E-Book, Deutsch, 336 Seiten
Grant 36 Fragen an dich
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-641-22651-0
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
ISBN: 978-3-641-22651-0
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Hildy und Paul, beide 18, nehmen an einem psychologischen Experiment teil: die wissensdurstige, aber etwas chaotische Hildy aus Interesse und tausend anderen Gründen. Paul aus einem einzigen: weil er die Teilnahme bezahlt bekommt. Und so sitzen sich die beiden in einem kargen Universitäts-Raum gegenüber und stellen sich Fragen, die zwischen ihnen Liebe erzeugen sollen. Fragen, die zunächst scheinbar banal sind (»Wie sähe ein perfekter Tag für dich aus?«) und dann immer persönlicher werden (»Was ist deine schlimmste Erinnerung?«). Fragen, die Hildy im wahren Leben nie jemandem wie Paul stellen würde, dem gut aussehenden Typ, der sich für nichts und niemanden interessiert, am wenigsten für Hildy. Oder?
Die kanadische Autorin Vicki Grant arbeitete zunächst in der Werbung und als preisgekrönte Drehbuchautorin, bevor sie ihre wahre Leidenschaft entdeckte: das Schreiben von Jugendbüchern. Ihre Romane wurden bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Vicki Grant lebt mit ihrer Familie in Halifax, Nova Scotia.
Weitere Infos & Material
Kapitel 1
Es wurde dreimal hastig geklopft, dann ging die Tür auf, und eine junge Frau stolperte herein, ganz außer Atem.
»Sorry. Entschuldigung, dass ich zu spät bin. Ich musste noch mit meinem Englischlehrer über mein Referat reden, und er war nicht in seinem Zimmer, und …«
Jeff wackelte mit dem Kopf, kein Problem.
»… als er dann endlich da war, hatte ich den Bus schon verpasst und musste in die Stadt zum –«
»Macht nichts. Ist überhaupt nicht schlimm. Haben Sie das Formular ausgefüllt?«
»Äh, ja. Moment.« Sie sah sich nach einem geeigneten Platz für den lebendigen Zierfisch um, den sie in einer kleinen, mit Wasser gefüllten Plastiktüte in der Hand hielt.
»Hier.« Er klopfte auf die Schreibtischecke.
»Danke.« Sie stellte den Fisch ab. »Bäh. Nass. Verzeihung.« Sie hob die Tüte hoch, wischte sie am Ärmel ihres großen grauen Secondhand-Mantels ab und legte sie wieder hin. »Dieser blöde Fisch. Es gibt nur einen Laden, in dem man den kriegt, und mein Bruder – Gabe. Er ist zwölf. Er hat … sorry. Das interessiert Sie gar nicht. Sie wollen das Formular.« Sie begann, in der großen Ledertasche zu wühlen, die sie schräg über der Brust trug. Eine zerlesene Ausgabe von Wiedersehen mit Brideshead fiel auf den Boden.
»Warum setzen Sie sich nicht?« Jeff deutete auf einen Plastikstuhl vor dem Schreibtisch. »Dann geht es vielleicht einfacher.«
Sie setzte sich, hob das Buch auf und suchte weiter. »Normalerweise bin ich nicht so unorganisiert. Ehrlich. Es ist nur. Was für ein Tag. Ich meine, Woche.«
»Es ist blau«, sagte er. »DIN A4 … Da ist es ja. Neben dem, äh, Portemonnaie.«
»Ach ja.« Sie verdrehte die Augen über sich selbst und reichte ihm das Formular. »Meinen Lebenslauf hab ich auch dabei.«
»Nicht nötig.« Er strich den Zettel glatt und überflog ihn schnell.
»Sicher? Ich hab nämlich einen kurzen Absatz geschrieben, dass ich unter Umständen Psychologie im Nebenfach studieren will, besonders in Bezug auf –«
»Nein, wirklich. Es sind keine Qualifikationen erforderlich.«
Während er ihr Formular durchlas, sah sie sich im Büro um. »Sie mögen Spielzeug«, sagte sie.
Ohne den Kopf zu heben, verbesserte er: »Action-Figuren.« Sie waren in den Regalen nach Genre, Seltenheit, Alter und einem schwer zu definierenden Zusatzfaktor sortiert: dem kleinen Kick, den ihm die richtig coolen gaben. Das war kein Spielzeug.
