E-Book, Deutsch, Band 423, 64 Seiten
Reihe: Der Notarzt
Graf Der Notarzt 423
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-7517-3588-9
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Heile Welt
E-Book, Deutsch, Band 423, 64 Seiten
Reihe: Der Notarzt
ISBN: 978-3-7517-3588-9
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Jeder, der Annie und Philipp miteinander erlebt, ist bezaubert von diesem jungen Ehepaar. Die beiden wirken verliebt wie am ersten Tag und gehen ungewöhnlich zärtlich miteinander um. Zudem sind sie äußerst sympathisch und humorvoll. Auch Notarzt Peter Kersten, der die seit einem Jahr Verheirateten durch Zufall kennenlernt, ist beeindruckt von ihrem offensichtlichen Glück.
Niemand ahnt, dass zwischen Philipp und Annie alles ganz anders aussieht, wenn sie alleine sind. Dann gibt es weder Umarmungen noch liebevolle Worte, denn dann herrscht zwischen ihnen eine eisige Stimmung.
Als seine Frau nach einem Unfall bewusstlos in die Sauerbruch-Klinik gebracht wird, folgt Philipp der Rolltrage zitternd und mit aschfahlem Gesicht. Die Angst um Annie spricht aus jedem seiner Blicke. Und doch redet er so merkwürdig distanziert und kühl über seine Frau, dass Dr. Kersten verwundert die Stirn runzelt. Dem Notarzt wird allmählich klar, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmt und dass die vermeintlich heile Welt dieses Paares nur eine falsche Fassade zu sein scheint ...
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Heile Welt Der Notarzt und ein Paar, das allen etwas vorspielte Karin Graf Jeder, der Annie und Philipp miteinander erlebt, ist bezaubert von diesem jungen Ehepaar. Die beiden wirken verliebt wie am ersten Tag und gehen ungewöhnlich zärtlich miteinander um. Zudem sind sie äußerst sympathisch und humorvoll. Auch Notarzt Peter Kersten, der die seit einem Jahr Verheirateten durch Zufall kennenlernt, ist beeindruckt von ihrem offensichtlichen Glück. Niemand ahnt, dass zwischen Philipp und Annie alles ganz anders aussieht, wenn sie alleine sind. Dann gibt es weder Umarmungen noch liebevolle Worte, denn dann herrscht zwischen ihnen eine eisige Stimmung. Als seine Frau nach einem Unfall bewusstlos in die Sauerbruch-Klinik gebracht wird, folgt Philipp der Rolltrage zitternd und mit aschfahlem Gesicht. Die Angst um Annie spricht aus jedem seiner Blicke. Und doch redet er so merkwürdig distanziert und kühl über seine Frau, dass Dr. Kersten verwundert die Stirn runzelt. Dem Notarzt wird allmählich klar, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmt und dass die vermeintlich heile Welt dieses Paares nur eine falsche Fassade zu sein scheint ... Als die dreiundzwanzigjährige Annie Zimmer vor fünf Jahren von sämtlichen renommierten Schauspielschulen des ganzen Landes bereits nach dem ersten Vorsprechen abgelehnt worden war, hätte sie umdenken und einen anderen Beruf ins Auge fassen sollen. Doch sie war von der Idee, Schauspielerin zu werden, so besessen gewesen, dass sie sich in einer sehr mittelmäßigen und sehr teuren Schauspielschule angemeldet hatte. Und selbst in dieser mittelmäßigen Schule hatte sie als Schlechteste abgeschlossen. Kein Wunder also, dass sie keinen vernünftigen Job bekam. Sie war sich dessen bewusst, dass sie nicht gerade die Dietrich, die Schell oder Romy Schneider war. Bei ihr reichte es gerade einmal für eine Statistenrolle in einem seichten Fernsehkrimi, für einen Werbespot – vorzugsweise für einen neuen Toilettenreiniger oder für Instantnudeln – oder für den siebten Zwerg in einem mittelmäßigen Kindertheater. Da half auch der Künstlername nicht viel, zu dem ihr Agent Sven Melchior ihr geraten hatte. Im Gegenteil – Melody Monroe weckte bei den Produzenten und Regisseuren, bei denen sie sich um eine Rolle bewarb, völlig falsche Vorstellungen. Man erwartete einen Vamp, und was kam, war ... Annie Zimmer. Sie war hübsch. Keine Frage. Aber sie war es mehr auf die Ach-wie-süß-Art als auf die Wow-ist-die-heiß-Art. Sie war das Mädchen, dem jede alte Dame ihren Dackel zum Halten gab, wenn sie mal kurz in den Wurstladen musste. Jede Mutter hätte ihr blind ihre Kinder anvertraut, und neulich hatte ein alter Herr, der nicht mehr gut sehen konnte, sie sogar darum gebeten, seinen Code in den Bargeldautomaten einzutippen. Ein Theaterdirektor hatte ihr einmal gesagt, ihr fehle das gewisse Etwas. Sowohl optisch als auch in der Stimme. Als sie deswegen hatte weinen müssen, hatte er seinen Arm um ihre Schultern gelegt, und sie hatte schon gedacht, er würde sie jetzt gleich auf die berühmt-berüchtigte Besetzungscouch bitten. In ihrer Not hatte sie ernsthaft darüber nachgedacht, ob sie ihre Karriere eventuell auf diese Weise vorantreiben sollte. Doch er hatte sie lediglich trösten wollen. Scheinbar besaß sie nicht einmal genügend vom gewissen Etwas, um für die Besetzungscouch in Erwägung gezogen zu werden. Weil sie so vertrauenswürdig wirkte, hatte er aus dem Nähkästchen geplaudert und ihr erzählt, dass keine der berühmten Schauspielerinnen, mit denen er schon gearbeitet hatte, noch so herumlief, wie Gott sie geschaffen hatte. Eine andere Nase, ein markanteres Kinn, höhere Wangenknochen, mehr Busen und mehr Hintern, dafür aber schmaler in der Taille, mehr und längere Haare, sinnlichere Lippen und vielleicht noch etwas schräger gestellte Augen. Dazu hatte er ihr auch gleich die Adresse einer renommierten Schönheitsklinik in die Hand gedrückt. Sie hatte auch darüber ernsthaft nachgedacht. Aber genauso, wie sie auch – hoffentlich! – bei der Besetzungscouch einen Rückzieher gemacht hätte, konnte sie sich auch nicht dazu überwinden, an ihrem Gesicht und ihrer Figur herumklempnern zu lassen. Klar, man konnte theoretisch auch Kirschen auf einen Besenstiel kleben, doch das machte noch lange keinen Kirschbaum daraus. Außerdem stellte sie es sich schrecklich vor, morgens in den Spiegel zu gucken und eine fremde Frau darin zu erblicken. Nein, sie würde sich wohl oder übel damit abfinden müssen, für den Rest ihres Lebens die Zweitbesetzung der dritten Geige zu sein oder auch mit fünfzig noch »Wer hat von meinem Tellerchen gegessen?« ins Publikum zu rufen. »Monroe, bitte! Melody Monroe?« Himmel noch mal! Sie war so sehr in ihren trüben Gedanken versunken gewesen, dass sie um ein Haar den Aufruf zum Vorsprechen verpasst hätte. Es ging um einen Werbespot für ein Salatsieb. Fünftausend Euro würde sie kriegen, wenn sie dafür ausgewählt würde. Damit könnte sie wieder ein paar Monate lang so halbwegs über die Runden kommen. »Guten Morgen«, grüßte sie freundlich, als sie das Studio betrat. Sie versuchte, beim Gehen mit dem Hintern zu wackeln, möglichst selbstbewusst und abgebrüht zu wirken, und gab ihrer Stimme einen rauchigen Klang. »Sie sehen aber ein bisschen anders aus als auf Ihren Sedcards«, nörgelte der Produzent statt einer Begrüßung und schaute zwischen der Mappe mit den Fotos und dem Original hin und her. »Haben Sie zugenommen?