war. Es fehlte ihr an echtem Interesse und an ausreichend Hartnäckigkeit, um sich der Sperrigkeit von Kreuzigung und Auferstehung zu stellen. Wäre sie nicht getauft und konfirmiert worden in einer Zeit, als alle getauft und konfirmiert worden waren, hätte sie sich vielleicht irgendwann aufgemacht, eine Religion zu suchen, die ihr mehr entsprach. Sie war eine Zufallschristin, so wie sie eine Zufallsehefrau und Zufallsmutter war, und dass keine dieser Rollen zwingend war, irritierte sie.
Sabine Kleinhans achtete die Lauen nicht und war sich doch bewusst, dass sie selbst zu ihnen gehörte. Warum sollte Gott nicht auch die Lauen lieben?, dachte sie plötzlich. Er hat ja auch die Warm- und die Kaltblüter geschaffen, warum sollte er sie nicht zumindest hinnehmen?
Noch während sie sich dies fragte, spürte sie, wie sich ihr Kopf und ihre Schultern aufrichteten, als hätte sie jemand gerufen.
Dann erhob sich ihr Körper in sitzender Position mit einem kaum wahrnehmbaren Ruckeln, als begänne eine Seilbahn ihre Fahrt in die Höhe. Sabine Kleinhans erfüllte eine freudige Aufregung, und zugleich fürchtete sie, dass ihr Aufstieg diesmal auffallen würde.
Tatsächlich erhob sie sich etwa einen halben Meter, sodass sie knapp oberhalb der Lehne der Kirchenbank zum Halten kam. Die Gemeinde sang gerade das erste Lied, »Meine Hoffnung und meine Freude«. Sabine Kleinhans schwieg, weil sie fürchtete, dass ein Singen aus der Höhe ihre Position noch auffälliger machen würde. Sie vermied es, sich umzusehen.
In der letzten Strophe spürte sie einen leichten Aufprall an ihrem linken Bein, und als sie herabschaute, erkannte sie einen braunen Knopf, der gerade unter ihr zu Boden fiel. Sie sah, wie der dürre alte Mann weitere Knöpfe aus seiner Jackentasche zog. Aber er verfehlte sie zweimal, und dann gab er auf.
Die Pastorin bestieg die Kanzel, sah kurz zu Sabine Kleinhans, die noch immer über der Bank schwebte, und begann ihre Predigt. Sie sprach über den ungläubigen Thomas, und während sie anmerkte, dass sie sich manchmal frage, was sie an seiner Stelle über einen auferstandenen Jesus gedacht hätte, sank Sabine Kleinhans langsam zurück auf die Kirchenbank.
»Ich möchte Ihnen noch eine Stelle aus dem zweiten Brief an die Korinther mit auf den Weg geben«, sagte Frau Bogenschneider. »Ich lese sie in ungewissen Momenten.« Und dann las sie mit trockener Stimme: »Und er hat zu mir gesagt: Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft vollendet sich in der Schwachheit.«
Nach Ende der Andacht verließ Sabine Kleinhans die Kirche vor allen anderen. Sie bemerkte, wie der Küster, ein kräftiger Mann, dem sein eigener Anzug ungewohnt schien, hinter ihr hersah.
Am Abendbrottisch überlegte sie, wem sie von ihrer Erhebung erzählen könnte.
Die Kinder waren zu klein, ihr Mann betrachtete religiöse Gefühle aller Art wie ein abgeklärter Ethnologe, und ihre Großtante hätte sich Sorgen gemacht. Also schwieg Sabine Kleinhans.
Später überflog sie im Internet Einträge zur Levitation, von denen sich die meisten mutmaßlichen Betrügern widmeten, deren Schwebekünste gleichermaßen Staunen und Misstrauen hervorgerufen hatten. In früheren Jahrhunderten waren sogar Prinzessinnen und Könige zu Schwebevorführungen gekommen, und einige hatten ihre Echtheit bezeugt. Aber auf die Könige waren Generationen von Wissenschaftlern gefolgt, die mit Experimenten zu prüfen versuchten, ob die Levitationskünstler bloße Schwindler waren.
Sicher war es richtig, dachte Sabine Kleinhans, Leichtgläubige zu schützen. Einfache Leute, die mühsam verdientes Geld zusammenkratzten, um jemanden schweben zu sehen, der tatsächlich nur an einem geschickt getarnten Seil hing. Und doch war diese Dringlichkeit der Skeptiker erstaunlich,...