Er machte sich Notizen, dann sagte er. »Also, Hilda Sangster, Citadel High…«
Sie stöhnte.
Jetzt hob er den Kopf. »Stimmt was nicht?«
»Sorry. Das mit dem Hilda. Das hätte ich erklären sollen.«
Er sah noch einmal auf das Formular.
»Ich weiß, dass ich Hilda geschrieben habe, aber nur, weil da stand ›Vorname, Nachname‹, nicht ›Rufname‹, und ich dachte mir, Sie brauchen das für offizielle Zwecke, deshalb habe ich es, na ja, ordnungsgemäß ausgefüllt, obwohl ich den Namen nicht ausstehen kann. Er ist so, wie soll ich sagen, teutonisch oder so. Niemand nennt mich Hilda.«
»Und wie sollte ich Sie dann nennen?«
»Hildy.«
»Hil-dy, nicht Hil-da.«
»Klingt nicht groß anders, aber, mal ehrlich? Für mich? Riesenunterschied. Irgendwann lasse ich ihn ändern, also amtlich und alles, aber meine Oma lebt noch, und, na ja, Rücksicht auf Gefühle, Familientradition etc. etc.«
Sie musste bemerkt haben, dass sie zu viel redete. Sie lächelte verlegen und drückte den Rücken durch.
»Dann also Hildy. Ich sehe hier, Sie sind in der zwölften Klasse. Sie sind single?«
Sie lachte auf eine Art, die nur Ja bedeuten konnte.
»Und Sie sind, was? Achtzehn? Gut. Sie müssen nämlich eine Einverständniserklärung unterschreiben.«
»Klar. Kein Problem, aber … Ähm. Vielleicht sollte ich mich erst mal erkundigen, worum es geht? Ich meine, es gibt Grenzen dessen, was ich im Namen der Wissenschaft so alles tue.« Wieder lachte sie, aber sie wussten beide Bescheid.
»Auf jeden Fall. Gut. Mein Name ist Jeff. Ich bin Doktorand hier an der Uni. Vor Kurzem habe ich ein Forschungsstipendium erhalten zum Thema – tja, am besten kann man es als ›Beziehungsaufbau‹ beschreiben. Im Prinzip interessiere ich mich für die Frage, ob man Testpersonen wie Sie, zum Beispiel, dahingehend beeinflussen kann, dass sie eine enge persönliche Bindung zu einem anderen Teilnehmer entwickeln, die sich wiederum möglicherweise weiterentwickelt zu –«
»Entschuldigung. Ähm. Verstehe ich das richtig?« Sie schlang die Arme um ihre Tasche, als wäre sie ein Kleinkind, das getröstet werden musste. »Sie wollen rausfinden, ob man Menschen dazu bringen kann, sich zu mögen?«
Einer seiner Mundwinkel zuckte nach oben. »Nicht unbedingt dazu bringen.« Wenn er das gekonnt hätte, wäre er Milliardär. »Es geht uns nicht um Gehirnwäsche. Wir wollen nur testen, ob es möglich ist, eine persönliche Nähe, sagen wir mal, zu fördern, aus der sich letztlich mehr ergeben könnte.«
»Eine Freundschaft, meinen Sie?«
»Ja. Oder besser gesagt, eine Beziehung. Ich untersuche, wie Menschen intime Bindungen eingehen und ob dieser Prozess in irgendeiner Weise angestupst werden kann.«
»Liebe?«, fragte Hildy, als wäre es ein Vorwurf, »darum geht es hier?«
Er schrieb sich etwas auf. »Ja, potenziell, wobei –«
»Hat Max Ihnen meinen Namen gegeben?« Sie klang verärgert.
»Max? Nein. Welcher Max?«
»Xiu?«
»Was? Ich weiß gar nicht, was das ist.«
»Xiu Fraser?«
»Nein. Niemand hat mir Ihren Namen gegeben. Sie haben doch mich kontaktiert. Wissen Sie nicht mehr? Das hier ist nur eine psychologische Studie, um zu erforschen, ob Liebe –«
»Liebe!«, sagte sie wieder und sprang auf.