« »Ein bisschen«, musste sie gestehen. »Aber für ein Salatsieb wird es wohl reichen, oder?«, fügte sie trotzig hinzu und ärgerte sich über die verdammte Eiscreme, von der sie einfach nicht die Finger lassen konnte. »Also meinetwegen, versuchen Sie es halt.« Der Produzent nickte dem Regisseur zu. »Vielleicht ist es gar nicht mal so übel, wenn wir dem Kunden auch eine Dicke zum Auswählen präsentieren, oder? Heutzutage wollen die Firmen ja alle politisch korrekt sein, und deshalb geistern die unmöglichsten Gestalten in der Fernsehwerbung herum.« Eine Dicke! Annie wäre beinahe über ein Kabel gestolpert. Das war doch nun wirklich die Höhe! Sie wog bei einem Meter siebenundsechzig gerade einmal fünfundfünfzig Kilo. Auch wenn ihre einzelnen Rippen nicht so scharf durch ihren Oberkörper stachen, dass man darauf hätte Gurken hobeln können, so war sie doch wohl immer noch Lichtjahre von dick entfernt! Haben Sie den Text gelernt?«, wollte der Regisseur wissen und klang dabei so ungeduldig, dass sie sich nicht sonderlich willkommen fühlte. »Natürlich. In- und auswendig.« Eigentlich hätte sie genauso gut gleich wieder gehen können. Der Blick des Produzenten war ja nicht gerade sonderlich verheißungsvoll gewesen. Aber mit der Hoffnung war das so eine Sache. Die wollte man einfach nicht für tot erklären, wenn sie wenigstens noch aus dem letzten Loch pfiff und noch nicht vollständig verrottet war. Außerdem hatte sie die anderen Bewerberinnen gesehen, die sich draußen auf den Stühlen wie die Hühner zur Schlafenszeit auf der Stange aufgereiht hatten. Bei den meisten der sichtlich rundumerneuerten Geschöpfe begannen die Beine direkt unter den bis zum Platzen aufgepumpten Brüsten, und ihre Taillen waren so dünn, dass sie Haarspangen oder Armbänder als Gürtel hätten verwenden können. Bestimmt wussten die nicht einmal, wie man einen Salat zubereitete. Die dachten vermutlich, die Salate würden in den Kristallschüsseln am Buffet des Grandhotels wachsen. Welcher Koch oder welche Hausfrau würde schon so einer vertrauen, wenn es um Salatsiebe ging? Eine Regieassistentin drückte ihr die Requisite in die Hand und zeigte ihr, wie man damit umgehen musste. Es handelte sich um ein Ding aus Aluminium, in dem ein paar Salatherzen lagen, denen man mit Farbe und Lack auf die Sprünge geholfen hatte, damit sie auch nach fünfzig Bewerberinnen noch knackig und frisch aussahen. Ganz ehrlich: In so etwas würde sie nicht einmal ihre gebrauchten Unterhosen schwenken. Man wusste doch längst, was Aluminiumpartikel im menschlichen Körper und vor allem im Gehirn anrichteten. »Kamera läuft, und Action!« »Meinen Mann kriege ich nur mit ganz jungem Gemüse herum.« Kicher-kicher-kicher, blinzel-blinzel. »Das neue Salatsieb von Happy Kitchen ist selbst zu den zartesten Pflänzchen sanft wie ein lauer Frühlings...« »Cut! Cut! Cuuut!«, brüllte der Produzent kopfschüttelnd. »Haben Sie denn die Zweideutigkeit in dem Text nicht erkannt, Frau ... ähm ... Monroe?« »Doch! Natürlich! Und wie ich die erkannt habe. Die ist ja nun wohl wirklich nicht zu übersehen.« Annie war wieder einmal den Tränen nahe. Als ihr die Agentur vor drei Tagen das »Textbuch« zugeschickt hatte, hatte sie gedacht, sich niemals zu diesem saublöden, schlüpfrigen Text, in dem ein Hauch ... nein, ein gigantischer Sturm von Pädophilie – von wegen...