Wie sie es schaffte, sein Regal von der Wand zu reißen, war ihm ein Rätsel – so groß war sie nämlich gar nicht –, aber plötzlich flogen Action-Figuren um sie herum, als hätte es in einem Animationsfilm eine Explosion gegeben.
»O Gott. Nein. Entschuldigung«, sagte sie und drehte sich dabei um die eigene Achse, um zu sehen, was sie angerichtet hatte. Dabei schwang ihre Ledertasche herum und traf eine Lampe, die gegen ein anderes Regalbrett krachte, sodass es jetzt auch noch Superschurken hagelte.
Sie schlug sich die Hand vor den Mund und stieß die Art von Winseln aus, das Hunde machen, wenn sie nach draußen müssen.
Dann ging sie in die Hocke, hob mit beiden Händen Figuren auf und türmte sie auf seinen Schreibtisch.
»Tut mir leid«, sagte sie. »Ich hätte nicht kommen dürfen. Ich hätte mein Zimmer nicht verlassen dürfen. Im Ernst. So was passiert, wenn ich –«
»Es war doch nur ein Versehen.«
»Nein. Nein, nein, nein, nein.« Sie machte eine ausladende Geste durchs Zimmer. »Diese ganzen kleinen Körper überall? Das Chaos? Perfekte Metapher für mein Leben. Genau das. Mache ich. Ständig.«
Mit einem Märchenprinzen aus den 1930er-Jahren, den sie an den Füßen hielt und durch die Luft schwenkte, verlieh sie ihren Worten Nachdruck. Es war eine von Jeffs Lieblingsfiguren. Er hatte Angst, der Kopf könnte abfallen.
»Schon gut.« Er bemühte sich, entspannt zu klingen. »Ist ja kein Drama. Ich räume das wieder auf. Ehrlich. Ich hab da ein System. Bitte. Hören Sie auf.«
Er musste es mehrmals sagen, bis sie nickte, sich erneut entschuldigte und aufstand, besser gesagt es versuchte. Sie trat auf ihren Mantel und knallte mit der Stirn gegen die Schreibtischkante. Es musste wehgetan haben, aber mittlerweile hatte sie eine eigenartige Ruhe zurückgewonnen. Sie atmete laut durch die Nase ein, hob den Mantelsaum hoch, als wäre er Aschenputtels Ballkleid, und stand auf.
»Ähm. Entschuldigen Sie den kleinen Ausbruch … und das Chaos … und dass ich Ihnen die Zeit gestohlen habe und alles. Ich wusste nicht, worum es bei der Studie geht. Ich hätte mich nicht anmelden sollen.« Sie verzog den Mund zu einer Art Lächeln und verließ den Raum.
Jeff betrachtete die auf dem Boden verstreuten Action-Figuren. Er hatte momentan zu viel zu tun, um sie in der richtigen Ordnung wieder aufzustellen. Also legte er sie alle in einen Karton unter seinem Schreibtisch, wo er ihre winzigen Schreie nicht hören könnte.
Er dachte über Hildy nach.
Was zum Henker war da los? Fluchtreflex? Konfliktvermeidung? Irgendein komisches Religionsding?
Er setzte sich und überprüfte seine Notizen. Hatte er das alles vorhergesehen? Hatte er versehentlich etwas ausgelöst?
Im Rahmen der Studie hatte er eine kleine Nebenwette mit sich selbst laufen. Er war nicht hundertprozentig sicher, wie ethisch korrekt das war, aber es hielt das Ganze interessant. Und zwar machte er sich Notizen zu den Teilnehmern, vergab Wertungen nach einem Punktesystem und versuchte dann vorauszusagen, ob es zwischen zwei von ihnen funken würde, wenn er sie zusammen in einen Raum steckte.
Im Verlauf des Gesprächs hatte er ein paar Stichworte neben Hildys Namen geschrieben. Wie immer hatte er das spontan gemacht, denn er fand, wenn die Teilnehmer sich auf ihren ersten Eindruck verlassen mussten, sollte das auch für ihn gelten.
WW – AE
HIQ/HA
TG
FST
Womit gemeint war:
Weiß, weiblich – Akademikereltern
Hoher IQ/Hohe Ansprüche...




